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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 24.05.2005
Aktenzeichen: 14 U 168/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
1. Zur Frage der des Ursachenzusammenhangs des Sturzes eines Altenheimbewohners mit einer schuldhaften Pflichtverletzung des Pflegepersonals

2. Zur Frage, welche konkreten Obhutspflichten der Heimleiter zum Schutz der Heimbewohner treffen muss


Gründe:

Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte als Betreiber eines Altenpflegewohnheims verpflichtet ist, für die Behandlungskosten einer Verletzung (supracondyläre Femofraktur) aufzukommen, die eine seiner Heimbewohnerinnen anlässlich eines Sturzes erlitten hat. Wegen des Sachverhalts wird auf die ausführliche Darstellung in dem erstinstanzlichen Urteil vom 27.04.2004 (Bd. II Bl. 36 - 50 d. A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass - unabhängig von einer etwaigen Rechtspflicht des Beklagten zum Handeln - nicht festgestellt werden könne, dass es bei Vornahme der unterbliebenen Handlungen (Lichtschutzschranken, Sensormatratzen, Klingel, Gitter und Hüfthosen), nicht zu dem Sturz gekommen wäre. Lichtschutzschranken und Sensormatratzen seien von vornherein nicht geeignet, einen Sturz des Heimbewohners, der selbständig aufstehe oder unwillkürlich falle, zu verhindern. Gleiches gelte für eine Klingel, deren Einsatz vom Willen des jeweiligen Heimbewohners abhänge, und daher nicht verhindern könne, wenn dieser ohne fremde Hilfe aufstehen wolle.

Betreffend die Einrichtung eines Bettgitters sei bereits zweifelhaft, ob eine entsprechende Rechtspflicht des Beklagten bestanden habe, weil die Heimbewohnerin ausweislich der Pflegedokumentation bereits versucht hatte, nachts über das Gitter zu steigen. Ein derart hohes Gitter, das ein Überklettern physisch ausschließe, käme einem Eingesperrtsein gleich und wäre mit dem Freiheits- und Selbstbestimmungsrecht des Bewohners nicht vereinbar. Darüber hinaus könne auch nicht angenommen werden, dass ein Bettgitter den Sturz vermieden hätte, weil dieses wegen der Gefahr des Überkletterns lediglich dazu geeignet sei, den schlafenden Heimbewohner vor einem Sturz durch unwillkürliche Bewegungen im Schlaf zu bewahren.

Zuletzt könne auch nicht angenommen werden, dass Hüfthosen den eingetretenen Schaden verhindert hätten. Insoweit sei bereits unklar, ob Frau A tatsächlich derartige Hosen getragen hätte, da diese, wovon sich die Kammer nach einer Inaugenscheinnahme überzeugt habe, relativ unbequem seien. Die Akzeptanz von Hüfthosen liege nach dem Vorbringen der Klägerin bei circa 75 % der Heimbewohner. Darüber hinaus habe die Klägerin selbst vorgetragen, dass die Gefahr, einen Oberschenkelhalsbruch zu erleiden, bei dem Einsatz von Hüfthosen lediglich bis zu 90 % verringert sei, so dass zwar die Möglichkeit bestehe, dass die Verletzungsfolgen vermieden worden wären, hätte der Beklagte Frau A das Tragen einer Hüftschutzhose angesonnen, entsprechendes jedoch nicht festgestellt werden könne.

Der fehlende Nachweis der Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden gehe zu Lasten des Beklagten. Eine Umkehr der Beweislast unter dem Gesichtspunkt, dass sich der Unfall in dem Heim des Beklagten ereignet habe, sei nicht geboten.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die dem Landgericht eine falsche Fragestellung vorwirft und die Auffassung vertritt, dass den Beklagten die Darlegungs- und Beweislast dafür treffe, dass er den zu stellenden Sicherungsanforderungen genügt habe.

Zudem, so meint die Klägerin, sei es von dem Beklagten grob fahrlässig gewesen, die Versicherungsnehmerin der Klägerin ihre Mittagsruhe auf dem Sofa und nicht im Bett verbringen zu lassen, nachdem diese in den vergangenen Monaten in den Nachmittagsstunden wiederholt gestürzt und zeitweise verwirrt und desorientiert gewesen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 04.08.2004 und 30.03.2005 (Bd. II Bl. 57 - 64 und 115 - 123 d. A.) Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 27.04.2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie 5.005,04 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus 4.194,40 € nebst weiterer 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus 810,64 € seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und behauptet, es sei sowohl mit der Tochter von Frau A sowie mit deren Betreuerin und deren Hausarzt besprochen worden, ob eine dauerhafte Fixierung vorgenommen werden sollte, was diese einhellig abgelehnt hätten. Auch habe Frau A sich geweigert, mittags ins Bett zu gehen, und darauf bestanden, ihre Mittagsruhe auf dem Sofa zu verbringen. Da sie einen sehr eigenen Willen habe und gelegentlich alleine aufgestanden sei, habe man den Sessel und den Couchtisch vor das Sofa gestellt. Der Beklagte ist der Auffassung, er habe den Willen der Frau A respektieren müssen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 01.10.2004 (Bd. II Bl. 94 - 111 d. A.) Bezug genommen.

Die Berufung ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, mithin zulässig. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung gemäß § 546 ZPO, noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung, § 513 ZPO.

Das Landgericht hat zu Recht einen Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung des Pflegeheimvertrages oder aus unerlaubter Handlung in Verbindung mit § 116 Abs. 1 SGB X verneint. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann nicht angenommen werden, dass der in Rede stehende Unfall auf einer Pflichtverletzung des Beklagten beruht. Nach der jüngsten Entscheidung des BGH vom 28.04.2005 - III ZR 399/04 - kann allein aus dem Umstand, dass eine Heimbewohnerin im Bereich des Pflegeheims gestürzt ist und sich hierbei verletzt hat, nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals des Heimbetreibers geschlossen werden. Diese Entscheidung ist richtig. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin eingereichten Entscheidung des OLG Dresden vom 23.09.2004 (Bd. II Bl. 124 ff. d. A.). Vielmehr stellt das OLG Dresden eine Pflichtverletzung aufgrund des konkreten Sachverhalts positiv fest und bejaht lediglich in Bezug auf die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Schaden eine Umkehr der Beweislast. Es kann dahin stehen, ob diese auf die Entscheidung des BGH (VersR 1991, 310; Bd. I Bl. 154) gestützte Auffassung zutreffend ist. Denn nach den Umständen des zur Entscheidung stehenden Vorfalls kann eine Pflichtverletzung des Beklagten nicht festgestellt werden.

Welche konkreten Obhutpflichten den Heimbetreiber zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des ihm anvertrauten Heimbewohners treffen, richtet sich nach den Erfordernissen des Einzelfalls unter Berücksichtigung und Beachtung des natürlichen Willens des Bewohners sowie seiner Menschenwürde, wobei die Pflichten begrenzt sind auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind.

Ausgehend von diesen Grundsätzen kann eine Pflichtverletzung des Beklagten im Hinblick auf die Bewohnerin A nicht angenommen werden.

Wie bereits das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, sind Video- sowie Sensorenüberwachung untaugliche Mittel, einen Sturz zu verhindern. Gleiches gilt im Hinblick auf die Zurverfügungstellung einer Klingel, die ein eigenmächtiges alleiniges Aufstehen des Heimbewohners sowie ein unwillkürliches Fallen nicht verhindern kann.

Ebenso wenig war der Beklagte verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Bett-gitter hochgefahren werden. Anders als in dem vom Oberlandesgericht Dresden zu entscheidenden Sachverhalt war Frau A in den hervorgehenden Monaten lediglich einmal am 02.06.2002 auf dem Fußboden vor dem Bett vorgefunden worden, also offenbar aus dem Bett gefallen oder beim Aufstehen gestürzt. Die übrigen dokumentierten fünf Stürze von Mai bis August 2002 hatten sich in der Nachmittagszeit ereignet, also zu Zeiten, in denen sich Frau A nicht im Bett befand. Die Anbringung eines Bettgitters während der Schlafenszeit war daher aufgrund der Vorgeschichte nicht angezeigt und hätte zudem den in Rede stehenden Unfall zur Mittagszeit nicht verhindern können.

Die nachmittäglichen Stürze, die entweder durch eigenmächtiges Aufstehen oder aber durch unwillkürliches Herabfallen von dem jeweiligen Sitz- oder Liegemöbel eingetreten sind, hätten allenfalls durch eine dauernde personelle Überwachung oder aber durch eine Permanentfixierung entweder sitzend im Rollstuhl oder liegend im Bett / auf dem Sofa verhindert werden können. Ersteres, nämlich die permanente persönliche Betreuung eines sturzgefährdeten Heimbewohners, ist mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand nicht mehr realisierbar und geht über die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen deutlich hinaus, so dass sie von dem Beklagten nicht verlangt werden kann.

Als einzige Erfolg versprechende Maßnahme bleibt daher die durchgehende Fixierung der Bewohnerin, und zwar sowohl sitzend als auch liegend, um eigenmächtige Aufstehversuche sowie ein unwillkürliches Hinabfallen von Sitz- oder Liegemöbel zu vermeiden. Ob Frau A einer derartigen Maßnahme zugestimmt hätte, erscheint in Anbetracht der zur Akte gereichten Dokumentation, wonach sie sich vorbehalten hat, über die Anbringung des Bettgitters jeweils selbst zu entscheiden, zweifelhaft. Entsprechendes wird von der Klägerin auch nicht behauptet. Soweit die 6. Zivilkammer des Landgerichts Kassel in ihrer von der Klägerin eingereichten Entscheidung vom 06.12.2004 - 6 O 1849/03 - (Bd. II Bl. 138 ff. d. A.) ausgeführt hat, die Heimbetreiberin hätte zunächst das Gespräch mit der Versicherungsnehmerin selbst suchen und diese auf die Notwendigkeit der Benutzung der Klingel hinweisen müssen, gegebenenfalls eine Anordnung des Vormundschaftsgerichts betreffen die Anbringung eines Bettgitters und eine Videoüberwachung veranlassen und eine Überwachung durch das Pflegepersonal intensivieren müssen, vermag sich der Senat dieser Argumentation nicht anzuschließen. Es handelt sich - wie bereits zuvor ausgeführt - überwiegend um Maßnahmen, die nicht geeignet sind, der Sturzgefahr eines Heimbewohners zu begegnen. Allein der Umstand, dass der Beklagte Frau A nicht angesonnen hat, eine dauerhafte Fixierung in Betracht zu ziehen, sowie die hiermit verbundene Möglichkeit, dass Frau A dem zugestimmt haben könnte, reicht für die Bejahung einer Haftung nicht aus. In Anbetracht der mit einer Fixierung verbundenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Heimbewohner "vorschlagsgerecht" verhalten und einer dauerhaften Fixierung zur Vermeidung gelegentlicher Stürze zugestimmt hätte. Dies gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass Frau A objektiv kaum bis nicht mehr in der Lage war, allein aufzustehen. Maßgeblich für die Entscheidung des Einzelnen ist der subjektive Bewegungswille, der offenbar bei Frau A vorhanden war, was sich daran zeigt, dass sie dem Einsatz eines Bettgitters nur teilweise zugestimmt hat. So ist unstreitig, dass sich Frau A im Heim noch bewegt hat, ohne dass immer eine Begleitung durch Pflegepersonal erforderlich war.

Daher kommt es letztlich darauf an, ob der Beklagte verpflichtet war, eine dauerhafte Fixierung durch eine entsprechende Anordnung des Vormundschaftsgerichts gegen den Willen der Frau A durchzusetzen. Eine solche Pflicht ist nach Auffassung des Senats in Anbetracht der konkreten Umstände, insbesondere des Zustands der Frau A, zu verneinen. Aus dem Gutachten des medizinischen Dienstes vom 06.10.1999, mit welchem Frau A in die Pflegestufe II eingestuft worden ist, ergibt sich ein deutlich reduzierter Allgemeinzustand sowie eine schwere funktionelle Einschränkung des Stütz- und Bewegungsapparates mit der Folge, dass beim Aufstehen Hilfe erforderlich ist und ein Gehen mit Gehstock nur sehr unsicher möglich sei. Zudem leidet Frau A unter einer zeitweisen Verwirrtheit, ist aber, wie sich aus der Verlaufsdokumentation des Beklagten ergibt, nicht völlig desorientiert und in der Lage, an den täglich notwendigen Verrichtungen teilzunehmen (Auswahl der Kleidung, Körperpflege), sowie mit anderen Heimbewohnern zu kommunizieren und sich teilweise auch ohne Begleitung mit dem Rollator fortzubewegen. Solange ein Mensch noch teilweise bewusstseinsklar seine Umwelt erlebt, an dieser teilnimmt und eigene nachvollziehbare Wünsche äußert und umsetzen möchte, wie beispielsweise Spazieren gehen sowie das Aufsuchen bestimmter Orte und Plätze zum Zwecke der Kommunikation, ist es mit der Menschenwürde und dem Persönlichkeitsrecht eines Altenheimbewohners nicht vereinbar, zwangsweise eine Fixierung und damit eine vollständige Einschränkung seiner persönlichen Bewegungsfreiheit vorzunehmen. Eine derartige Maßnahme wäre allenfalls bei einer besonderen Selbstgefährdung eines Heimbewohners gerechtfertigt, wenn dieser beispielsweise täglich eigenmächtige Aufstehversuche durchführen und hierbei regelmäßig zu Fall kommen würde, weil der Zustand seines Stütz- und Bewegungsapparates keinerlei eigene Fortbewegung mehr erlaubt. Gelegentliche Stürze im Zusammenhang mit alleinigem Aufstehen und Gehen, wie vorliegend, rechtfertigen demgegenüber einen derartigen Eingriff in die persönliche Freiheit nach Auffassung des Senats nicht.

Soweit die Klägerin das Tragen einer sogenannten Hüftschutzhose angesprochen hat, hat es bei den landgerichtlichen Ausführungen zu verbleiben. Insoweit hätte die Klägerin darlegen und unter Beweis stellen müssen, mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit Verletzungen, wie sie Frau A erlitten hat, durch das Tragen dieser Schutzvorrichtung zu verhindern gewesen wären.

Die Berufung ist daher mit der sich aus § 97 Abs. 1 ZPO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die maßgeblichen Rechtsfragen in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. April 2005 III ZR 399/04 - bereits höchstrichterlich entschieden worden sind und der Senat entsprechend den in dieser Entscheidung aufgestellten Grundsätzen eine Einzelfallwürdigung vorgenommen hat.

Ende der Entscheidung

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