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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 08.12.2006
Aktenzeichen: I-3 Wx 244/06
Rechtsgebiete: AufenthG, FreihEntzG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 2
FreihEntzG § 14 Abs. 3
FreihEntzG § 16 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Der angefochten Beschluss des Landgerichts wird geändert.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens werden der Stadt M. auferlegt.

Gründe:

I.

Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste nach seiner Eheschließung am 4. Oktober 2001 in der Türkei mit einer deutschen Staatsangehörigen zur Familienzusammenführung in die Bundesrepublik ein. Das Visum wurde am 6. Februar 2002 von der deutschen Botschaft in Ankara für drei Monate ausgestellt. Die Aufenthaltserlaubnis wurde dem Antragsgegner am 4. April 2002 zunächst bis zum 3. April 2003 erteilt. Voraussetzung für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis war die unterstellte eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau. Da die eheliche Lebensgemeinschaft nur ein Jahr und zehn Monate bestand, wurde mit Ordnungsverfügung vom 11. Mai 2006 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und der Betroffene unter Abschiebungsandrohung aufgefordert, das Bundesgebiet binnen sechs Wochen zu verlassen. Der Betroffene reiste nicht aus, legte Widerspruch gegen den Bescheid ein und stellte beim Verwaltungsgericht einen Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag am 28. Juni 2006 ab; die Verwaltungsbehörde wies den Widerspruch zurück.

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts legte der Betroffene ein Rechtsmittel ein, das mit Beschluss vom 11. September 2006 als unzulässig verworfen wurde.

Mit Schreiben vom 13. September 2006 forderte die Antragstellerin den Betroffenen auf, zur Klärung der Ausreise am 18. September 2006 vorzusprechen. Dort wurde ihm die freiwillige Ausreise nahe gelegt. Der Betroffene erklärte ausdrücklich, nicht ausreisen zu wollen. Bei einer erneuten Vorsprache am 26. September 2006 blieb der Betroffene bei seiner Haltung, das Bundesgebiet nicht verlassen zu wollen.

Er wurde gegen 12 Uhr vorläufig festgenommen und dem Polizeigewahrsam zugeführt, weil vom Amtsgericht Neuss an diesem Tag ein Haftvorführungstermin nicht mehr organisiert werden konnte.

Der Rückführungsflug war für den 9. Oktober 2006 vorgesehen.

Auf das Gesuch der Antragstellerin hat das Amtsgericht am 27. September 2006 nach Anhörung des Betroffenen gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Sicherungshaft für längstens 2 Wochen mit sofortiger Wirksamkeit angeordnet, weil die Ausreisefrist abgelaufen sei, durch die wiederholten Äußerungen des Betroffenen, nicht freiwillig auszureisen, der Verdacht bestehe, dass der Betroffene, weil er nunmehr auch den Abschiebetermin kenne, sich dieser Abschiebung durch Untertauchen entziehen werde.

Hiergegen hat der Betroffene sofortige Beschwerde eingelegt.

Unter dem 4. Oktober 2006 hat der Betroffene unter Hinweis auf eine eidesstattliche Versicherung seiner Ehefrau beantragt, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für ein Jahr zu erteilen.

Das Oberverwaltungsgericht Münster (18 B 2188/06) hat am 6. Oktober 2006 angeordnet, dass bis zur endgültigen Entscheidung dieses Gerichts im Verfahren wegen Abschiebungsschutzes Abschiebungsmaßnahmen gegen den Betroffenen nicht durchzuführen seien.

Darauf wurde die Rückführung des Betroffenen am 9. Oktober 2006 etwa zwei Stunden vor dem geplanten Flug storniert und der Betroffene aus der Haft entlassen.

Der Betroffene hat beantragt,

die Kosten des Verfahrens der Antragstellerin aufzuerlegen.

Die Antragstellerin hat beantragt,

die Kosten des Verfahrens dem Betroffenen aufzuerlegen.

Das Landgericht hat am 8. November 2006 die Kosten des Verfahrens dem Betroffenen auferlegt, da die angefochtene Haftanordnung der Sach- und Rechtslage entspreche (§ 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1, 15 Abs. 1 FreihEntzG). Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, habe sich geweigert, freiwillig auszureisen, und es habe der Verdacht bestanden, dass er sich dem ihm bekannten Abschiebetermin durch Untertauchen entziehen würde. Umstände, die die Anordnung von Abschiebungshaft gleichwohl hinderten, hätten nicht vorgelegen. Auch eine Überbürdung der dem Betroffenen entstandenen außergerichtlichen Kosten gemäß § 16 Abs. 1 FreihEntzG auf die Ausländerbehörde komme nicht in Betracht. Das Verfahren habe nicht ergeben, dass ein begründeter Anlass zur Stellung eines Haftantrages nicht vorgelegen habe.

Der Betroffene legt gegen den landgerichtlichen Beschluss sofortige weitere Beschwerde ein (GA 64) und vertritt die Auffassung, er habe die Verfahrenskosten nicht zu tragen, weil er nicht vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei. Die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau habe bestanden und bestehe fort. Der Verdacht, dass er sich der Abschiebung entziehen würde, habe nie bestanden.

Die Antragstellerin tritt dem entgegen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Akteninhalt bezug genommen.

II.

1.

Durch die Haftentlassung am 9. Oktober 2006 ist die Freiheitsentziehung des Betroffenen beendet worden. Das Verfahren ist nach Einlegung der Erstbeschwerde in der Hauptsache erledigt.

2.

Nachdem der Betroffene sein Rechtsmittel zulässigerweise auf die Kostenfrage beschränkt hat, hatte die Kammer nunmehr über die gesamten Verfahrenskosten zu befinden (vgl. BayObLGZ1985, 432/434; SchlHOLG FamRZ 1996, 1344).

Dass sie hierbei dem Betroffenen die Verfahrenskosten auferlegt und es abgelehnt hat, seine außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin aufzuerlegen, ist im Sinne eines rechtlichen Fehlers (§ 27 FGG) zu beanstanden.

a) Der Betroffene hat die Gerichtskosten erster Instanz und zweiter Instanz nicht zu tragen, da die amtsgerichtliche Haftanordnung der Sach- und Rechtslage nicht entsprach (§ 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3, § 15 Abs. 1 FreihEntzG).

aa)

Aufgrund unzureichender Feststellungen und daher zu Unrecht hat das Amtsgericht die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bejaht.

Denn die Haftanordnung des Amtsgerichts ist ergangen, ohne dass die hier unerlässliche Ermessensausübung stattgefunden hat. Ausweislich der für den Senat maßgebenden Beschlussbegründung (vgl. § 6 Abs. 1 FEVG) hat das Amtsgericht nicht beachtet, dass - bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen - § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG einen fakultativen Haftgrund (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage (2005), § 62 Rdz. 21) normiert, der dem Tatrichter ein Ermessen darüber einräumt, ob er die Haft anordnet oder nicht (vgl. OLG München, Beschluss vom 16. Januar 2006 - 34 Wx 172/05 - bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang; Senat I-3Wx 106/06 vom 14. Juni 2006 bei Melchior a.a.O.).

Die Ermessensausübung hat unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots abzuwägen den Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen einerseits und andererseits den Zweck der gesetzlichen Vorschrift, im Allgemeininteresse eine zügige Durchführung der vollziehbaren Abschiebung des Betroffenen zu sichern (OLG München a.a.O., m. N.). Dabei setzt § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch voraus, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehet, dass ohne eine Inhaftierung die Abschiebung wesentlich erschwert oder vereitelt werden würde (OLG Oldenburg, Beschluss vom 10. April 2006 - 13 W 63 + 82/05 - Melchior, Abschiebungshaft, Anhang).

Die tatrichterliche Entscheidung muss die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe erkennen lassen (§ 6 Abs. 1 FEVG). Das Rechtsbeschwerdegericht kann zwar nicht die sachliche Richtigkeit der tatrichterlichen Ermessensentscheidung prüfen. Zu prüfen ist jedoch, ob der Tatrichter ein Ermessen überhaupt ausgeübt oder ob er die Notwendigkeit dazu verkannt hat (OLG München a.a.O., m.N.).

Derartige Ermessenserwägungen hat das Amtsgericht in seiner Haftentscheidung nicht angestellt. Der Amtsrichter war sich offenbar der ihm obliegenden Pflicht zur Ermessensausübung nicht bewusst.

bb) Auch das Landgericht hat es in der angefochtenen Entscheidung (im Rahmen der Kostenentscheidung nach Erledigung der Hauptsache) an Ermessenserwägungen fehlen lassen.

Die Kammer hat ohne entsprechende Umstände darzulegen, angenommen, es habe der Verdacht bestanden, dass der Betroffene sich "dem ihm erkannten Abschiebetermin durch untertauchen entziehen würde" - dies ohne auf die in der Rechtsprechung umstrittene Frage einzugehen, ob und inwieweit die Entziehungsabsicht im Rahmen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu prüfen und aufzuklären ist (vgl. dazu einerseits OLG Hamm Beschluss vom 2. Dezember 2004 - 15 W 435/04 - Melchior, Abschiebungshaft, Anhang, und andererseits OLG Frankfurt, Beschluss vom 15. März 2004 - 20 W 426/03 - Melchior, Abschiebungshaft, Anhang).

Die fehlende Ermessensausübung ist nicht nachzuholen, da nach Erledigung der Hauptsache -abgesehen vom Übergang in das Feststellungsverfahren - weitere Ermittlungen nicht durchgeführt werden (OLG München NJW-RR 2006, 1511; OLG Köln InfAuslR 2006, 414; Senat I - 3 WX 182/06 vom 24.10.2006).

Zu berücksichtigen ist, dass die Verweigerung der freiwilligen Ausreise für sich allein nicht genügt, eine wesentliche Erschwerung oder Vereitelung der Abschiebung anzunehmen (OLG Oldenburg vom 10. April 2006, a.a.O.; Senat a.a.O.). Außerdem ist nicht ohne Belang, dass der Betroffene - um die drohende Abschiebung wissend - bis zu seiner Festnahme alle ihm genannten Termine wahrgenommen und sich nur mit rechtlich zulässigen Mittel gegen seine Abschiebung gewehrt hatte. Deshalb bestand kein Anhalt, dass der Betroffene am Tage der ihm angekündigten Abschiebung - nach eventuell erfolgloser Ausschöpfung der rechtlichen Mittel nicht zur Verfügung stehen werde.

cc)

Für die dritte Instanz fallen Gerichtskosten dem Betroffenen nicht zur Last, da insoweit keiner der in § 14 Abs. 3 FreihEntzG vorgesehenen Gebührentatbestände erfüllt ist.

b) Eine Überbürdung der dem Betroffenen entstandenen außergerichtlichen Kosten auf die Gebietskörperschaft, der die Ausländerbehörde angehört, ist angezeigt, da die Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 16 Satz 1 FreihEntzG (vgl. BayObLG v. 06.02.2002 - 3Z BR 407/01 - bei Melchior (Internet- Kommentar zur Abschiebungshaft), Anhang; BayObLGZ 1997, 379/380; Senat a.a.O.) gegeben sind. Das Verfahren hat ergeben, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrags auf Anordnung von Sicherungshaft nicht vorlag. Denn die Verwaltungsbehörde hat keine - jedenfalls keine objektivierten - Erwägungen angestellt, zu hinterfragen, ob eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass ohne eine Inhaftierung die Abschiebung des Betroffenen wesentlich erschwert oder vereitelt werden würde. Vieles spricht für die Absicht der Behörde, durch eine "geplante Festnahme" am 26. September 2006, die ohnehin nur zulässig ist, wenn zuvor eine richterliche Entscheidung eingeholt worden ist (vgl. nur OLG Braunschweig, Beschluss vom 4. Februar 2004 - 6 W 32/03 - Melchior, Abschiebungshaft, Anhang; Melchior, Rundbrief 10/2006 unter I. a) die Voraussetzungen für eine erleichterte Abschiebung aus der Haft heraus zu schaffen.

Ende der Entscheidung

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