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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 22.01.2002
Aktenzeichen: 3 Ws 530/01
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 1
StGB § 57 Abs. 2
StPO § 309 Abs. 2
StPO § 454 Abs. 1 Satz 1
StPO § 455 Abs. 4 Satz 1
StPO § 462a Abs. 1 Satz 1
StPO § 462a Abs. 1Satz 2
1. Für die Entscheidung über den während einer Vollstreckungsunterbrechung gestellten Antrag auf Reststrafaussetzung ist die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht des letzten Haftortes sachlich und örtlich zuständig, auch wenn sie während der Haftzeit noch nicht mit einer vollstreckungsrechtlichen Angelegenheit des Verurteilten befasst war.

2. Hat anstelle der Strafvollstreckungskammer die allgemeine Strafkammer als Gericht des ersten Rechtszuges über den Antrag auf Reststrafaussetzung befunden, so ist der beiden Kammern übergeordnete Beschwerdesenat des Oberlandesgerichts nicht allein deswegen an einer eigenen Sachentscheidung in zweiter Instanz gehindert.


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF BESCHLUSS

3 Ws 530/01

In der Strafsache

gegen PP., wegen Betruges u.a.

hat der 3. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht B., den Richter am Oberlandesgericht von B. und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. R. am

22. Januar 2002

auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Wuppertal vom 26. Oktober 2001 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

beschlossen:

Tenor:

I. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

II. 1. Die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 28. Januar 1997 (22 Kls 24 Js 1967/95 - 11/96 II) wird zur Bewährung ausgesetzt.

2. Die Bewährungszeit wird auf drei Jahre festgesetzt.

3. Für die Dauer der Bewährungszeit wird der Verurteilte angewiesen, jeden Wohnsitzwechsel sofort der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal mitzuteilen.

4. Die Belehrung über die Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung wird der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal übertragen.

III. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Am 28. Januar 1997 wurde der Verurteilte durch das Landgericht Wuppertal wegen Missbrauchs von Titeln in zwei Fällen, Betruges in zwei Fällen, vorsätzlicher Verletzung der Buchführungspflicht und Untreue zu einer vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Er verbüßte mehr als die Hälfte der gegen ihn verhängten Strafe und wurde am 15. Mai 1998 aus der JVA Remscheid entlassen. Die weitere Strafvollstreckung ist seit diesem Zeitpunkt aufgrund einer schweren Erkrankung des Verurteilten im Sinne von § 455 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 StPO unterbrochen.

Durch den angefochtenen Beschluss hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Wuppertal den Antrag des Verurteilten vom 7. August 2001 auf Aussetzung der noch nicht verbüßten Restfreiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 und 2 StGB abschlägig beschieden. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat Erfolg.

I.

Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, da er infolge einer Verletzung der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung (§ 462a Abs. 1 und 2 StPO) verfahrensfehlerhaft ergangen ist. Die Entscheidung über den Antrag des Verurteilten auf Aussetzung der noch ausstehenden Reststrafe hatte hier nicht die 2. große Strafkammer des Landgerichts Wuppertal als Gericht des ersten Rechtszuges, sondern die am gleichen Landgericht ansässige Strafvollstreckungskammer zu treffen, obwohl der Verurteilte bei Antragstellung bereits geraume Zeit aus der in ihrem Bezirk befindlichen JVA Remscheid entlassen war. Der im angefochtenen Beschluss vertretenen Gegenansicht ist nicht beizupflichten, da sie auf einem unzutreffenden Verständnis der in § 462a Abs. 1, 2 StPO getroffenen Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit einerseits und zur örtlichen Zuständigkeit andererseits beruht.

In sachlicher Hinsicht ordnet das Gesetz einen grundsätzlichen Entscheidungsvorrang der Strafvollstreckungskammer gegenüber dem Gericht des ersten Rechtszuges an, solange "Freiheitsstrafe vollstreckt" wird (§ 462a Abs. 1 S. 1, Halbs. 1 StPO). Dieser Zeitraum beginnt mit der Einleitung der Strafvollstreckung und endet erst mit ihrer endgültigen Erledigung; er umfasst daher auch vollstreckungsrechtliche Angelegenheiten, die - wie hier - erst im Verlauf einer unter Umständen langfristigen Vollzugsunterbrechung anfallen (§ 462a Abs. 1 S. 2 StPO; BGH NStZ 00, 111; OLG Stuttgart NStZ-RR 96, 61; OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 99, 382f.). Die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer setzt in solchen Fällen nicht etwa voraus, dass sie während der Haftzeit bereits mit einer vollstreckungsrechtlichen Entscheidung in Bezug auf den Verurteilten befasst war und damit im engeren Wortsinn "zuständig bleiben" konnte (anderer Ansicht offenbar OLG Schleswig SchlHA 01, 188f.; OLG Hamm VRS 60, 123ff.). Eine derart einschränkende Auslegung des § 462a Abs. 1 S. 2 StPO entspricht nicht der Gesetzessystematik und liefert für die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer im Verhältnis zum Prozessgericht auch keine sinnvollen Abgrenzungskriterien. Die in § 462a Abs. 1 S. 1, Halbs. 2 und S. 2 StPO getroffenen Einzelregelungen, die erkennbar auf einen bestimmten Spruchkörper abgestimmt sind ("die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk...", "Diese Strafvollstreckungskammer bleibt auch zuständig..."), normieren nicht die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern, sondern setzen diese voraus und regeln lediglich die - nachgelagerte - Frage, welche der in Betracht kommenden Strafvollstreckungskammern örtlich zuständig ist (in diesem Sinne einschlägig: BGH NStZ 85, 428; OLG Düsseldorf NStZ 85, 333f.). Außerhalb der - heute nicht mehr relevanten - "Altfälle" einer Haftunterbrechung beziehungsweise Strafaussetzung vor Einführung der Strafvollstreckungskammern zum 1. Januar 1975 (vgl. hierzu BGH NJW 75, 1130 und 1791) hat die höchstrichterliche Rechtsprechung der in § 462a Abs. 1 S. 2 StPO gewählten Formulierung ("bleibt auch zuständig...") in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer in Abgrenzung zum Prozessgericht nie einschränkende Bedeutung im Sinne einer Anknüpfung an ein vorheriges "Befasstsein" beigemessen (missverständlich daher die Formulierung in KK-Fischer, StPO, 4. Aufl., § 462a Rn. 12, sowie Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 462a Rn. 15). Hierzu besteht auch kein Anlass, denn das "Befasstsein" mit einer vollstreckungsrechtlichen Angelegenheit während der Haftzeit führt nicht zwangsläufig zu einer besonderen Sachnähe, die es rechtfertigen könnte, den Entscheidungsvorrang der Strafvollstreckungskammer gegenüber dem Prozessgericht auf solche Fallkonstellationen zu beschränken. Es ist nicht einzusehen, dass die Strafvollstreckungskammer für den unmittelbar vor der Vollstreckungsunterbrechung gestellten Strafaussetzungsantrag eines ihr zuvor unbekannten Verurteilten zuständig sein soll, weil sie damit noch während der Haftzeit befasst wurde, dass aber ein zufälligerweise unmittelbar nach der Vollstreckungsunterbrechung gestellter Antrag in die Entscheidungskompetenz des Prozessgerichts fallen soll.

Die örtliche Zuständigkeit für eine erst während der Vollstreckungsunterbrechung anfallende Entscheidung liegt bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts des letzten Haftorts, wobei es auch insoweit nicht auf die Frage ankommt, ob diese Kammer zuvor schon mit einer Vollstreckungsangelegenheit bezüglich des Verurteilten befasst war (BGH NStZ 84, 380f.; BGH bei Kusch NStZ 97, 379; OLG Stuttgart NStZ-RR 96, 61; OLG Hamm StraFo 00, 282). Die Frage des "Befasstseins" ist keine zuständigkeitsbegründende Voraussetzung, sondern hindert lediglich bis zur abschließenden Entscheidung einer einmal gerichtlich anhängigen Sache den Wechsel der örtlichen Zuständigkeit einer von mehreren Strafvollstreckungskammern (BGH NStZ 00, 111; BGH NStZ 84, 380f.).

Da der Verurteilte zuletzt vom 12. Januar bis zu seiner Haftentlassung am 15. Mai 1998 in der JVA Remscheid Strafhaft verbüßt hat - die in diesem Zeitraum aus Anlass seiner Erkrankung mehrfach erfolgten Verlegungen in andere Einrichtungen trugen nach ihrer vollstreckungsrechtlichen Zielsetzung nur vorübergehenden Charakter - , war vorliegend die am Landgericht Wuppertal ansässige Strafvollstreckungskammer sowohl sachlich als auch örtlich zuständig für die Entscheidung über seinen Antrag auf Reststrafaussetzung vom 7. August 2001.

II.

Da der Senat ausweislich der aktuellen Zuständigkeitsregelungen als Beschwerdegericht sowohl die Entscheidungen der Strafkammern als auch die der Strafvollstreckungskammern des Landgerichts Wuppertal zu prüfen hat, steht der zu Ziffer I. belegte Verfahrensfehler einer Sachentscheidung in zweiter Instanz nicht entgegen; eine Zurückverweisung an das erstinstanzlich zuständige Gericht scheidet aus (vgl. Senatsbeschluss v. 16. Oktober 2000, NStZ-RR 01, 111; ebenso KG NStZ 94, 255; KG Beschluss v. 11. Juli 2001, 1 AR 799/01 - 5 Ws 370/01). Der insoweit abweichenden, auf den "Sonderstatus" der Strafvollstreckungskammern gestützten Ansicht des HansOLG Hamburg (StV 92, 587) ist nicht beizupflichten. Sie lässt sich mit dem Grundgedanken des § 309 Abs. 2 StPO nicht in Einklang bringen, der die Möglichkeit des Instanzverlustes durch eine eigene Sachentscheidung des Beschwerdesenats grundsätzlich zulässt.

III.

Die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe ist zur Bewährung auszusetzen, da die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 sowie Abs. 2 Nr. 2 StGB vorliegen.

Obwohl der außerhalb des hier anhängigen Verfahrens bereits strafrechtlich vorbelastete Verurteilte im Verlauf des Strafvollzugs nur wenig Einsicht in die beträchtliche Schwere seiner Tatschuld gezeigt hat, lassen seine gegenwärtigen persönlichen Umstände eine positive Sozialprognose im Sinne von § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB zu. Seit der Haftentfassung im Mai 1998 sind neue Straftaten des mittlerweile 60 Jahre alten Verurteilten nicht mehr bekannt geworden. Die schon seit Jahren chronisch verlaufende und nach bisherigen ärztlichen Erkenntnissen auch nicht revisible Erkrankung des Verurteilten an einer fibrosierenden Mediastinitis hat ausweislich der vorliegenden Atteste zu einer erheblichen Einschränkung der gesamten Lebensgestaltung und zur Hilfebedürftigkeit des Verurteilten schon bei einfachsten Alltagsverrichtungen geführt. Angesichts dieser Gesamtumstände kann derzeit verantwortet werden zu erproben, ob der in familiärer Anbindung lebende Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird.

Unter Berücksichtigung der bis zum Entlassungszeitpunkt im Mai 1998 verstrichenen Haftdauer, des Alters und der schweren Erkrankung des Verurteilten einschließlich ihrer Begleiterscheinungen bejaht der Senat auch "besondere Umstände" im Sinne von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB und hält daher eine Aussetzung des Restes der noch nicht zu zwei Dritteln verbüßten Gesamtfreiheitsstrafe bereits jetzt für vertretbar.

Die zu Ziffer II. 2-4 des Beschlusstenors getroffenen Anordnungen beruhen auf den §§ 56a Abs. 1 StGB, 453a StPO.

IV.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.

Ende der Entscheidung

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