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Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 24.10.2005
Aktenzeichen: I-1 U 217/04
Rechtsgebiete: SGB X, BGB, PflVG, ZPO, StVG


Vorschriften:

SGB X § 116
BGB § 254
BGB § 254 Abs. 1
BGB § 823
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 847 a. F.
BGB § 847 Abs. 1 a.F.
PflVG § 3 Nr. 1
PflVG § 3 Nr. 2
StVO § 9 Abs. 3
StVO § 9 Abs. 3 Satz 1
StVO § 21 a Abs. 1
ZPO § 529 Abs. 1
StVG § 7
StVG § 17 Abs. 1
StVG § 18 a.F.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 10.11.2004 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Kleve teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst :

1.)

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.409,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 28.8.2002 zu zahlen.

2.)

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 25 % jeglichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, den er infolge des Verkehrsunfalls vom 3.8.2000 künftig noch erleiden wird, soweit der Anspruch nicht gemäß § 116 SGB X auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.

3.)

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 75 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 25 %.

Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 72 % und die Beklagten zu 28 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

Der Kläger hat mit der von ihm form- und fristgerecht eingelegten Berufung zunächst seine erstinstanzlich verfolgten Klageanträge auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 17.260 € zuzüglich eines angemessenen Schmerzensgeldbetrages abzüglich der bereits geleisteten Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 5.590,34 € sowie auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, ihm jedweden materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 3.8.2000 zu ersetzen, weiter verfolgt und gleichzeitig beantragt, ihm für die Durchführung dieses Berufungsverfahrens Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Nachdem der Senat mit Beschluss vom 25.4.2005 dem Kläger für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe insoweit bewilligt hat, als er beantragt, unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld in Höhe von 3409,66 € nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 28.8.2002 zu zahlen, sowie festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von einem Viertel jeglichen künftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem verfahrensgegenständlichen Unfall zu ersetzen, hat der Kläger in der Sitzung vom 05.09.2005 seinen Berufungsantrag nur noch nach Maßgabe des Umfangs dieser Prozesskostenhilfebewilligung aufrechterhalten.

Damit greift er Kläger das am 10.11.2004 verkündete Urteil des Landgerichts Kleve, soweit es die Klage hinsichtlich des Anspruchs auf Ersatz eines Haushaltsführungsschadens für den Zeitraum von September 2000 bis Februar 2001 sowie eines Verdienstausfallschadens für den Zeitraum bis Januar 2003 vollständig abgewiesen hat, sowie soweit es die Feststellungsklage in Höhe von 25% des künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schadens und die Schmerzensklage bis auf einen Betrag von 3409,66 € abgewiesen hat, nicht mehr an.

In dem Umfang, in dem der Kläger danach seine Berufung gegen das landgerichtliche Urteil aufrechterhalten hat, ist diese begründet.

I.

Dem Kläger steht aufgrund des Verkehrsunfalls vom 3.8.2000 gegen die Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a. F., 3 Nr. 1, 2 PflVG ein Schmerzensgeldanspruch zu, da der Beklagte zu 1.) den Unfall durch einen schuldhaften Verstoß gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO verursacht hat.

Dabei ist bei der Bemessung der Höhe des nach § 847 BGB a. F. geschuldeten angemessenen Schmerzensgeldes grundsätzlich die Doppelfunktion dieses Anspruchs zu berücksichtigen. Er soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Schäden sowie die Genugtuung für das erlittene Unrecht verschaffen. Dabei steht bei Straßenverkehrsunfällen die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes im Vordergrund. Der für einen Ausgleich erforderliche Geldbetrag hängt in erster Linie von der Schwere der Verletzungen, dem Ausmaß, der Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und sonstigen Beschwernisse, dem Alter des Verletzten, der Dauer der stationären Behandlung und der Arbeitsunfähigkeit, der Unübersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufs und der Fraglichkeit der endgültigen Heilung sowie dem Grad der Verschuldensbeiträge ab (BGH, NJW 1998, 2741ff.; Senatsurteile vom 13.12.2004, I -1 U 62/04, vom 07.01.2002, 1 U 71/01, und vom 18.02.2002, 1 U 90/01).

1.)

Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der zum Unfallzeitpunkt 50 Jahre alte Kläger ein Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, eine Unfallschockreaktion, Frakturen zweier Rippen, multiple Prellungen und Schürfungen an Hand und Gesicht, ein stumpfes Thoraxtrauma sowie die Oberschenkelfraktur erlitten, wurde wegen der Oberschenkelfraktur operiert, befand sich für etwa einen Monat in stationärer Behandlung, erhielt Unterarmgehstützen, durfte das Bein für sechs Monate nicht belasten und leidet noch heute unter den Folgen der Verletzungen.

2.)

Weiterhin ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldanspruchs auch das Mitverschulden des Klägers an der Entstehung des Schadens gemäß § 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen, das darin besteht, dass er zum Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt war und er - wäre er angeschnallt gewesen - die Oberschenkelfraktur nicht erlitten hätte.

a.)

Das Landgericht hat unter Bezugnahme auf das von ihm eingeholte interdisziplinäre Sachverständigengutachten und dessen Ergänzungen sowie auf Grundlage der Aussage des Zeugen B. festgestellt, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt gewesen sei. An diese Feststellung ist der Senat mangels konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an ihrer Richtigkeit oder Vollständigkeit begründen könnten (§ 529 Abs. 1 ZPO), gebunden. Auch der Kläger greift insoweit das landgerichtliche Urteil nicht mehr an, wenn er auch bei seiner Behauptung bleibt, angeschnallt gewesen zu sein.

b.)

Ferner ist der Senat entgegen der Auffassung des Klägers auch gemäß § 529 Abs. 1 ZPO an die Feststellung des Landgerichts gebunden, dass der Kläger die Oberschenkelfraktur nicht erlitten hätte, wenn er angeschnallt gewesen wäre.

Zwar ist es Sache des Schädigers, den Ursachenzusammenhang zwischen der Nichtanlegung des Gurtes und den entstandenen Verletzungen nachzuweisen (BGH, NJW 1980, 2125 f.; Senatsurteile vom 10.03.2003, Az.: 1 U 150/02, sowie vom 15.12.2003, Az.: 1 U 60/03; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 21a StVO, Rn. 9a).

Dem Schädiger können aber auch bei der Frage, ob die vom Geschädigten erlittenen Verletzungen ganz oder zum Teil auf das Nichtanlegen des Gurtes zurückzuführen sind, die Regeln des Anscheinsbeweises zugute kommen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Unfall einer der hierfür typischen Gruppen von Unfallabläufen zuzuordnen ist (BGH, NJW 1980, 2125; BGH, NJW 1991, 230, 231; OLG Hamm, VRS 76, 112, 114).

So verhält es sich hier. Nach den Feststellungen des technischen Sachverständigen S. in seinem Ausgangsgutachten vom 10.09.2003 und in seinem Ergänzungsgutachten vom 29.12.2003 erfolgte die Kollision zwischen den beteiligten Fahrzeugen nahezu frontal, ohne dass hierdurch eine wesentliche Verdrehung des klägerischen Pkw verursacht wurde. Zudem ergibt sich aus den Gutachten des technischen und des medizinischen Sachverständigen sowie aus den bei der Akte befindlichen Lichtbildern, dass die Fahrgastzelle des klägerischen Fahrzeuges nicht erheblich deformiert wurde. Der medizinische Sachverständige D. C. hat in seinem Ausgangsgutachten vom 10.09.2003 und in seinem Ergänzungsgutachten vom 29.12.2003 darüber hinaus nachvollziehbar dargelegt, dass die vom Kläger erlittene Oberschenkelschaftfraktur, die nicht mit weiteren Verletzungen in der Knie- oder Hüftregion verbunden gewesen sei, "mit hoher Wahrscheinlichkeit" auf eine Biegungsbelastung des Knochens beim Anstoß der Oberschenkelvorderseite an die Unterkante des Armaturenbrettes zurückzuführen sei. Diese Biegungsbelastung entstehe dadurch, dass der Oberschenkel unter das Armaturenbrett geschoben und der Körper sodann nach oben angehoben werde; dies sei der typische Bewegungsablauf eines nicht angegurteten Fahrers bei einer Frontalkollision.

Unter diesen Umständen ist der Beweis der Ursächlichkeit des Nichtanschnallens für die Oberschenkelfraktur prima facie erbracht. Es wäre daher Sache des Klägers gewesen, Umstände darzulegen und zu beweisen, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass der Unfall anders abgelaufen ist, als dies nach der Typik zu erwarten ist (BGH, NJW 1991, 230 f.). Solche Umstände hat der Kläger zwar aufgezeigt, indem er auf die Möglichkeit eines Funktionsfehlers des Anschnallgurtes verwiesen und zudem behauptet hat, er habe beim Nachvornrutschen den Gurt gelockert; unter Beweis gestellt hat der Kläger diesen Sachvortrag jedoch nicht.

c.)

Steht hiernach fest, dass der Kläger nicht angeschnallt und das Nichtangurten auch ursächlich für die erlittene Oberschenkelfraktur war, so muss sich der Kläger diesen Umstand als Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB entgegenhalten lassen.

Der Nutzen moderner Sicherheitsgurte überwiegt derart gegenüber denkbaren Nachteilen, dass ein einsichtiger und verantwortungsbewusster Kraftfahrer sich nur dann verkehrsrichtig verhält, wenn er sich anschnallt. Ein Verstoß gegen die Gurtanlegungsvorschrift des § 21 a Abs. 1 StVO ist als ein Verschulden gegen sich selbst zu werten mit der Folge einer zumindest anteiligen Mithaftung des Geschädigten für die Verletzungen, die durch den Gurt vermieden worden wären. Es handelt sich um ein Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB (BGH, NJW 1991, 230 f., sowie NJW 2001, 1485 f., st. Rspr.; Senatsurteil vom 10.03.2003, Az.: 1 U 150/02; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl., § 9 StVG, Rn. 48 m. w. N.; Hentschel, aaO, § 21a StVO, Rn. 9).

3.)

Bei der Bemessung der Höhe des geschuldeten Schmerzensgeldes war daher neben dem Umfang der in Form von multiplen Prellungen, Schürfungen, Rippenbrüchen, eines Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, eines stumpfen Thoraxtraumas sowie der Oberschenkelfraktur mit ihren andauernden Folgen erlittenen Verletzungen das Mitverschulden des Klägers mindernd zu berücksichtigen.

Bei Abwägung dieser Gesichtspunkte sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass abgesehen von der Oberschenkelfraktur, die ohne das Mitverschulden des Klägers nicht eingetreten wäre, sämtliche weiteren Verletzungen folgenlos abgeheilt sind und der Kläger hinsichtlich der ihm künftig aus dem Unfall entstehenden Schäden einen Feststellungsantrag gestellt hat, hält der Senat einen von den Beklagten zu zahlenden Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 9.000 € für angemessen. Von diesem Betrag ist der bereits geleistete Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 5.590,34 € abzusetzen, so dass sich ein noch zu zahlender Betrag in Höhe von 3.409,66 € ergibt.

II.

Hinsichtlich des Feststellungsantrages des Klägers ergibt sich sein Anspruch auf Ersatz der ihm aus dem verfahrensgegenständlichen Unfall entstandenen materiellen und immateriellen Schäden aus §§ 7, 17 Abs. 1, 18 a.F. StVG, 254, 823, 847 Abs. 1 a.F. BGB, 3 Nr. 1, 2 PflVG.

Dabei war bei der Bemessung des durch das Nichtanschnallen begründeten Mitverschuldens des Klägers - wie das Landgericht zutreffend angenommen hat - nur eine durchschnittliche angemessene einheitliche Mitverschuldensquote zu bilden. In Durchschnittsfällen ist diese Quote auf 20 bis 25% zu Lasten des Geschädigten zu bemessen. Hat das Unterlassen des Gurtanlegens gegenüber dem Verursachungs und Verschuldensbeitrag des Schädigers erhebliches Gewicht, können durchaus aber auch Kürzungen von 50 % oder höher gerechtfertigt sein; andererseits kann sich der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Geschädigten auch milder darstellen oder ganz zurücktreten (Senatsurteil vom 10.03.2003, Az.: 1 U 150/02; Greger a.a.O., § 9 StVG, Rn. 62; Hentschel, aaO, § 21a StVO, Rn. 9b).

Im Rahmen der Abwägung ist dabei auch hier zum einen zu bedenken, dass diejenigen Schäden, die der Kläger neben der Oberschenkelfraktur erlitten hat, sämtlich ohne jede Spätfolge ausgeheilt sind und alle vom Kläger geltend gemachten Folgeschäden allein auf der auf das Nichtangurten zurückzuführenden Oberschenkelfraktur beruhen. Andererseits aber hat der Kläger auch jenseits der Oberschenkelfraktur erhebliche Verletzungen aus dem Unfall davongetragen.

Ferner ist das erhebliche Verschulden des Beklagten zu 1) zu berücksichtigen, der den Vorrang des ihm entgegenkommenden Klägers missachtet und hiermit gegen § 9 Abs. 3 StVO verstoßen hat. Bei einer Kollision mit dem entgegenkommenden Verkehr haftet der Linksabbieger grundsätzlich allein; Betriebsgefahr und etwaige geringfügige Verkehrsverstöße treten in der Regel ganz zurück (Hentschel, aaO, § 9 StVO, Rn. 55).

Da danach nicht von einem überdurchschnittlichen Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Klägers, der eine deutliche Abweichung von den Durchschnittsfällen rechtfertigen könnte, ausgegangen werden kann, hält der Senat eine Mitverschuldensquote von 25% für angemessen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 516 Abs. 3 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug bis zum 04.09.2005 beträgt 25.760 Euro (17.260 € + 6.000 € + 2.500 €) und 4.250 € ab dem 05.09.2005 (Schmerzensgeldanspruch 3.000 € + Feststellungsantrag 1.250 €).

Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.

Ende der Entscheidung

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