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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 02.05.2000
Aktenzeichen: 4 U 28/99
Rechtsgebiete: VVG, BB-BUZ


Vorschriften:

VVG § 169
BB-BUZ § 3 Abs. 2 lit. c
Leitsatz:

Zum Nachweis der Freiwilligkeit der versuchten Selbsttötung des Versicherungsnehmers, der in einem Eisenbahngleis stehend von einem Zug erfaßt worden ist und behauptet, er sei beim Anblick des Zuges in "Schreckstarre " verfallen (Beweis aufgrund der Umstände als geführt angesehen).


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 U 28/99 11 O 213/98 LG Düsseldorf

Verkündet am 2. Mai 2000

T., Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In dem Rechtsstreit

pp.

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2000 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Dr. S, des Richters am Oberlandesgericht Dr. R und des Richters am Landgericht O

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 26. November 1998 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf - Einzelrichter - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Zwangsvollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000,00 DM abwenden, sofern nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Sicherheit darf auch durch die Bürgschaft einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Bank oder Sparkasse erbracht werden.

Tatbestand:

Der Kläger nimmt der Beklagten aus einer bei ihr seit 1993 unterhaltenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung zu einer Lebensversicherung in Anspruch (Versicherungsschein GA 18). Danach ist für den Fall der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 3.000,00 DM vereinbart.

Der Kläger geriet am Dienstag, den 17. Dezember 1996, gegen 15.35 Uhr im Bereich des Güterbahnhofs H ungefähr bei Streckenkilometer unter den Personenzug Dieser befuhr die zweigleisige, elektrifizierte Hauptstrecke L und befand sich in der Anbremsphase vor dem Bahnhof V. Der Kläger hatte von der Bahnhofsseite, aus Richtung Westen kommend, zunächst die Rangiergleise des Güterbahnhofs überquert und wurde sodann auf dem erhöht liegenden Gleisbett des aus seiner Sicht ersten Gleises der elektrifizierten Hauptstrecke von dem von links (Norden) kommenden Zug erfaßt. Als der Zeuge F, der Lokführer, den Kläger erstmals - mit Blick zur Lok im Gleis stehend - bemerkte, war er trotz einer Schnellbremsung nicht mehr in der Lage, den Zusammenprall mit dem Kläger zu vermeiden. Obwohl der Zeuge F die Achtungspfeife betätigte, blieb der Kläger bis zum Aufprall im Gleis stehen. Zur näheren Beschreibung der Örtlichkeit wird auf die Lichtbilder hinter GA 146a sowie den Stadtplanauszug GA 149 verwiesen.

Unfallbedingt verlor der Kläger beide Unterschenkel und erlitt eine Querschnittslähmung unterhalb der Arme. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen, zu 100 % schwerbehindert und pflegebedürftig nach Stufe III.

Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 28. November 1997 Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung unter Berufung auf § 3 Abs. 2 c der in den Vertrag einbezogenen Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im folgenden Text B-BUZ) wegen versuchter Selbsttötung ab.

Dem Kläger, der bis zu dem Unfall am 17. Dezember 1996 - auch als Fahrer - selbständig im eigenen Transportunternehmen tätig gewesen war, wurde wegen einer Trunkenheitsfahrt durch Strafbefehl vom 17. September 1996 die Fahrerlaubnis entzogen (vgl. BZRG Auszug). Der Führerschein wurde am Tattag, dem 2. Juli 1996 beschlagnahmt. Gegenüber seiner Hausärztin, Frau Dr. A, bei der er sich erstmals am 24. Juni 1996 vorgestellt hatte, hatte er unter dem 5. August 1996, 28. November 1996 und 3. Dezember 1996 über psychosomatische Beschwerden wegen Arbeitsüberlastung und zu wenig Freizeit geklagt; daraus folgend hat die Ärztin einen depressiven Verstimmungszustand diagnostiziert (GA 130). Der Kläger war Ende 1996 Alkoholiker. Vom 4. Dezember bis 11. Dezember 1996 befand er sich zur stationären Entgiftung im Krankenhaus (GA 82).

Der Kläger hat behauptet, bei dem Ereignis vom 17. Dezember 1996 habe es sich um einen Unfall gehandelt, nicht aber um einen Selbsttötungsversuch. Er sei mit seinem Hund querfeldein spazierengegangen und habe keinerlei Hindernisse zu überwinden gehabt, um in den Güterbahnhofsbereich zu gelangen. Diesen habe er betreten, weil er eine Abkürzung über das Gelände und die Schienen nach Hause habe nehmen wollen. Den herannahenden Zug habe er wohl unterschätzt. Nach dem Warnton der Lok habe er sich umgedreht und die Lok auf sich zufahren sehen. Vor Schreck, in Panik erstarrt, habe er die Hände gehoben und sei dann von dem Zug erfaßt worden. Er habe auch nicht ständig unter Depressionen gelitten. Ein Motiv für einen Selbstmord habe er nicht gehabt.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihn eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 3.000,00 DM seit dem 18. Dezember 1996 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, der Kläger habe versucht, sich selbst zu töten. Dafür sprächen neben seiner Alkoholkrankheit auch die vorhandenen Depressionen, weiter der Geschehensablauf. Er habe den Güterbahnhofsbereich verbotenerweise betreten und sei sodann kurz vor dem Zug in einer Entfernung aufgetaucht, die ein Anhalten unmöglich gemacht habe.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dabei hat es sich auf den Standpunkt gestellt, sowohl die Vorgeschichte als auch die konkreten Begleitumstände des Verletzungsereignisses wiesen in evidenter Weise auf einen Selbsttötungsversuch des Klägers hin. Es habe eine Alkoholabhängigkeit mit Suchtverhalten bestanden und der Kläger habe zum damaligen Zeitpunkt unter depressiver Verstimmung gelitten. Gegen einen unbeabsichtigten Unfall spreche darüber hinaus, daß er den Güterbahnhofsbereich gegen ein Verbot betreten habe und nicht etwa aus Gründen der Abkürzung die Eisenbahnstrecke habe überqueren wollen. Er habe sich gezielt dorthin begeben.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner zulässigen Berufung.

Er hält die Erwägungen des Landgerichts für unzutreffend und trägt vor, ein Motiv zur Tat habe weder in bezug auf seine wirtschaftlichen noch auf seine persönlichen Verhältnisse vorgelegen. Insbesondere habe er sich nicht in einer existentiell als bedrohlich empfundenen Lebenssituation befunden. Er habe in einer seit sieben Jahren intakten und nach dem Unfall weiterbestehenden nichtehelichen Beziehung gelebt. Er habe keine Selbsttötungsabsichten geäußert, noch einen Abschiedsbrief hinterlassen. Wenn er zur krankhafter Depression mit Selbsttötungsabsichten neigen würde, wäre es zwangsläufig zu weiteren Selbstmordversuchen gekommen. Dies wäre mit Sicherheit auch in der neurologischen Abteilung und klinischen Neurophysiologie des Krankenhauses L festgestellt worden. Eine "depressive Verstimmung", für deren Diagnostizierung durch die Allgemeinärztin Dr. A die Grundlagen fehlten, sei kein Indiz für eine Selbsttötung. Er sei lediglich gelegentlich "traurig" und "unlustig" oder "depressiv verstimmt" gewesen. Unter solchen reaktiven Verstimmungen litten viele Menschen, ohne sich deshalb umzubringen. Seine Alkoholabhängigkeit sei kein Indiz für einen Selbsttötungsversuch. Er sei zum Zeitpunkt des tragischen Unfalls nicht alkoholisiert gewesen.

Auch der Geschehensablauf spreche dagegen, daß er sich selbst habe töten wollen. Es lasse sich mit dem Phänomen der Erstarrung vor Schreck ("Schreckstarre") erklären, daß er nicht die Flucht ergriffen habe, als er die Lok gesehen habe. Zwar gebe es Selbstmörder, die eine martialische Selbstaufgabe, z. B. durch einen Sprung von einer Brücke, wählten, so daß sie die Entscheidung für den Tod nicht mehr rückgängig machen könnten. Daß sich ein Selbstmörder indessen zwischen die Schienen stelle und sehenden Auges den ihn überfahrenden Zug erwarte, erfordere ein besonderes Selbstmörderpsychogramm, das er, der zur Ängstlichkeit neige, nicht aufweise.

In den Bahnhofsbereich sei er hineingegangen, weil er mit seinem Hund auf dem Nachhauseweg eine Abkürzung habe nehmen wollen. Insoweit wird auf seine Darstellung GA 147 f. sowie die Planskizze GA 149 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

unter Abwendung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von DM 3.000,00 ab dem 18. Dezember 1996, längstens bis 1. Januar 2022, zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen erster Instanz und verteidigt die Entscheidung des Landgerichts. Der Kläger versuche ohne Erfolg die vom Landgericht festgestellten Indizien zu entkräften. Sie bestreite die Angabe des Klägers zu seinen Lebensumständen und etwaigen Selbstmordneigungen mit Nicht wissen. Gerade der Geschehensablauf belege, daß der Kläger in Selbsttötungsabsicht gehandelt habe.

Die Beiakten 600 Js 10170/97 StA Hannover waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Der Senat hat den Kläger angehört (GA 158) und den Zeugen F vernommen (GA 171). Darauf und auf den weiteren Akteninhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger die geltend gemachte Berufsunfähigkeitsrente zu zahlen.

I.

Die Beklagte ist gemäß § 3 Abs. 2 c B-BUZ, § 169 VVG von der Verpflichtung zur Leistung frei geworden, weil die zur Berufsunfähigkeit führenden Verletzungen auf einer versuchten Selbsttötung des Klägers beruhen.

1.

Mit Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, daß die Beklagte die Beweislast dafür trägt, daß der Versicherungsnehmer freiwillig aus dem Leben geschieden ist (Senat VersR 1999, 1007; BGH VersR 1991, 870). Der Nachweis der Selbsttötungsabsicht ist nach den Regeln des Strengbeweises zu führen. Die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins kommen dem Versicherer nicht zugute, da für einen Anscheinsbeweis kein Raum ist, wenn es um den Nachweis eines individuellen Willensentschlusses geht (BGH VersR 1965, 797). Der Beweis muß in der Regel durch Indizien geführt werden, wobei für die Überzeugungsbildung nicht unumstößliche Gewißheit, sondern ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit erforderlich ist, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie jedoch völlig auszuschließen (Senat VersR 1999, 1007, 1008; BGH VersR 1991, 870).

2.

Der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in Übereinstimmung mit dem Landgericht davon überzeugt, daß der Kläger sich in Selbstmordabsicht vor den von dem Zeugen F geführten Zug stellte und sich von diesem überfahren ließ.

a) Hauptsächlich ergibt sich die Bewertung seines Verhaltens als versuchter Selbstmord aus der Betrachtung der konkreten Situation, in der es zu dem Überfahren des Klägers kam.

aa) Eine offensichtliche Schutzbehauptung bietet der Kläger als Erklärung dafür an, warum er sich überhaupt in den Bahnhofsbereich begeben haben will. Es ist ihm nicht abzunehmen, daß er meinte, den Weg nach Hause abkürzen zu können. Eine Betrachtung der örtlichen Verhältnisse anhand der vorgelegten Karte (Hülle GA 149) ergibt, daß der Kläger sich von dem Weg über die Gleise keinen wesentlich kürzeren Weg versprechen konnte. Er hat selbst im Rahmen der Anhörung vor dem Senat einräumen müssen, daß es allenfalls um wenige 100 m ging. Dieser geringe Vorteil läßt nicht verständlich werden, warum er statt des Umwegs den sehr gefährlichen Weg über die Gleise genommen haben will. Auch konnte er sich von dem geringfügig kürzeren Weg keine Zeitersparnis versprechen, kannte er doch nach eigenen Angaben das hinter dem Bahnhofsbereich gelegene Industriegebiet nicht und ging er selbst davon aus, möglicherweise seinen Weg erst suchen zu müssen. Angesichts der enormen Gefährdung, die der Aufenthalt im Gleisbereich für ihn bringen mußte, ist seine Erklärung deshalb nicht nachvollziehbar.

bb) Insgesamt ist kein nachvollziehbarer Grund dafür ersichtlich, warum der Kläger das Gleis ohne jede Vorsichtsmaßnahme hätte betreten sollen, um ausgerechnet bei Herannahen des Nahverkehrszuges das Gleis zu überqueren. Es ist nicht plausibel, daß der Versuch, den Hund zu erreichen, ihn in der für ihn äußerst gefährlichen Situation im Gleisbereich so abgelenkt haben soll, daß er jede Sorge um die eigene Gesundheit außer Acht ließ. Schon ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit hätte aber den behaupteten "Unfall" vermieden. Ein Übersehen des Zuges war angesichts der konkreten Situation, in der sich der Kläger befand, nicht möglich. Am 17. Dezember 1996 war es trocken und gegen 15.35 Uhr, als sich der Vorfall ereignete, auch noch hell.

Schon bei dem Entschluß, die Rangiergleise und die zweispurige elektrifizierte Trasse für Fern-, Nahverkehrs- und Güterzüge zu überqueren, muß dem Kläger, der ausgebildeter Grundschullehrer ist, in besonderer Weise bewußt gewesen sein, wie gefährlich sein Verhalten für ihn war. Dies gilt umso mehr, als er einen Hund ohne Leine mit sich führte, der ihm nach seinen Angaben vor dem Senat jedenfalls schlechter gehorchte als seiner Lebensgefährtin, was die Gefahr barg, daß der Hund weglaufen könnte. Zwar kannte sich der Kläger nach seinen Angaben im unmittelbaren Bahnhofsbereich nicht aus. Als Anwohner war ihm aber die Streckenführung sicher bekannt, was er im Rahmen seiner Anhörung bestätigt hat. Schließlich wird die Bahnanlage durch Schilder abgesichert, die Unbefugten das Betreten verbieten und vor Unfallgefahr warnen (vgl. Lichtbild hinter GA 146). Die zwingende Annahme, daß der Kläger den Bereich in Kenntnis der Gefahr betreten hat, bedingt zugleich seine erhöhte Aufmerksamkeit. Eine zusätzliche Warnfunktion ging danach von dem gegenüber dem übrigen Gelände erhöht liegenden Gleisbett aus, das für Personen- und Güterzüge bestimmt ist (vgl. Lichtbilder hinter GA 146). Hatte der Kläger zunächst die Rangiergleise gefahrlos überschritten, mußte ihm diese Erhöhung auffallen, zumal er auf das Gleis geklettert ist. Unverkennbar war dieser Bereich auch elektrifiziert, woraus sich für den Beobachter ohne weiteres ergibt, daß hier nicht mit langsamen Rangierverkehr, dem man möglicherweise meint ausweichen zu können, sondern mit deutlich schnelleren, gefährlicheren Zügen zu rechnen war. Aus diesen Umständen folgt ein nochmals erhöhtes Achtungsgebot und in Anbetracht der ungewöhnlichen Situation auch eine erhöhte Aufmerksamkeit des mit dem Bahngelände nicht vertrauten Klägers, der selbst angibt, zur fraglichen Zeit nicht alkoholisiert gewesen zu sein. Schon nach diesen Umständen ist es nicht nachvollziehbar, warum der Kläger den herannahenden Zug nicht spätestens beim Erklettern des Gleiskörpers bemerkte, d. h. bevor er auf den Schienen stand.

Legt man den erhöhten Aufmerksamkeitsgrad zugrunde, ist ein Unfall nicht mehr erklärlich. Dies unterstreicht auch die Streckenführung, die - wie sie sich aus Stadtplan und Lichtbildern ergibt - sehr gut einsehbar ist. Nahezu über die gesamte Strecke, die der Stadtplan zeigt, ist das Gleisnetz völlig gerade. Der Zug war, als der Kläger auf den Gleisen bemerkt wurde, nach den insoweit von den Parteien nicht angezweifelten Angaben des Zeugen F, in einer Entfernung von 100 bis 120 m (GA 60, 172) nicht mehr zu übersehen. Auch eine Fehleinschätzung der Geschwindigkeit ist nach den Umständen ausgeschlossen. Niemand, der um sein Leben fürchtet, tritt auf ein Gleis, auf dem in ca. 100 m Entfernung ein Zug mit noch beträchtlicher Geschwindigkeit und eingeschalteter Spitzenbeleuchtung (GA 60) naht.

Der Annahme eines Selbstmordes entspricht die sich für den Zeugen F bietende Situation, daß der Kläger in so kurzer Entfernung auf dem Gleis stand, daß angesichts der Geschwindigkeit des Zuges ein rechtzeitiges Anhalten unmöglich war. Gerade dies entspricht dem typischen Bild eines Selbstmordes auf Bahngleisen. Ersichtlich nebensächlich und unbedeutend ist demgegenüber die Art und Weise, wie der Selbstmörder auf die Gleise gelangt, mag er auch im Einzelfall von einer Brücke springen oder sich auf die Gleise legen (Ber.begr. GA 126). Es gibt auch keinen Erfahrungssatz, daß Selbstmorde sich nur an Schnellbahngleisen ereignen. Im übrigen handelt es sich sogar um ein Gleis der Strecke C H, auf dem ICE-Zügen verkehren, wenn auch der Kläger, obwohl Anwohner und Transportunternehmer, in Abrede stellt, dies gewußt zu haben. Derjenige, der Selbstmord ernsthaft verüben will, wird sich das Mittel wählen, das ihm geeignet erscheint, den Tod sicher herbeizuführen. In diesem Sinne geeignet ist jedenfalls ein Nahverkehrszug, mag er sich kurz vor dem Bahnhof V auch schon in der Abbremsphase befunden haben. Erfahrungsgemäß ereignen sich sogar im unmittelbaren Bahnsteigbereich Suizidversuche vor einfahrenden Zügen. Nicht entscheidend ist auch die Behauptung des Klägers, bei seiner Persönlichkeitsstruktur sei nicht damit zu rechnen, daß er sehenden Auges den ihn überfahrenden Zug erwarte. Der endgültige Entschluß zum Selbstmord kann bei einem Menschen, der sich mit solchen Gedanken trägt, in einem einzigen Augenblick gefaßt werden. Dies entspricht einem allgemeinen, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung mehrfach anerkannten Erfahrungssatz (vgl. BGH VersR 1965, 797, 799; OLG Hamm, VersR 1995, 33, 34, "Kurzschlußreaktion"). Deshalb wird der Selbstmörder, der die Absicht spontan faßt, in dieser Situation das nächstliegende Mittel wählen, um seinen Entschluß in die Tat umzusetzen. Einen typischen Geschehensablauf für eine Selbsttötung gibt es nicht (vgl. OLG Koblenz, r+s 1998, 215). Im übrigen mag gerade ein ängstlicher Mensch sich die Möglichkeit offen halten, von dem Selbstmordversuch noch im letzten Augenblick zurückzutreten.

cc) Ist von einem Übersehen des Zuges oder sonstiger Fehleinschätzung der Lage durch den Kläger nicht auszugehen, ist der Behauptung, der Kläger sei in Schreckstarre verfallen, nicht nachzugehen. Voraussetzung einer etwaigen Schreckstarre ist nämlich gerade als Ausgangspunkt, daß plötzliche, unerwartete oder fehleingeschätzte Gefahr droht.

Ein Erschrecken des Klägers durch die von dem Zeugen F abgegebenen Achtungspfiffe scheidet aus, weil dieser die Signale nach seiner glaubwürdigen Aussage erst abgegeben hat, als er den Kläger ihm zugewandt regungslos im Gleis stehen sah.

Selbst wenn man unterstellte, der Kläger habe den Zug zunächst nicht gesehen und sei dann bei Erkennen der Gefahr vor Schreck erstarrt, führt dies nicht dazu, nicht mehr von einem Selbstmordversuch auszugehen. Nähme man eine Schreckstarre an, müßte man voraussetzen, daß der Kläger, der im rechten Winkel die Gleise überquerte, den Zug erst in dem Augenblick bemerkt hat, als er sich auf dem Gleis befand. Sodann mag er sich instinktiv der plötzlich erkannten Gefahr zugewandt, sich also um 90° gedreht und ebenfalls instinktiv die Hände zur Abwehrhochgerissen haben. In diesem Moment wäre dann die behauptete Schreckstarre eingetreten. Diese würde aber nicht erklären, warum der Kläger bis zum Aufprall nicht einmal ansatzweise den Versuch unternahm, sich durch einen Sprung vom Gleis zu retten. Laut den glaubhaften Angaben des Zeugen F hat der Kläger während der gesamten Zeit, während er ihn wahrnahm, keinerlei Reaktion/Regung gezeigt. Dies wird auch von dem Kläger nicht in Abrede gestellt.

Zwar ist in der Rechtsprechung hinreichend dokumentiert und anerkannt, daß bei Auftreten unerwarteter und plötzlich drohender Gefahr eine Reaktionsverzögerung eintritt, die durchaus als kurze Lähmung empfunden werden kann. Dabei handelt es sich um die sprichwörtliche "Schrecksekunde" (vgl. etwa BGH VersR 1966, 143, m.w.N.; OLG Hamm VersR 1984, 1076). In der gesamten zugänglichen juristischen Literatur findet sich hingegen kein Hinweis, daß die durch Schreck bedingte Reaktionsverzögerung wesentlich länger als eine Sekunde dauert.

Vorliegend ist aber von einer Zeit von etwa 5 Sekunden zwischen dem unterstellten Eintritt der Schreckstarre und dem Aufprall des Zuges auszugehen. Der Zeuge F hat den Kläger von Anfang an starr im Gleis stehen sehen, d. h. spätestens zu diesem Zeitpunkt muß die Schreckstarre eingetreten gewesen sein. Unterstellt man diesen spätestmöglichen Zeitpunkt zugunsten des Klägers, vergingen danach, den glaubhaften Angaben des Zeugen F folgend, etwa fünf Sekunden. Der Zeuge hat als Zeitangabe fünf bis acht Sekunden genannt und keinen Zweifel daran gelassen, daß jedenfalls mehrere Sekunden vergingen zwischen seiner Wahrnehmung des Klägers und dem Unfall. Zwar hat er danach wesentlich längere Zeiten geschätzt und erklärt, bereits der erste Achtungspfiff habe etwa zehn Sekunden gedauert. Dies macht seine erste Angabe indes nicht unglaubhaft, sondern zeigt, daß kurze Zeiträume rückblickend oft als länger empfunden werden.

Eine Zeitspanne von etwa fünf Sekunden wird zudem durch die objektiven Umstände belegt. Es entspricht der Erinnerung des Zeugen und wird nicht angegriffen, daß er den Kläger in einer Entfernung von 100 bis 120 m erstmals im Gleis stehen sah. Nähme man an, daß die Durchschnittsgeschwindigkeit des Zuges auf dieser Strecke bis zum Aufprall bei 80 km/h lag (was angesichts der Tatsache, daß der Zug, der mit einer Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h fahrplanmäßig unterwegs ist, sich bereits in der Anbremsphase ca. 300 m vor dem Bahnhof befand und der Aufprall bei etwa 50 km/h erfolgte, sicherlich zu hoch gegriffen ist) ergäbe sich eine verbleibende Zeit bis zum Aufprall von etwa fünf Sekunden (80 km/h = 80.000 m 3600 s = 22,22 m/s).

Addiert man zu der Schrecksekunde noch eine großzügig bemessene Reaktionszeit von einer Sekunde, wären dem Kläger etwa drei Sekunden verblieben, um zumindestens den Ansatz einer Fluchtreaktion zu zeigen.

Da dies nicht geschah und der Kläger regungslos im Gleis verblieb, bleibt auch danach nur der Schluß, daß der Kläger Selbstmord verüben wollte.

Sollte es ein Phänomen geben, daß in der gegebenen Situation Menschen für etwa 5 Sekunden bewegungsunfähig werden läßt, muß es sich um ein äußerst seltenes Erscheinungsbild handeln, da - wie erwähnt - sich Hinweise auf eine so lange Reaktionsverzögerung nicht finden lassen. Angesichts der weiteren Umstände, die hier eindeutig für einen Suizidversuch sprechen, kann es deshalb als bloße theoretische Möglichkeit außer Betracht bleiben.

b) Hinzu kommt, daß auch ein Motiv für eine Selbsttötung nicht auszuschließen ist. So war der Kläger depressiv verstimmt, mag diese Verstimmung auch nicht pathologisch gewesen sein. Eine solche Verstimmung immerhin kann dem Arztbericht (GA 81) und dem Attest (GA 130) der Hausärztin Dr. A und den Angaben der Lebensgefährtin des Klägers (GA 50) mit Sicherheit entnommen werden. Offensichtlich hatte der Kläger in den Monaten vor dem Ereignis vom 17. Dezember 1996 gegenüber der Hausärztin über seine Stimmungslage geklagt, was diese zu der Diagnose "depressive Verstimmungen" veranlaßte. Sie zu erkennen, ist auch ein Arzt für Allgemeinmedizin in der Lage. Die Berufungsbegründung räumt auch ein, der Kläger habe gegenüber Dr. A über Arbeitsüberlastung geklagt. Nichts anderes ergibt sich aus ihrer Diagnose, die überdies durch die Angaben der Zeugin M bestätigt wurden. Diese verfügt zwar nicht über medizinische Kenntnisse, ist aber sicherlich wie jeder in einer Partnerschaft lebende Mensch ohne weiteres in der Lage, die Stimmungslage des Anderen zu deuten. Ihr diesbezügliches Wissen löste jedenfalls Sorge um den Kläger aus und belegt, daß am 17. Dezember 1996 die grundsätzliche Verstimmung - ohne daß dem schon Krankheitswert beizumessen wäre - fortdauerte. Nicht anders ist ihre Äußerung zu werten, der Kläger sei schwer depressiv, was der Senat so versteht, daß zu dieser Zeit der Kläger besonders niedergeschlagen war (GA 50).

Es kann auch nicht von einer grundlosen Verstimmung ausgegangen werden. So war der Kläger Alkoholiker und hatte sich kurz vor dem 17. Dezember 1996 - vom 4. bis 11. Dezember 1996 nach ärztlichem Rat einer stationären Entgiftung unterzogen. In diesem Zusammenhang wurde ihm offenbart, daß seine Gesundheit schon in einem Maße Schaden genommen hatte, daß nur eine entscheidende Änderung seiner bisherigen Lebensweise Schlimmeres verhindern würde. Nach der Diagnose des Dr. F (GA 82) litt der Kläger bereits an einer Fettleber mit wohl bindegewebigen Einlagerungen, einer Vorstufe zur Leberzirrhose. Zudem waren die Leberwerte erhöht. Der Gesundheitszustand war dergestalt, daß Dr. F ihn aus der Entgiftung mit der Empfehlung entließ, von nun an absolut abstinent zu leben, eine Einzel- und Gruppentherapie einzuleiten, Gespräche mit der Hausärztin wahrzunehmen sowie den Organbefund zu überwachen. Er hielt den Kläger für extrem rückfallgefährdet (GA 83). Der Kläger stand danach vor der Situation, dem Alkohol zu entsagen oder hatte die Perspektive, auf absehbare Zeit seine Gesundheit irreparabel zu schädigen. Zwar war eine irreparable Schädigung noch nicht eingetreten, die Gefährdung bestand aber aufgrund der starken Rückfallgefahr im hohen Maße.

Seine persönliche Situation war zudem geeignet, bei ihm Existenzängste auszulösen. Der Kläger arbeitete nach eigenen Angaben als selbständiger Transportunternehmer in einem Kleinbetrieb mit zwei weiteren Angestellten, woraus folgt, daß seine Existenz von seiner eigenen Mitarbeit als Fahrer in besonderer Weise abhing. Dies hat auch der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Senat eingeräumt. Gerade dem dadurch ausgelösten Arbeitsdruck war er aber bis dato nur mit Alkohol gewachsen gewesen, dieser Druck hatte bereits zu Verstimmungen geführt.

Nimmt man hinzu, daß die betrieblichen Verhältnisse nicht so gestaltet waren, daß der Kläger - eine nach Auffassung von Dr. F (GA 83) notwendige - Langzeittherapie hätte antreten können und dem Kläger zudem wegen einer Trunkenheitsfahrt die Fahrerlaubnis mit Sperrfrist bis zum 16. Juni 1997 entzogen worden war, wird offenbar, daß nach Stimmung und Motivation ein Selbstmord in Betracht kommt, war doch seine Existenz in ernstem Maße bedroht. Zusätzlich an Bedeutung gewinnt vor dem Hintergrund unbewältigter Probleme, daß der Kläger unmittelbar nach der Entgiftung, die sicherlich schon für sich betrachtet belastend war, ohne die von Dr. F für dringend erforderlich erachtete psychische Betreuung durch Einzel- und Gruppengespräche (GA 82) geblieben war.

3.

Die übrigen Ausführungen der Berufungsbegründung erschüttern die Indizien, die den Schluß auf die Selbstmordabsicht zulassen, nicht.

a) Soweit die Berufung darauf abhebt, ein Abschiedsbrief fehle, ist dies nicht aussagekräftig. Positiv ermöglicht der vorliegende Abschiedsbrief den Schluß auf die Selbstmordabsicht. Ein Umkehrschluß ist hingegen nicht gerechtfertigt, mag es auch statistisch eher selten vorkommen, daß Menschen, die in harmonischer Beziehung leben, den letzten Schritt vollziehen, ohne sich zu verabschieden. Schon bei einer Spontantat kann es nicht zum Absetzen eines solchen Briefes kommen. Der endgültige Entschluß zum Selbstmord kann, wie erwähnt, in einem einzigen Augenblick gefaßt werden. Weiter sind Fälle denkbar - etwa bei Bestehen einer Lebensversicherung -, wo es für die Versorgung der Anverwandten von ausschlaggebender Bedeutung ist, gerade keinen solchen Brief zu hinterlassen, mag es den zum Selbstmord Entschlossenen auch noch so sehr danach drängen, Abschied zu nehmen.

b) Es kann im übrigen als wahr unterstellt werden, daß der Kläger nie den Wunsch geäußert hat, aus dem Leben zu scheiden und auch sonst nichts auf die konkrete Absicht hindeutete. Ein Suizidmotiv ist selbst dann nicht auszuschließen, wenn der Selbsttötung keine auffälligen depressiven Verhaltensweisen vorausgegangen sind (vgl. OLG Hamm r+s 19.99, 525; VersR 1995, 33; OLG Köln r+s 1998, 81).

c) Als wahr unterstellt werden kann auch, daß der Kläger nicht zu einer krankhaften Depressivität mit Selbsttötungsabsichten neigte und bei einer krankhaften Suizidneigung weitere Selbsttötungsversuche unternommen worden wären. Es geht offensichtlich fehl, wenn die Berufungsbegründung argumentiert, eine Depression könne ein Selbstmordmotiv nur ergeben, wenn eine "krankhafte" Veränderung (vgl. GA 124, 128) vorliege. Der Schluß darauf, daß eine Selbsttötungsabsicht bestand, hängt nicht davon ab, ob festgestellt werden kann, daß krankhafte Veränderungen im Sinne einer Suizidneigung gegeben sind. Auffällige Verhaltensweisen sind gerade nicht Vorbedingung eines Suizid (s. o.).

Im übrigen ist auch der Schluß nicht zwingend, daß bei einer bestehenden krankhaften Suizidneigung weitere Selbsttötungsversuche erfolgt wären. Es gibt keinen Erfahrungssatz, keine zwingende Regel, daß einem ersten Selbstmordversuch jedenfalls ein zweiter Versuch folgt. Dies mag bei endogener Psychose oder Depression - die gerade nicht vorgelegen haben soll - oder dann, wenn sich an der Situation des Gefährdeten nichts ändert, keine Behandlung erfolgt, der Fall sein. Hier wurde indes der Kläger nach dem 17. Dezember 1996 lange Zeit betreut, er steht nicht mehr unter Arbeitsdruck und seine Beziehung ist nach wie vor stabil.

4.

Zu einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit, die seine freie Willensbestimmung zur Zeit des Suizidversuchs ausschloß, § 3 Nr. 1 c) S. 2 B-BUZ, trägt der darlegungs- und beweisbelastete Kläger nicht vor. Vielmehr behauptet er, unter einer pathologischen Depression habe er nicht gelitten.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Streitwert für die Berufungsinstanz und Beschwer des Klägers: 177.000,00 DM (3.000 x 12 x 3,5, § 9 ZPO; zuzüglich rückständiger Beträge bis zur Klageeinreichung in Höhe von 17 x 3.000,00 DM, § 17 GKG).

Ende der Entscheidung

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