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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 31.10.2000
Aktenzeichen: 2b Ss 268/00 - 75/00 I
Rechtsgebiete: StPO, MRK


Vorschriften:

StPO § 200
StPO § 201 Abs. 1
MRK Art. 6 Abs. 3 lit. a
MRK Art. 6 Abs. 3 lit. b
Einem ausländischen Beschuldigten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ist die Anklageschrift mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache vor der Hauptverhandlung bekanntzumachen.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF BESCHLUSS

2b Ss 268/00 - 75/00 I 60 Js 342/00 StA Düsseldorf

In der Strafsache

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz u. a.

hat der 1. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht So und die Richter am Oberlandesgericht H und S auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts - Jugendrichterin - Neuss vom 3. Mai 2000 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

am 31. Oktober 2000

einstimmig nach § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht - Jugendrichterin - hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt und die Taten mit einer Arbeitsauflage geahndet. Die (Sprung-)Revision des Angeklagten führt mit der Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

I.

Der Angeklagte stammt aus Sierra Leone und hält sich seit August 1999 als Asylbewerber in Deutschland auf. Die Anklageschrift ist ihm in deutscher Sprache mitgeteilt und in der Hauptverhandlung mündlich übersetzt worden. Diesen Ablauf beanstandet der Angeklagte, der im ersten Rechtszug keinen Verteidiger hatte und zur Zeit der Hauptverhandlung erst 15 Jahre alt war, zu Recht als Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens. Auf die weitere Rüge, wegen der bei Verurteilung drohenden Ausweisung hatte ein Verteidiger bestellt werden müssen, braucht deshalb nicht eingegangen zu werden.

1. Die Anklageschrift, § 200 StPO, hat eine doppelte Bedeutung:

Sie bestimmt nicht nur den Prozeßgegenstand, sondern dient auch der Information des Angeschuldigten. Dieser soll bereits vor der Hauptverhandlung wissen, was ihm vorgeworfen wird, und in die Lage versetzt werden, seine Verteidigung darauf einzurichten und vorzubereiten (BVerfGE 64, 135, 147 f = NJW 1983, 2762; BGH/H MDR 1978, 111; BayObLG wistra 1991, 195; OLG Celle NdsRpfl. 1998, 33 = StV 1998, 531; Rieß, in: LR, 24. Aufl., § 200 StPO [Stand 1984] Rdnr. 3 f; allg. M.). Folgerichtig schreibt § 201 Abs. 1 StPO vor, daß die Anklageschrift dem Angeschuldigten schon im Eröffnungsverfahren mitzuteilen ist. Nur die Mitteilung der Anklageschrift schon vor der Hauptverhandlung wahrt das Recht jedes Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. b) MRK, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen (vgl. Rieß, a. a. O., § 201 StPO Rdnr. 15).

2. Einem Ausländer, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ist die Anklageschrift mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekanntzugeben (BVerfG a. a. O.; Senat VRS 68 [1985], 119, 120; KG StV 1994, 90; HansOLG Hamburg StV 1994, 65 mit insoweit zust. Anm. Kühne; Rieß, a. a. O.; Seidl, in: KMR, § 201 StPO [Stand 1999] Rdnr. 4; Paeffgen, in: SK-StPO, § 201 [Stand 1996] Rdnr. 5; Pfeiffer, StPO, 2. Aufl. [1999], § 201 Rdnr. 1; vgl. Nr. 181 Abs. 2 RiStBV). Das ist "zwingend erforderlich" (KG a. a. O.) und folgt sowohl aus dem Recht jedes Angeklagten gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK, unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden, als auch aus seinem Anspruch gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b) MRK, seine Verteidigung ausreichend vorbereiten zu können.

3. Hat der Angeklagte einen Verteidiger, so kann von diesem erwartet werden, daß er den Verfahrensmangel (hier: das Fehlen einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift) in der Hauptverhandlung rügt und Vertagung beantragt (vgl. BGH/H MDR 1978, 111, bei unterbliebener Mitteilung der Anklageschrift). Unterläßt er das, so kann der Angeklagte sich auf diesen Mangel im Revisionsverfahren nicht mehr berufen (BGH NStZ 1982, 125; Senat a. a. O.; kritisch Paeffgen, a. a. O.). Hier hatte der Angeklagte aber keinen Verteidiger. Deshalb ist er mit der Rüge des Verstoßes gegen das Gebot des fairen Verfahrens, der schon durch die Mitteilung des Verfahrensablaufs hinreichend belegt ist (vgl. BGHSt 32, 44, 46 = NJW 1984, 2228), nicht ausgeschlossen.

II.

1. Wegen des aufgezeigten Verfahrensmangels wird das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen, §§ 353, 354 Abs. 2 StPO. Der Senat kann nicht ausschließen, daß der Angeklagte sich anders und erfolgreicher verteidigt hätte, wenn die Anklageschrift ihm schon vor der Hauptverhandlung mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekanntgegeben worden wäre.

2. Auf die weitere Rüge des Angeklagten, wegen der bei Verurteilung drohenden Ausweisung (Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 2 AuslG) hätte ihm ein Verteidiger bestellt werden müssen, braucht demnach nicht eingegangen zu werden.

Für das weitere Verfahren stellt sich die Frage der Bestellung eines Verteidigers nicht, solange der Angeklagte einen gewählten Verteidiger hat. Vorsorglich verweist der Senat auf den nahezu identischen Fall AG Hamburg StV 1998, 326 = LG Hamburg StV 1998, 327 m. ablehnender Anm. Sättele, sowie auf Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. [1999], § 140 Rdnr. 30a m. w. N.

Ende der Entscheidung

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