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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 30.03.2004
Aktenzeichen: I-4 U 37/03
Rechtsgebiete: AUB 88


Vorschriften:

AUB 88 § 7 I (2)
AUB 88 § 7 I (3)
1.

Musste ein Versicherter bereits vor einem Unfall, durch den seine Augen geschädigt wurden, eine Brille tragen, so ist dieser Vorinvalidität grundsätzlich gemäß § 7 I (3) AUB 88 durch einen sog. Brillenabschlag Rechnung zu tragen.

2.

Da seit der Einführung der AUB 88 die Funktionsbeeinträchtigung für jedes Auge gesondert zu ermitteln ist, kann nur eine frühere Beeinträchtigung des bei dem Unfall verletzten Auges als Vorinvalidität i. S. von § 7 I (3) AUB 88 gewertet werden.

3.

War der Geschädigte vor der unfallbedingten Beeinträchtigung seiner Sehkraft bereits Brillenträger, findet ein Abzug wegen Vorinvalidität nicht statt, wenn der Geschädigte die Sehhilfe allein zur Behebung der Gebrauchsminderung des vom Unfall nicht betroffenen Auges benötigte oder wenn die daneben bestehende Minderung auf dem nachfolgend geschädigten Auge so geringfügig war, dass sie - isoliert betrachtet - die Verordnung einer Sehhilfe nicht gerechtfertigt hätte.

4.

Ist bei einem Brillenträger der vor dem Unfall bestehende Grad der Minderung der Sehkraft des unfallbetroffenen Auges nicht feststellbar, geht dies zu Lasten des für die Vorinvalidität beweispflichtigen Versicherers.


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

I-4 U 37/03

Verkündet am 30. März 2004

In dem Rechtsstreit

pp.

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2004 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Dr. S..., des Richters am Oberlandesgericht Dr. R... und der Richterin am Landgericht F...

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 19. Dezember 2002 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf - Einzelrichter - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung auf der Grundlage der V... AUB 88 sowie der "Besonderen Bedingungen für die Unfall-Rente plus Zusatzleistung bei einem Invaliditätsgrad ab 50 %". Das versicherte Invaliditäts-Kapital beläuft sich auf 180.000 DM. Außerdem hat der Kläger ab 50 % Invalidität Anspruch auf eine monatliche Unfallrente sowie eine Einmalzahlung in Höhe der zehnfachen monatlichen Unfallrente.

Am 15. Dezember 2000 erlitt er bei einem Arbeitsunfall eine schwere Prellung des rechten Augapfels, die trotz intensiver Behandlung zum nahezu vollständigen Verlust des Sehvermögens auf dem verletzten Auge führte. Obgleich nach § 7 I 2 AUB bei dem Verlust oder der Funktionsunfähigkeit eines Auges 50%ige Invalidität vorliegt, gewährte die Beklagte ihm nur eine Entschädigung nach einem Invaliditätsgrad von 47 %, weil er bereits vor dem Unfall eine Brille trug. Durch diese Sehhilfe wurde die bis dahin bestehende Sehschwäche vollständig korrigiert.

Der Kläger hat geltend gemacht, ein sog. Brillenabschlag sei nicht gerechtfertigt. Die Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1983, auf die die Beklagte sich berufe, sei nicht mehr zeitgemäß. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass bei ihm nur eine leichte Fehlsichtigkeit vorgelegen habe.

Er hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 10.430,13 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28. August 2002 sowie ab dem 1. Januar 2001 eine monatliche Unfallrente in Höhe von 766,94 € zuzahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, bei der Ermittlung der Vorinvalidität sei beim Kläger von der - durch die Sehhilfe korrigierten - Sehkraft seines Auges auszugehen. Die mit dem Tragen einer Sehhilfe verbundenen Nachteile seien aber in Form eines Brillenabschlages zu berücksichtigen. Dieser sei selbst bei gering- bis mittelgradigen Korrekturen mit 3 % anzusetzen.

Das Landgericht hat sich der Argumentation des Klägers angeschlossen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der das angefochtene Urteil für richtig hält, bittet um Zurückweisung der Berufung.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil und den Akteninhalt Bezug genommen.

II.

Die Berufung bleibt ohne Erfolg.

Die Parteien streiten allein darüber, ob bei der Berechnung der der Höhe nach unstreitigen Entschädigung von der beim Kläger bestehenden Gesamtinvalidität ein Brillenabschlag vorzunehmen ist. Das hat das Landgericht im Ergebnis zu Recht verneint.

1.

Nach der Rechtsprechung des BGH ist bei der Beurteilung der Gebrauchsfähigkeit eines Auges grundsätzlich von der durch eine Brille korrigierten Sehkraft auszugehen. Hiervon ist jedoch ein Abschlag für die Gebrauchsminderung zu machen, die sich aus der Notwendigkeit des Tragens einer Sehhilfe und den damit generell verbundenen Belastungen ergibt (BGH v. 27.4.83 - IV a ZR 193/81 - VersR 1983, 581, bestätigt durch BGH v. 28.2.90 - IV ZR 36/89 - VersR 1990, 478 unter 2b). Dem hat sich das Schrifttum nahezu einhellig angeschlossen (Burggraf, VersR 1983, 799; Rassow, VersR 1983, 893; Gramberg-Danielsen und Thomann, VersR 1988, 789; Grimm, AUB, 3. Aufl., § 7 Rn. 27; Knappmann in: Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 7 AUB 88, Rn. 18; Wussow/Pürckhauer, AUB, 6. Aufl., § 7 Rn. 38; mit Einschränkungen Gramberg-Danielsen/Kern, VersR 1989, 20). Davon abzugehen, besteht auch unter Berücksichtigung der Fortschritte, die in der Brillentechnik seit der Leitentscheidung des BGH zu verzeichnen waren, keine Veranlassung. Die Kammer hat bei der von ihr vertretenen Gegenmeinung nicht hinreichend berücksichtigt, dass die mit dem Tragen einer Sehhilfe verbundenen Beeinträchtigungen nicht nur bei der Feststellung einer Vorinvalidität i. S. von § 7 I (3) AUB 88 zu berücksichtigen sind, sondern auch dann, wenn ein Auge mit bis dahin intaktem Sehvermögen erstmals infolge eines Unfalls dauerhaft beeinträchtigt wird. Dass ein Unfallversicherter in diesem Fall - ausgehend von der Auffassung des Landgerichts - keine Invaliditätsleistung beanspruchen kann, weil die Gebrauchsfähigkeit des Auges durch eine Brille auf volle Sehkraft korrigiert werden kann und das Tragen einer Sehhilfe keine ins Gewicht fallenden Nachteile mit sich bringt, wird ihm kaum zu vermitteln sein. Geht man daher mit der Rechtsprechung davon aus, dass in einem solchen Fall ein Brillenzuschlag geboten ist, hat das aber zwangsläufig zur Folge, dass eine durch eine Sehhilfe ausgeglichene Einbuße an Sehkraft bei der Entschädigung eines nachfolgenden Unfalls anspruchsmindernd in Ansatz zu bringen ist.

2.

Das besagt indes nicht, dass ein Abzug wegen Vorinvalidität stets geboten ist, wenn der Geschädigte vor der unfallbedingten Beeinträchtigung seiner Sehkraft bereits Brillenträger war. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt namentlich in Betracht, wenn der Geschädigte die Sehhilfe allein zur Behebung der Gebrauchsminderung des anderen, vom späteren Unfall nicht betroffenen Auges benötigte, oder wenn die daneben bestehende Minderung auf dem nachfolgend geschädigten Auge so geringfügig war, dass sie - isoliert betrachtet - die Verordnung einer Sehhilfe nicht gerechtfertigt hätte. Die Beeinträchtigung des anderen Auges kann nämlich nicht als Vorinvalidität des später verletzten Auges gewertet werden, weil seit der Einführung der AUB 88 die Funktionsbeeinträchtigung für jedes Auge gesondert zu ermitteln ist (vgl. Gramberg-Danielsen/Thomann, VersR 1988, 789 unter 3.; ferner Gramberg-Danielsen/Kern, VersR 1989, 20, 22 "Beispiel 1"). Wenn daneben dennoch das nachfolgend verletzte Auge korrigiert wurde, fällt das nicht mehr ins Gewicht, sofern dessen Vorschädigung belanglos war. Dass die Dinge im Streitfall auch so liegen, sodass ein Brillenabschlag nicht in Betracht kommt, kann zugunsten des Klägers nicht ausgeschlossen werden.

Ausweislich des Gutachtens W... (GA 19) lag die unkorrigierte Sehleistung des vom Unfall nicht betroffenen linken Auges des Klägers bei 0,1, was einer Minderung der Gebrauchsfähigkeit von 17/25 entspricht (vgl. die Tabelle 1 bei Gramberg-Danielsen/Thomann, VersR 1988, 789, 790). Dagegen war die Minderung der Sehkraft des rechten Auges vor dem Unfallereignis nicht mehr aufzuklären. Die Zeugen Dr. Dr. K... und Dr. W... konnten bei ihrer Befragung keine näheren Angaben dazu machen. Beide haben den Kläger erstmals nach seinem Unfall untersucht. Zwar hat Dr. K... nach seinem Bekunden Anfang 1985 die Augenarztpraxis von Dr. O... übernommen, der dem Kläger die vor dem Unfall getragene Brille verordnet hat (GA 153). Dessen Unterlagen über die Behandlung des Klägers hat der Zeuge jedoch bereits vernichtet. Dr. W... hat ausgesagt, der Kläger sei nicht sein Patient gewesen, er habe sich bei ihm lediglich im Mai 2001 und im Juli 2003 zum Zwecke der Begutachtung vorgestellt (GA 172). Diese Erklärung ist eindeutig. Zu einer von der Beklagten (lediglich) angeregten ergänzenden Befragung des Zeugen (GA 188) bestand daher keine Veranlassung. Dass ihm - ausweislich eines Schreibens an die Beklagte (GA 174) - bekannt war, dass der Kläger vor dem Unfall kurz- und stabsichtig war, steht dazu nicht in Widerspruch, denn das hatte ihm der Kläger - allem Anschein nach ohne weitere Detailangaben - bei der der Begutachtung vorausgegangenen Anamnese mitgeteilt (GA 18).

Die von der Beklagten angeforderte Auskunft der AOK Bayern (GA 192) war gleichfalls unergiebig. Da nichts darauf hindeutet, dass der Krankenkasse noch weitergehende Informationen aus der - von der Bescheinigung vom 27. November 2003 nicht abgedeckten - Zeit vor 1990 zur Verfügung stehen, in der die Brillenverordnung durch Dr. O... erfolgt sein muss (GA 153), hat der Senat auch keine Veranlassung gesehen, von Amts wegen weitere Auskünfte einzuholen. Soweit die Beklagte schließlich am Tage vor der letzten mündlichen Verhandlung begehrt hat, dem Kläger aufzugeben, den von ihm seinerzeit beauftragten Optiker zu benennen, die vor dem Unfall benutzte Brille, die er gar nicht mehr im Besitz haben will (GA 58), vorzulegen und weitere Informationen bei der AOK einzuholen (GA 193), wird der Antrag gemäß § 296 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, da - wie bereits in der mündlichen Verhandlung erörtert - die Zulassung des neuen Vorbringens die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht. Dass die Beklagte schon mit Schriftsatz vom 8. September 2003 die Einholung einer amtlichen Auskunft durch den Senat beantragt hatte (GA 133 f.), steht dem nicht entgegen, weil sie davon im Termin vom 9. September 2003 wieder abgerückt ist und selbst die Befragung der AOK übernommen hat(GA 128).

Dass der Grad der Minderung der Sehkraft des rechten Auges vor dem Unfall nicht mehr feststellbar war, geht zu Lasten der Beklagten, weil bei Anrechnung der Vorinvalidität der Entschädigungsanspruch herabgesetzt wird. Demgemäss handelt es sich dabei um eine Einwendung, für die der Versicherer nach allgemeinen Beweislastregeln beweispflichtig ist.

3.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Berufungsstreitwert:

Einmalzahlung: 10.430,13 € lfd. Rente (766,94 € x 42 =) 32.211,48 € rückständige Rente (7 x 766,94 €=) 5.368,58 € 48.010,19 €.

Ende der Entscheidung

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