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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 23.05.2005
Aktenzeichen: I-8 U 82/04
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 91
ZPO § 708 Nr. 11
ZPO § 713 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 1. Juni 2004 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreites - beider Instanzen - hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Der Kläger erkrankte im Jahre 1999 an einem akuten Guillain-Barré-Syndrom mit einer vorübergehend vollständigen Lähmung. Nach dem Rückgang der die oberen Extremitäten betreffenden Lähmungserscheinungen unterzog er sich ab Oktober 2001 einer physiotherapeutischen Rehabilitation in der Therapieeinrichtung des Beklagten zu 1). Dort führte der Kläger unter Anleitung der als Physiotherapeutin angestellten Beklagten zu 2) am 19. November 2002, wie bereits einige Male zuvor, in einem sogenannten Gehbarren eine Gangschule durch. Dabei stürzte der Kläger auf den Seitenholm des Barrens und zog sich - nach seiner Darstellung - dabei beidseitige Unterschenkelfrakturen zu, die operativ versorgt werden mussten.

Der Kläger macht die Beklagten für den Sturz und dessen Folgen verantwortlich. Er hat ihnen vorgeworfen, nicht erkannt zu haben, dass er zur Durchführung einer Gehübung am Barren aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage war; jedenfalls sei den Beklagten anzulasten, dass sie nicht für die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen gesorgt hatten. Dabei hat er die Auffassung vertreten, ihm seien hinsichtlich der Feststellung einer haftungsbegründenden objektiven Pflichtverletzung der Beklagten Beweiserleichterungen zuzubilligen, weil er in einem für die Beklagten voll beherrschbaren Risikobereich zu Schaden gekommen sei.

Der Kläger hat behauptet, infolge der Frakturen sei er in seiner körperlichen Wiederherstellung um Jahre zurückgeworfen worden. Hierwegen hat er als immateriellen Schadenausgleich die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 10.000 DM verlangt.

Die Beklagten sind den Vorwürfen entgegengetreten. Sie haben geltend gemacht, angesichts zuvor bereits problemlos von dem Kläger absolvierter Übungen auch am Gehbarren sei es nicht fehlerhaft gewesen, ihn unter Anleitung der Beklagten zu 2) die Gangschule am Barren selbständig vornehmen zu lassen. Die Verwendung weitergehender Sicherungsmaßnahmen sei weder angezeigt noch erforderlich und der Sturz in keiner Weise vorhersehbar gewesen. Im übrigen haben sich die Beklagten auf den geprüften Sicherheitsstandard des Übungsgerätes berufen und ein Mitverschulden des Klägers eingewandt, weil er auf eine für den Sturz verantwortliche nachlassenden Armkraft nicht hingewiesen habe. Die Beklagten haben schließlich bestritten, dass es zu den Knochenbrüchen aufgrund des Sturzes gekommen war und auf die Möglichkeit von Spontanfrakturen verwiesen. In rechtlicher Hinsicht haben sie die Ansicht vertreten, eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers komme nicht in Betracht. Sie haben ferner die Schadenfolgen bestritten und sind den Schmerzensgeldvorstellungen des Klägers entgegengetreten.

Das Landgericht hat zu der Ursache der Unterschenkelfrakturen sowie zu ihren Folgen ein chirurgisches Gutachten des Sachverständigen Priv.-Doz. Dr. R. eingeholt und den Sachverständigen angehört. Durch das am 1. Juni 2004 verkündete Urteil hat die Kammer der Klage stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10.500 EUR nebst beantragter Zinsen verurteilt.

Gegen die Entscheidung wenden sich die Beklagten mit der Berufung. Sie rügen eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Im einzelnen beanstanden sie unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages die Annahme einer für den Sturz verantwortlichen Pflichtverletzung und machen geltend, das Landgericht sei insoweit zu Unrecht von einer Beweislastumkehr ausgegangen und habe ihnen den Nachweis eines ordnungsgemäßen Vorgehens auferlegt. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH sind die Beklagten der Auffassung, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um die Situation eines von dem Therapeuten voll beherrschbaren Risikos gehandelt habe. Im übrigen meinen sie, das Landgericht sei zu Unrecht von einer Ursächlichkeit des Sturzes für die eingetretenen Frakturen ausgegangen. Sie machen geltend, das Landgericht habe hierzu zu Unrecht einen Anscheinsbeweis angenommen. Sie berufen sich im übrigen erneut auf ein Mitverschulden des Klägers und sind der Auffassung, dass das zuerkannte Schmerzensgeld übersetzt sei.

Die Beklagten beantragen,

das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 1. Juni 2004 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt unter Vertiefung seines erstinstanzliches Sachvortrages die Entscheidung des Landgerichts.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung am 25. April 2005 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen M. H., A. N. und G. K. sowie durch Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. R. Ferner hat der Senat eine schriftliche Aussage der Zeugin J. H. eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet. Dem Kläger steht der von dem Landgericht zuerkannte Schmerzensgeldanspruch nicht zu; denn die Beklagten sind für den Sturz des Klägers am 19. November 2002 und dessen Folgen entgegen der Auffassung des Landgerichts haftungsrechtlich nicht verantwortlich.

Es steht aufgrund der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme zwar fest, dass es bei dem Kläger in Folge des Unfallereignisses zu den beiderseitigen Unterschenkelfrakturen gekommen war. Für diese Feststellung bedarf es entgegen der Handhabung durch das Landgericht keiner Anwendung der Grundsätze des sog. Anscheinsbeweises; die Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. R. hat nämlich ergeben, dass das Vorliegen von Spontanfrakturen, wie die Beklagten behaupten, letztlich auszuschliessen ist und ernsthaft keine andere Ursache als der Sturz des Klägers für seine Verletzungen in Betracht kommt.

Den Beklagten sind allerdings bei der physiotherapeutischen Betreuung des Klägers für das Unfallereignis verantwortliche Fehler oder eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht vorzuwerfen.

1. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann alleine aufgrund des Umstandes, dass der Kläger im Rahmen der am 19. November 2002 unter Anleitung der Beklagten zu 2) erfolgten Gehübung zu Fall kam, nicht schon eine objektive Verletzung der Verpflichtung der Beklagten, ihren Patienten vor Schäden zu bewahren, festgestellt werden. Es ist in der Rechtsprechung zwar anerkannt, dass eine von dem Landgericht für gerechtfertigt angesehene Beweislastumkehr zugunsten des geschädigten Patienten (auch) den Nachweis eines objektiven Pflichtenverstoßes des Schuldners umfassen kann, wenn der Geschädigte - wie hier - im Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist und wenn sich der Schaden aus einem Risiko ergeben hat, das von dem tätigen Personal hätte voll beherrscht werden können (BGH NJW 1991, 1540).

Auch wenn man davon ausgeht, dass diese Grundsätze in dem vorliegenden Fall der physiotherapeutischen Rehabilitation Anwendung finden können, weil - was nach Auffassung des Senates indes zweifelhaft erscheint, letztlich aber keine Entscheidung erfordert - sich die im Rahmen einer solchen Behandlung mit den entsprechenden Übungen für den Patienten ergebenden Risiken von dem Behandler regelmäßig voll beherrscht werden können, bedarf es angesichts der hier - mit Ausnahme der Gangrichtung des Klägers - in den wesentlichen Punkten unstreitigen Vorgänge, die zu dem Unfallereignis führten, einer sachverständigen Beurteilung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang den Beklagten bei der Anordnung oder der Durchführung der Gehübungen am Gehbarren unter Berücksichtigung des anzuwendenden Standards tatsächlich Versäumnisse anzulasten sind. Denn nur in diesem Fall kann ihnen eine Verletzung ihrer dem Patienten gegenüber obliegenden Pflichten vorgeworfen werden. Die Entscheidung des Landgerichts, das sich mit dieser Frage nicht befasst hat, blendet die erforderliche Beurteilung des tatsächlichen Geschehens unzulässigerweise aus.

2. Die vor dem Senat insbesondere durch die Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. R. durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, dass den Beklagten bei der Behandlung des Klägers keine Fehler anzulasten sind und dass sie insbesondere nicht für das Sturzereignis am 19. November 2002 verantwortlich gemacht werden können.

Die Beklagte zu 2) durfte die Gehübung, in deren Folge der Kläger zum Sturz kam, mit ihm durchführen. Ihr ist auch nicht vorzuwerfen, erforderliche Sicherungsmaßnahmen unterlassen zu haben.

a) Die Beklagte zu 2) hat im Verhandlungstermin im einzelnen und von dem Kläger nicht widersprochen dargestellt, dass er bereits geraume Zeit vor Beginn der Übungen am Gehbarren durch ein entsprechendes Training eine Stärkung der Hüft- und Beinmuskulatur erfahren hatte und damit (erst) in die Lage versetzt wurde, das Gehtraining zu absolvieren. Ausweislich der insoweit von ihm nicht mehr in Frage gestellten Dokumentation der Beklagten erfolgte die Gangschule sodann ab 5. August 2002. Außer den von dem Kläger selbst zugestandenen vier Übungen in der Zeit von August bis September 2002 sieht der Senat es aufgrund der weiteren Eintragungen in der Behandlungskartei, wo unter den jeweiligen Daten die Durchführung von Mobilitätsbehandlungen vermerkt ist, als bewiesen an, dass weitere vier Übungen am Barren im September 2002 und sechs Übungen im Oktober 2002 erfolgt waren. Die Darstellung des Klägers, es habe sich hierbei nicht um Gehübungen am Barren gehandelt, ist durch die Aussage der Zeugin K. widerlegt, die als Angestellte des Beklagten zu 1) sicher war, den Kläger mindestens sechs- bis achtmal während ihrer Tätigkeit in der Praxis bei Übungen am Gehbarren gesehen zu haben.

b) Der Sachverständige Prof. Dr. R., der als Facharzt für Orthopädie über umfassende Kenntnisse zur Beurteilung der streitgegenständlichen physiotherapeutischen Übungen verfügt, hat das Vorgehen der Beklagten zu 2) unter Berücksichtigung der zunächst erfolgten Mobilisierung des Klägers und der vor dem Unfall bereits mehrfach erfolgten Gehübungen als in jeder Hinsicht einwandfrei beschrieben. Er hat deutlich gemacht, dass es dabei nicht ausschlaggebend auf die Darstellung der Ehefrau und der Tochter des Klägers sowie der Ärztin J. H. ankommt, wonach der Kläger vor dem Unfallereignis nicht in der Lage war, die Füße selbständig zu bewegen. Prof. Dr. R. hat überzeugend erläutert, dass maßgebend für die Indikation zur Durchführung der Gehübungen nicht die Beweglichkeit der unteren Extremitäten, sondern die Stärkung der Bauch- und Oberschenkelmuskulatur war, die durch die von der Beklagten zu 2) mit dem Kläger durchgeführten Übungen ohne Zweifel erreicht wurde. Dadurch war der Kläger in die Lage versetzt worden, sich aus eigener Kraft am Barren nach vorne zu schieben, auch wenn er seine Füße nicht selbständig bewegen konnte. Dass der Kläger bereits vor dem Unfallereignis in der Lage war, die Übungen am Barren selbständig zu absolvieren, belegt der Umstand, dass er sie mehrfach durchgeführt hat, ohne dass es Hinweise auf Schwächen des Klägers oder sonstige Probleme gibt.

c) Den Beklagten kann auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, keine weiteren Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Sturzes und/oder zur Minderung seiner Folgen ergriffen zu haben. Bei dem verwendeten Gehbarren handelte es sich um ein für entsprechende Übungen im Rahmen der physiotherapeutischen Rehabilitation vorgesehenes Gerät, das nach Darstellung des Sachverständigen mit der vorhandenen Konstruktion verwendet werden durfte. Prof. Dr. R. hat dabei deutlich gemacht, dass die bei den Übungen wichtigste Sicherungsmaßnahme für den Patienten seine hier zunächst erfolgte Mobilisation war. Damit war der Kläger in die Lage versetzt, sich trotz weiter vorhandener Lähmungserscheinungen im Bereich der unteren Gliedmaßen am Barren festzuhalten und selbständig zu bewegen. Einer intensiveren Hilfestellung bedurfte es nach Darstellung des Sachverständigen unter diesen Umständen nicht, abgesehen davon, dass - so seine Erläuterung - hierdurch der Sturz letztlich nicht hätte vermieden werden können. Es war ferner kein Versäumnis, den Boden des Gehbarrens nicht mit Matten abzudecken oder anderweitig zu sichern. Prof. Dr. R. hat im einzelnen erläutert, dass der Kläger zur Durchführung der Gehübungen eine glatte Fläche benötigte, die bei der - im übrigen nicht üblichen - Verwendung entsprechender Matten nicht gegeben gewesen wäre.

3. Einer von dem Kläger beantragten ergänzenden neurologischen Begutachtung bedarf es für die Entscheidung nicht; eine weitergehende Aufklärung der entscheidungserheblichen Fragen ist nach der erschöpfend erfolgten Beweiserhebung nicht erforderlich und wäre durch ein entsprechendes Gutachten auch nicht zu erwarten. Der Sachverständige Prof. Dr. R. hat die zum Zeitpunkt des Unfallereignisses bei dem Kläger vorhandenen Lähmungserscheinungen seiner unteren Extremitäten in seine Beurteilung einbezogen und ist dabei, wie dargestellt, zu dem Ergebnis gelangt, dass die durchgeführte Übung gestattet war, weil der Kläger zuvor in die Lage versetzt worden war, entsprechende Gehübungen zu absolvieren. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kläger, wie er behauptet, am Unfalltag erstmals zur Durchführung einer Übung zum Seitwärtsgehen aufgefordert wurde. Prof. Dr. R. hat angesichts des erörterten Übungsverlaufs keinen Zweifel daran gelassen, dass auch eine solche Übung statthaft war.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 11, 713 Satz 1 ZPO.

Die Beschwer des Klägers liegt unter 20.000 EUR.

Ende der Entscheidung

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