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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 19.07.2006
Aktenzeichen: 1 Ws 72/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 2
StPO § 116
StPO § 120
Die grundsätzliche Geltung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gem. § 120 StPO mit der Folge, dass ein erheblicher Verstoß dagegen der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegen stehen kann.
Gründe:

Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Der Angeklagte ist zwar der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 31.05.2005 nunmehr nach Maßgabe des - noch nicht rechtskräftigen - Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16.12.2005 vorgeworfenen Straftat der gefährlichen Körperverletzung dringend verdächtig.

Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils. Soweit der Angeklagte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hat, fehlen derzeit Anhaltspunkte für eine ihm günstige Prognose auf das Endergebnis.

Auch besteht gegen den Angeklagten auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidigerin im Schriftsatz vom 16.07.2006 weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Die nicht rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von 2 Jahren bietet unter Berücksichtigung der Anrechnung der bisher erlittenen, anrechenbaren Untersuchungshaft einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz. Der Anreiz, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der weiteren Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten, wird zudem noch dadurch verstärkt, dass der Angeklagte mit - noch nicht rechtskräftigem - Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 28.07.2005 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden ist (Az.: 3 KLs 4890 Js 233991/01). Des weiteren wurde er mit Urteil vom 09.08.2005 vom Amtsgericht Frankfurt am Main in den Verfahren 3240 Js 215038/03 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 2 Monaten verurteilt. Eine Haftentlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt erscheint in Ansehung dieser weiteren Verurteilung fraglich.

Es bestehen auch keine ausreichenden Bindungen, die geeignet wären, dem Fluchtanreiz entgegenzuwirken. Der Angeklagte ist afghanischer Staatangehöriger. Er ist ledig und geht keiner Berufstätigkeit nach. Er hat keinen festen Wohnsitz, gibt aber an, bei seinen Eltern nach seiner Entlassung wohnen zu können.

Unter diesen Umständen spricht bei der gebotenen Gesamtabwägung eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Angeklagte sich im Falle der Freilassung dem weiteren Verfahren nicht zur Verfügung halten wird.

Bei dieser Sachlage kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gem. § 116 StPO erreicht werden.

Gleichwohl sind die angefochtene Haftfortdauerentscheidung und der Haftbefehl nunmehr wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben.

Die grundsätzliche Geltung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gem. § 120 StPO mit der Folge, dass ein erheblicher Verstoß dagegen der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegen stehen kann, steht außer Streit (vgl. Meyer-Goßner, 49. Auflage, § 121 Rdnr. 8 m.w.N.; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.10.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluss vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluss vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm, Beschluss vom 02.11.1979, Az. 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552 - 553 und NStZ- RR 2000, 250-251). Dabei ist indessen nicht derselbe strenge Prüfungsmaßstab wie vor Erlass eines erstinstanzlichen Urteils bei der Prüfung eines "wichtigen Grundes" im Sinn des § 121 StPO anzulegen. Diese Regelung gilt vielmehr ausdrücklicher Normierung nach nur bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Für den Zeitraum danach verbleibt es bei der Geltung des § 120 StPO und somit der umfassenden Abwägung aller auch sonst für die Verhältnismäßigkeit maßgeblichen Gesichtspunkte. Gegeneinander abzuwägen sind danach auch das Gewicht der Straftaten und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens (ständige Rechtssprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 11.11.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluss vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluss vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm Beschluss vom 02.11.1979, Az. 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552-553 und NStZ RR 2000, 250-251).

Dabei vergrößert sich mit einer Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da auf Grund der gerichtlichen durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung der Straftaten durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung des Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der Strafe bis zur Überprüfung durch das nächst höhere Gericht, beseitigt aber nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, das auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005 - 2 BVR 109/05 - und Beschluss vom 29.12.2005 - 2 BVR 2057/05). Dieser Grundsatz rechtfertigt es jedoch nicht, dass der Verurteilte jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden kann. Die verhängte Freiheitsstrafe stellt grundsätzlich nur ein Indiz für das Gewicht der zu verfolgenden Straftaten dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.12.2005).

Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte regelmäßig, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen, wobei im Rahmen der Abwägung zu beachten ist, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (ständige Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. zuletzt Beschluss vom 29.12.2005).

Bei Beachtung dieser Grundsätze verstößt die Fortdauer der Untersuchungshaft nach den Umständen des vorliegenden Falls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(Vom Abdruck des folgenden Textes wurde aus datenschutzrechlichen Gründen abgesehen - die Red.)

Ein Termin zur Berufungshauptverhandlung ist derzeit noch nicht bestimmt.

(Vom Abdruck des folgenden Textes wurde aus datenschutzrechlichen Gründen abgesehen - die Red.)

Nach dem Akteninhalt und dem Inhalt der vorstehenden Erklärung ist für den Zeitraum nach Eingang der Akten beim Landgericht am 27.02.2006 eine sachlich nicht gerechtfertigte erhebliche Verfahrensverzögerung festzustellen.

Durch das bisherige Unterlassen der Terminierung der Hauptverhandlung ist eine erhebliche Verfahrensverzögerung eingetreten. Nach dem Eingang der Akten bei dem Landgericht Frankfurt am Main am 27.02.2006 hätte unverzüglich die Hauptverhandlung auf einen zeitnahen Termin anberaumt werden müssen. Daß dem die Terminslage der Kammer, insbesondere vorangig zu verhandelnde Haftsachen, entgegengestanden hätte, ist vom Kammervorsitzenden nicht geltend gemacht worden. Jetzt kann die Hauptverhandlung frühestens ab 28.08.2006 anberaumt werden. Dabei ist derzeit noch unsicher, ob die Hauptverhandlung an den vorgegeben Sitzungstagen tatsächlich stattfinden kann, da der Vorsitzende der 11. kleinen Strafkammer in seiner Stellungnahme vom 17.7.2006 mitgeteilt hat, dass keiner der von ihm vorgesehen Termine mit den (4) Verteidigern abgesprochen ist. Selbst bei Unterstellung des Beginns der Hauptverhandlung Ende August und Veranschlagung einer angesichts der i.d.R. hohen - hier aber nicht geltend gemachten - Belastung der Kammer üblicherweise noch hinzunehmenden Zeitspanne von bis zu drei Monaten zwischen Eingang der Akten bei der Berufungskammer und dem Beginn der Hauptverhandlung ist damit bisher bereits eine Verzögerung von 3 Monaten festzustellen.

Diese ist sachlich nicht gerechtfertigt.

Außer Ansatz zu bleiben hat dabei, dass sowohl die aktuellen Bundeszentralregisterauszüge hinsichtlich aller Angeklagten am 21.03.2006 und am 28.4.2006 als auch jeweils nach deren Eingang die darin aufgeführten Vorstrafenentscheidungen angefordert und auf deren Eingang zugewartet wurde. Für die Terminierung und Vorbereitung der Hauptverhandlung, die zeitnah nach Eingang der Akten bei dem Landgericht hätte erfolgen müssen, war die Kenntnis der Vorstrafenentscheidungen nicht vorgreiflich.

(Vom Abdruck des folgenden Textes wurde aus datenschutzrechlichen Gründen abgesehen - die Red.)

Die damit erhebliche sachlich nicht gerechtfertigte Verfahrensverzögerung führt bei Berücksichtigung des nach der neueren Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22.02.2005 - 2 BVR 109/05 - 29.11.2005 - 2 BVR 1737/05 - 05.12.2005 - 2 BVR 1964/05 - und 29.12.2005 -2 BVR 2057/05 -) anzulegenden schärferen Maßstabes an die Beschleunigung zur Aufhebung des Haftbefehls. In Ansehung des Gewichts der abgeurteilten Tat, einer gefährlichen Körperverletzung, der Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und der bisher verbüßten Untersuchungshaft von mehr als 13 Monaten sowie des dargelegten Ausmaßes der Verfahrensverzögerung und des Grades des die Justiz hieran treffenden Verschuldens - die Verzögerung wäre ohne weiteres vermeidbar gewesen - führt die vorzunehmende Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Verfolgungsanspruch dazu, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft als nicht mehr verhältnismäßig anzusehen ist.

Ende der Entscheidung

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