Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 14.08.2006
Aktenzeichen: I-1 U 224/05
Rechtsgebiete: StPO, StVO, ZPO, StVG


Vorschriften:

StPO § 170 Abs. 2
StVO § 3 Abs. 1
StVO § 3 Abs. 1 Satz 2
StVO § 10
StVO § 10 Satz 1
ZPO § 288
StVG § 17
StVG § 18
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 10. November 2005 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal wird zurückgewiesen.

Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe:

I.

Die Klägerinnen verlangen von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, bei dem der Ehemann der Klägerin zu 1.) und Vater der Klägerin zu 2.), R. K., getötet wurde.

R. K. befuhr am 05.09.2002 mit seinem Motorrad der Marke Aprilia gegen 18.30 Uhr die N. Straße in Velbert in Fahrtrichtung Langenberg. Der Beklagte zu 1). beabsichtigte, mit seinem Fahrzeug der Marke Nissan Terrano aus der Grundstücksausfahrt der Häuser Nr. 182 bis 188 nach links auf die N. Straße abzubiegen. An dieser Stelle ist die Sicht durch die Rechtskurve eingeschränkt. Eine Einschränkung der auf Landstraßen zulässigen Höchstgeschwindigkeit besteht dort nicht. Als der Motorradfahrer den in die N. Straße einbiegenden Beklagten zu 1.) wahrnahm, bremste er so stark ab, dass er die Kontrolle über das Motorrad verlor und zu Boden stürzte. Er überschlug sich und das Motorrad lag in seiner Endposition auf der N. Straße weit hinter der Grundstücksausfahrt. Auch der Motorradfahrer rutschte eine erhebliche Strecke über den Boden. Das Motorrad und/oder der Motorradfahrer prallten gegen den im Abbiegevorgang befindlichen Wagen des Beklagten zu 1.).

Der Motorradfahrer verstarb noch am Unfallort. Die Klägerinnen sind seine Erbinnen.

Das gegen den Beklagten zu 1.) eingeleitete Ermittlungsverfahren (StA Wuppertal, Aktenzeichen 732 Js 1476/02) wurde gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da kein hinreichender Tatverdacht wegen eines Verkehrsdeliktes oder einer fahrlässigen Tötung bestehe. Ein bei dem Sachverständigen R. eingeholtes Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass der Unfall für den Beklagten zu 1.) unvermeidbar war (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ermittlungsakte und dort insbesondere das Gutachten Blatt 108 ff. verwiesen).

Die Klägerinnen, die von einer Haftung der Beklagten ungeachtet des Gutachtens aus dem Ermittlungsverfahren ausgehen, haben Zahlung von Beerdigungskosten in Höhe von 8.009,70 Euro nebst Zinsen, Schadensersatz für das Motorrad in Höhe von 12.526,65 Euro nebst Zinsen sowie jeweils Unterhaltsrentenbeträge für die Zeit seit dem Unfall und für die Zukunft verlangt. Darüber hinaus haben sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagten verpflichtet seien, jeglichen weiteren Unterhaltsschaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen. Neben dem Grund der Zahlungsansprüche ist auch die Höhe sämtlicher Zahlungsansprüche streitig.

Die Klägerinnen haben behauptet, R. K. habe sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von 75 km/h angenähert. Sie haben die Ansicht vertreten, dass die Beklagten zu 100 % für das Unfallgeschehen zu haften hätten, da diese Geschwindigkeit innerhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gelegen habe und der Beklagte zu 1.) als aus einer Grundstücksausfahrt Kommender eine äußerste Sorgfaltspflicht gehabt habe.

Die Klägerinnen haben beantragt,

I.

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) 8.009,70 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 27.01.2003 zu zahlen,

II.

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerinnen zu 1.) und 2.) 12.526,65 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 27.01.2003 zu zahlen,

III.

1.

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) Unterhaltsrentenbeträge in Höhe von 46.379,11 Euro bis zum 19.06.2004 nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz vom 05.09.2002 bis zum 06.09.2004 aus 28.363,32 Euro zu zahlen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind,

2.

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) eine monatliche Geldrente in Höhe von 384,91 Euro beginnend am 19.06.2005, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres, bis zum 31.12.2037 zu zahlen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind,

3.

festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin zu 1.) jeden weiteren, über die Anträge zu Ziffer 1. und 2. hinausgehenden Unterhaltsschaden aus dem Verkehrsunfall vom 05.09.2002 in Velbert zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind,

IV. 1.

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin zu 2.) eine monatliche Geldrente von 146,71 Euro zunächst bis zum 19.06.2008, beginnend mit dem 01.07.2004, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres zu zahlen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind,

2.

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin zu 2.) 6.459,33 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus 5.873,45 Euro seit dem 27.01.2003 zu zahlen,

3.

festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin zu 2.) sämtliche weiteren, über die Anträge zu 1. und 2. hinausgehenden Unterhaltsschäden aus dem Verkehrsunfall vom 05.09.2002 in Velbert zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben behauptet, R. K. sei mit etwa 100 km/h auf die Unfallstelle zugefahren, so dass er das Sichtfahrgebot klar verletzt habe. Für den Beklagten zu 1.) sei der Unfall unvermeidbar gewesen.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte sowie gemäß dem Beweisbeschluss vom 10.11.2004. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten des Sachverständigen R. vom 25.01.2005 und vom 09.05.2005 sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 18.08.2005 verwiesen.

Das Landgericht hat sodann ein Grund- und Teilendurteil erlassen mit folgendem Tenor:

Die Klage ist hinsichtlich der geltend gemachten Zahlungsansprüche dem Grunde nach zu 75 % des Schadens gerechtfertigt, der den Klägerinnen aufgrund des Unfalls vom 05.09.2002 in Velbert entstanden ist.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 1.) jeden weiteren, über die Zahlungsanträge hinausgehenden Unterhaltsschaden aus dem Verkehrsunfall vom 05.09.2002 in Velbert in Höhe von 75 % zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 2.) sämtliche weiteren, über die Zahlungsanträge hinausgehenden Unterhaltsschäden aus dem Verkehrsunfall vom 05.09.2002 in Velbert in Höhe von 75 % zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen bzw. übergegangen sind.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass den Beklagten zu 1. ein unfallursächlicher Verstoß gegen § 10 StVO treffe, da er unter Berücksichtigung einer Geschwindigkeit des Motorradfahrers von 75 km/h den Anfahrvorgang hätte unfallvermeidend unterbrechen können; auch habe der Beklagte zu 1. einen steileren Abbiegeweg nehmen können. Zu Lasten der Klägerinnen hat das Landgericht ein unfallursächliches Verschulden des Motorradfahrers gegen § 3 Abs. 1 StVO angenommen, welches bei der Haftungsabwägung mit 25 % anzusetzen sei. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des von den Beklagten mit ihrer Berufung zulässig angefochtenen Urteils verwiesen.

Nach Auffassung der Beklagten ist das Urteil des Landgerichts unzutreffend, weil es unstreitigen und gemäß § 288 ZPO zugestandenen Sachvortrag als streitig behandelt und Umstände zugrundelegt, die streitig und unbelegt geblieben seien. Unaufgeklärte, lediglich denkbare Eventualumstände seien im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG zur Beurteilung herangezogen worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird insbesondere auf die Berufungsbegründung vom 16. Februar 2006 (Bl. 217 ff. GA) verwiesen. Die Beklagten beantragen,

das "Grund- und Teilendurteil" vom 10.11.05 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil und vertiefen und ergänzen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird insbesondere auf die Berufungserwiderung vom 15. März 2006 (Bl. 233 ff. GA) verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

1.

Ihre zum Teil berechtigten Rügen führen im Ergebnis zu keiner anderen Haftungsquote.

Zwar hat das Landgericht zu Unrecht einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. in Form eines Verstoßes gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO festgestellt, indem es fehlerhaft von einer feststehenden Annäherungsgeschwindigkeit des Motorradfahrers von 75 km/h ausgegangen ist. Unter Zugrundelegung der unstreitigen und bewiesenen Tatsachen lässt sich jedoch weder ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1. noch des Motorradfahrers K. feststellen. Da weiterhin gleichfalls nicht feststellbar ist, dass der Unfall für die beteiligten Fahrer unabwendbar war, sind bei der Haftungsabwägung die Betriebsgefahren des Pkw Nissan Terrano und des Motorrades Aprilia gegeneinander abzuwägen; dies führt unter den gegebenen Umständen zu einer deutlich überwiegenden Verteilung der Haftung auf die Beklagten gemäß einer Quote von 75 zu 25.

Im Einzelnen ist folgendes auszuführen:

a.

Ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1. ist nicht bewiesen.

aa.

Wie das Landgericht im Ansatz zutreffend ausgeführt hat, lässt sich ein derartiges Verschulden positiv nur dann feststellen, wenn der Motorradfahrer mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 km/h sich der Unfallstelle angenähert hat und deshalb von dem Beklagten zu 1. unter gewissen Umständen noch unfallvermeidend hätte wahrgenommen werden können und müssen. Es hat jedoch nicht beachtet, dass die Annäherungsgeschwindigkeit des Motorradfahrers von 75 km/h nicht feststeht, vielmehr nach den zuverlässigen Ausführungen des Sachverständigen R. hier eine Bandbreite von 75 km/h bis 100 km/h zugrunde zu legen ist, von denen überdies die höhere Geschwindigkeit die plausiblere ist. Zu Lasten einer Partei dürfen nur solche Umstände berücksichtigt werden, auf die sie sich selbst beruft, die unstreitig oder bewiesen sind. Deshalb hätte das Landgericht in Rechnung stellen müssen, dass hier in Betracht kam, dass sich der Motorradfahrer mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h der Unfallstelle genähert hat und bei dieser Geschwindigkeit es nicht feststellbar ist, dass der Beklagte zu 1. seine Sorgfaltsanforderungen aus § 10 StVO verletzt hat.

bb.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Klägerinnen hierzu auch nicht auf einen Anscheinsbeweis berufen können.

Nach der Vorschrift des § 10 StVO muss sich ein Verkehrsteilnehmer, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss er sich einweisen lassen. Von dem Ein- oder Ausfahrenden wird nach der ständigen Rechtsprechung des Senats äußerste Sorgfalt gefordert. Die Verantwortung für die Sicherheit des Verkehrsvorganges trifft vor allem ihn (Senat, Urteil vom 28. Mai 2001, Az. 1 U 81/00 mit Hinweis auf BGH VRS 56, 202, 203; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 10 StVO, Rdnr. 10). Die Pflicht zur höchsten Sorgfalt setzt u.a. Umblick voraus und sie schließt die Beachtung der Sichtverhältnisse ein (Senat a. a. O.; Hentschel a. a. O. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

Kollidiert daher ein aus einer Grundstücksausfahrt herausfahrendes Fahrzeug mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der Herausfahrende die gemäß § 10 Satz 1 StVO gebotene äußerste Sorgfalt nicht beachtet hat (Senat a. a. O. mit Hinweis auf OLG Saarbrücken ZfS 1992, 333; OLG Hamm VRS 1972, 344; Hentschel a. a. O., § 10 StVO, Rdnr. 11 mit weiteren Nachweisen).

Der grundsätzlich deshalb auch gegen den Beklagten zu 1. sprechende Anschein ist jedoch vorliegend erschüttert, weil Tatsachen bewiesen sind, die auf die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes schließen lassen. Denn nach den zuverlässigen Ausführungen des Sachverständigen R. konnte der Beklagte zu 1. den herannahenden Motorradfahrer selbst bei einem Hineintasten in die Fahrbahn zu einer Unfallvermeidung nicht rechtzeitig wahrnehmen, wenn der Motorradfahrer mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h gefahren ist, die hier keineswegs auszuschließen ist, sondern nach den plausiblen Überlegungen des Sachverständigen R. sogar eher wahrscheinlich sind.

b.

Auf der anderen Seite ist allerdings auch ein Verschulden des Motorradfahrers nicht bewiesen.

aa.

Soweit sich die Beklagten darauf berufen, die Klägerinnen hätten diese Geschwindigkeit gemäß § 288 ZPO zugestanden, ist das unzutreffend. Die Klägerinnen haben vielmehr lediglich von einer Geschwindigkeit von "ca." 100 km/h geschrieben und sich später ausdrücklich die ihnen günstige Feststellung des Sachverständigen R. zueigen gemacht. Es darf nicht übersehen werden, dass der zunächst erfolgte Vortrag der Klägerinnen offenkundig vornehmlich dem Zweck diente, darzustellen, dass sich der verunglückte Motorradfahrer im Bereich der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bewegt hat; mit ihrer "ca." - Angabe war ein Zugeständnis auf eine entsprechende Behauptung der Gegenseite nicht verbunden; auch ein sogenanntes vorweggenommenes Geständnis liegt nicht vor. Zwar haben sich die Beklagten in der Klageerwiderung vom 20.09.2004 (Bl. 28 GA) den Vortrag der Klägerinnen, Herr K. sei mit "ca. 100 km/h" gefahren, zueigen gemacht. Die Klägerinnen haben darauf aber schon in ihrem Schriftsatz vom 29.10.2004 (Bl. 36 GA) in Abrede gestellt, dass die Erkenntnis des im Rahmen der staatsanwaltlichen Ermittlungen gefertigten Gutachtens, Herr K. sei mit etwa 100 km/h gefahren, tatsächlich zutreffe. In dem maßgeblichen Zeitpunkt der ersten mündlichen Verhandlung (vgl. Zöller/Greger, ZPO, § 288 Rdnr. 3 a) handelte es sich daher bei der Behauptung der Beklagten, der Motorradfahrer sei mit mindestens 100 km/h unterwegs gewesen, um streitigen Sachvortrag.

bb.

Zu Unrecht hat das Landgericht zudem einen schuldhaften Verursachungsbeitrag des Motorradfahrers festgestellt.

Zu Gunsten des Motorradfahrers ist von einer Geschwindigkeit von 75 km/h auszugehen. Bei dieser Geschwindigkeit ist es aber zweifelhaft, ob er gegen das Sichtfahrgebot gemäß § 3 Abs. 1 StVO verstoßen hat. Wie der Sachverständige R. ausgeführt hat, hätte der Motorradfahrer bei Sichtbarkeit von 44 m den Unfall ohne weiteres durch Bremsung vermeiden können. Darauf, dass sich Wartepflichtige verkehrsgerecht verhalten und seine Vorfahrt beachteten, durfte er vertrauen. Der Umstand, dass der Kläger tatsächlich nicht in der Lage war, rechtzeitig zu bremsen, sondern gestürzt ist, begründet - entgegen dem Landgericht - nicht den bewiesenen Vorwurf eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO. Es trifft zwar zu, dass die persönlichen Fähigkeiten des Fahrers, vor allem seine Erfahrung und sein jeweiliger Zustand die zulässige Fahrgeschwindigkeit mitbedingen. Vorliegend steht jedoch nicht fest, dass Herr K. grundsätzlich persönlich nicht in der Lage war, auf Gefahrenmomente wie dem vorliegenden angemessen und richtig zu reagieren. Wie der Sachverständige R. plausibel und zutreffend ausgeführt hat, ist nicht auszuschließen, dass Herr K. auch bei einer Geschwindigkeit von lediglich 75 km/h auf das Einfahren des Pkw in die N. Straße spontan und undosiert reagierte und deshalb stürzte.

c.

Die Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge gemäß §§ 17, 18 StVG, bei der zulasten einer Partei nur solche unfallursächlichen Umstände berücksichtigt werden dürfen, auf die sich eine Partei beruft, die unstreitig oder bewiesen sind, hier also lediglich die Betriebsgefahren der unfallbeteiligten Fahrzeuge, führt zu einer wesentlich überwiegenden Haftung der Beklagten von 75 : 25. Denn die Betriebsgefahr des Nissan Terrano war erheblich erhöht, weil hiermit aus einer für den vorfahrtberechtigten Verkehr aus Richtung des Motorradfahrers relativ spät sichtbaren Grundstücksausfahrt nach links abgebogen werden sollte. Das damit verbundene Gefahrenpotenzial war beträchtlich und damit die Betriebsgefahr des Nissan deutlich höher als die (einfache) Betriebsgefahr des sich auf der Vorfahrtsstraße bewegenden Motorrades. Zudem lässt sich schon aus den in § 10 StVO aufgestellten besonderen Sorgfaltsanforderungen generell ersehen, dass der Gesetzgeber hier einer erhöhten Gefahrenlage begegnen wollte.

2.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Der Streitwert für die Berufung wird auf 86.443,19 € festgesetzt.

Ende der Entscheidung

Zurück