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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 23.08.2006
Aktenzeichen: 2 Ausl A 36/06
Rechtsgebiete: EuMRK


Vorschriften:

EuMRK Art. 6
Zu den Gründen, die einer Auslieferung eines Verfolgten in die Türkei unter dem Blickwinkel von Art. 6 EuMRK entgegenstehen können.
Gründe:

Die Türkei ersucht um die Auslieferung des Verfolgten zur weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus einem Urteil des Staatlichen Sicherheitsgerichts in O2 vom 10.12.1996.

Der Senat hat mit Beschluss vom 11. April 2006 die vorläufige und mit Beschluss vom 23. Mai 2006 die förmliche Auslieferungshaft angeordnet. Der Verfolgte ist mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden.

Es ist daher über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden.

Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat beantragt, die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zur weiteren Vollstreckung der Strafe aus dem oben angeführten Urteil für zulässig zu erklären.

Der Verfolgte beantragt über seine Beistände, die Auslieferungshaft für unzulässig zu erklären.

Der Antrag des Verfolgten hat Erfolg.

Mit der Entscheidung vom 10.12.1996 verurteilte das Staatliche Sicherheitsgericht in O2 den Verfolgten wegen Mitgliedschaft in der illegalen terroristischen Vereinigung TKPML-TIKKO zum Tode, verwandelte die Freiheitsstrafe wegen des Geständnisses des Angeklagten aber zugleich in eine lebenslange Zuchthausstrafe um. Das Gericht befand den Verfolgten für schuldig, im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der TKPML-TIKKO folgende Taten begangen zu haben:

- Ende des Jahres 1992 Erpressung von 2,5 Mio. Türkische Lira für die TKPML-TIKKO von dem Restaurantbetreiber B in 01. Dabei bedrohte ein Mittäter bei dem zweiten Aufsuchen des Restaurants den Betreiber mit einer durchgeladenen Pistole.

- Am 05.01.1993 Abfeuern von sieben Kugeln auf ein Fahrzeug des Unternehmens C, in dem sich die Eigentümer des Unternehmens D und F befanden. Den Eigentümern wurde vorgeworfen, Gehälter von Mitarbeitern nicht gezahlt und unbegründete Kündigungen ausgesprochen zu haben. Der Überfall sollte der Abschreckung dienen.

- Am 12.01.1993 Inbrandsetzen des Kfz des Leiters des Gymnasiums in O1, E. Das Inbrandsetzen erfolgte im Auftrag der TKPML-TIKKO zur "Bestrafung" des Direktors, da dieser linksgerichtete Schüler unterdrückt haben soll.

- Am 02.03.1993 bewaffneter Raubüberfall auf die Filiale der ...-Bank in 03, um Geld für die TKPML-TIKKO zu beschaffen. Dabei überwältigten der Verfolgte und die damaligen Mitangeklagten, die jeweils Waffen mit sich führten, den Taxifahrer G, fesselten und knebelten ihn. Dann packten sie den Taxifahrer in den Kofferraum des Taxis und fuhren mit diesem Fahrzeug zu der Bankfiliale. Dort betraten sie die Bank, wobei der Verfolgte eine Waffe der Marke Browning (144) mit sich führte. Er setzte einen Bankangestellten außer Gefecht, während ein Mittäter Bargeld in Höhe von 36.845.000 Mio. türk. Lira, 800,00 DM, Schuldscheine im Wert von 1 Mrd. 770 Mio. türk. Lira, sowie Wertmarken im Wert von 260.000 türk. Lira an sich nahm, wobei er den Fuß des Buchhalters H durch einen Schuss verletzte. Beim Verlassen der Bank schossen die Täter um sich und verletzten den vor der Bank stehenden Gendarmen I lebensgefährlich. Der wartende Mittäter konnte das Fahrzeug nicht starten, deshalb floh der Verfolgte mit den Mittätern zu Fuß. Sie lieferten sich mit verfolgenden Sicherheitskräften einen Schusswechsel. Er und der Mittäter J konnten sogleich, der Mittäter K etwas später und der Mittäter L am nächsten Tag festgenommen werden.

Das Staatliche Sicherheitsgericht stützte seine Feststellungen u. a. auf:

- Die "glaubhaften" Aussagen (Geständnisse) der Angeklagten vor der Polizei der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter

- Die Festnahme der Verfolgten auf der Flucht unmittelbar nach dem Banküberfall, wobei bei dem Verfolgten und dem Mittäter J zwei Pistolen der Marke Browning, eine dem Sicherheitsangestellten der Bank entrissene Pistole der Marke Cirikale, erbeutetes Geld und Dokumente sichergestellt wurden.

- Aussagen des Bankangestellten M

- Diverse Zeugenaussagen

- Sachverständigengutachten über die sichergestellten Waffen und aufgefundenen Patronenhülsen

- Identifizierung des Verfolgten und der Mittäter durch die Bankangestellten und den Taxifahrer

- Aussage des Gendarmen N

- Aussage des Restaurantbetreibers B und dessen Identifizierung des Verfolgten mittels Fotos.

Der Verfolgte war seit der Festnahme nach dem Banküberfall in O3 am 02.03.1993 inhaftiert gewesen, zunächst in Untersuchungshaft und nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Staatlichen Sicherheitsgerichts in O3 vom 10.12.1996 in Strafhaft.

Im Jahr 2002 traten in der Türkei eine Vielzahl von Häftlingen - unter ihnen der Verfolgte - in einen Hungerstreik, der von der TKPML-TIKKO initiiert worden war und von ihr propagandistisch begleitet wurde. In entsprechenden Berichten wurde auch der Verfolgte als Teilnehmer angeführt und auch abgelichtet.

Wegen seines Gesundheitszustandes infolge des Hungerstreiks wurde dem Verfolgten im März 2002 eine Haftunterbrechung von sechs Monaten gewährt, die er zur Flucht in die Bundesrepublik nutzte. Die Flucht wurde von der TKPML-TIKKO organisiert.

In der Bundesrepublik wurde sein Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter rechtskräftig abgelehnt, ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in die Türkei dagegen festgestellt.

Anlässlich einer Anzeige des ... O4 wegen des Verdachts eines Ladendiebstahls stellte die Polizeistation O4 fest, dass eine Fahndungsnotierung hinsichtlich des Verfolgten vorlag.

Er wurde auf Grund der Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft durch den Senat am 03. 05.2006 festgenommen und inhaftiert.

Nach Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft begann der Verfolgte in der JVA 05 am 25. Mai 2006 wiederum einen Hungerstreik, der zunächst zur Verlegung auf die Krankenstation dieser Anstalt und am 17. Juni 2006 zur Verlegung in das Zentralkrankenhaus der JVA 06 führte.

Im Auftrag des Senats erstattete der Facharzt für Psychiatrie, Herr A, ein psychiatrisches Gutachten, das in der Zusammenfassung und Bewertung u. a. zu folgenden Feststellungen kam:

"Weder die fachärztlichen Untersuchungsergebnisse in der JVA O5 noch die Beobachtungsergebnisse gewonnen im Verlauf seines bisherigen Aufenthalts bei uns, als auch meine Erkenntnisse anlässlich der mit Herrn X geführten diagnostischen Gespräche ergaben Hinweise für das Vorliegen bei ihm eines hirnorganischen Psychosyndroms. Er ist aktuell bewusstseinsklar, allseits orientiert, in seinen Vorhaben und Verhaltensweisen, die als sinnvoll erkennbar sind, zielstrebig und konsequent. Insbesondere sein vorsorgliches Verhalten bei der Nahrungsverweigerung spricht für seine Fähigkeit, aus der Erfahrung zu lernen.

Ein Wernicke-Korsakow-Syndrom kann derzeit bei Herrn X ausgeschlossen werden. Den Hungerstreik betrachte ich als Zweckverhalten. Aktuell ist Herr X noch haftfähig, allerdings unter stationärer ärztlicher Beobachtung. Seine Behandlungsbedürftigkeit beschränkt sich in zukünftig auf die Folgen (Auswirkungen) seiner Protesthaltung."

In den folgenden Berichten des Leiters der Justizvollzugsanstalt wird der Gesundheitszustand - soweit beurteilbar - als zufriedenstellend und stabil bezeichnet. Der Verfolgte nahm weiterhin Tee mit Zucker und Vitamin B1 zu sich, gegenüber dem Pflegepersonal erklärte er, er sei krank, dem Leiter des Zentralkrankenhauses , Herrn Dr. P, dagegen verneinte er gesundheitliche Beschwerden. Der Arzt konnte auch keine Krankheitssymptome erkennen. Anlässlich von Besuchen verhielt sich der Verfolgte den Berichten nach lebhaft und "führte die Diskussion".

Der Verfolgte macht geltend, das Urteil des Staatlichen Sicherheitsgerichts sei falsch und durch Folter zustande gekommen.

Nach den Ausführungen in dem Urteil hat der Verfolgte vor dem Staatssicherheitsgericht bestritten, Mitglied der TKPML-TIKKO und an einer der ihm vorgeworfenen Straftaten beteiligt gewesen zu sein. Das Geständnis vor der Polizei und der Staatsanwaltschaft seien nach mehrfacher schwerster Folter zustande gekommen. Während seiner Aussage vor dem Untersuchungsrichter habe ein Polizeibeamter neben ihm gestanden, und er habe Angst vor weiterer Folter gehabt.

Das Staatliche Sicherheitsgericht wertete diese Einlassung des Verfolgten in der Hauptverhandlung als Schutzbehauptung, da bei einer ärztlichen Untersuchung keine Anzeichen für Folter gefunden worden waren, die Angaben sämtlicher Angeklagten vor der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter übereinstimmten, zahlreichen Details enthielten und die übrigen Beweismittel -die oben auszugsweise angeführt wurden- die Geständnisse bestätigten.

In dem Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigter und in dem Auslieferungsverfahren hat der Verfolgte mehrfach ausgeführt, er sei durch schwerste, langandauernde Folter zu den Geständnissen gezwungen worden. Er habe die Straftaten nicht begangen. Zu der Inhaftnahme unmittelbar nach dem Banküberfall auf der Flucht erklärte er in seinen von ihm selbst unterzeichneten zusätzlichen Angaben zu seinem Asylantrag vom 01.11. 2002, er sei zu diesem Zeitpunkt zu Verwandten nach O7 gefahren und sei zusammen mit seinem Verwandten Q in der Kreisstadt O3 spazierengegangen. Polizeibeamte hätten sie angehalten, mitgenommen und zu einer Stelle gebracht, wo sie einer Gruppe von Menschen als Terroristen präsentiert worden seien. Dann hätte man sie auf das Polizeipräsidium geschleppt und ihnen den Banküberfall vorgeworfen. Er hätte dies abgestritten und dann sei es zu den schwersten Folterungen gekommen. In einem Schreiben, das der Verfolgte unter dem 03.08.1993 an den Vorsitzenden des Staatlichen Sicherheitsgerichts aus der Haft heraus gerichtet hatte, beschreibt er diesen Vorgang dagegen wie folgt:

"Um auf Baustellen zu arbeiten, bin ich zunächst nach O8 gegangen. Als ich dort keine Arbeit gefunden habe bin ich auf Rat eines Freundes nach O3 gegangen. Als ich durch O3 ging, wurde ich plötzlich (überstürzt), ohne zu verstehen worum es ging, seitens der Gendarmerie aufgrund Verdachts festgenommen. Als ich auf der Wache war, hat man mich unter Zwang und Folter dazu gebracht, einen Banküberfall, mit dem ich rein gar nichts zu tun hatte, zu akzeptieren. Sie haben mich bedroht, damit ich bei der Staatsanwaltschaft aussagte, habe ich es, weil ein Polizist neben mir war und ich Angst vor der Folter hatte, akzeptiert, obwohl ich gar keinen Bezug (zu der Sache hatte)."

Der Verfolgte hat auch vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht und in einigen Erklärungen im Asylanerkennungsverfahren bestritten, Mitglied der TKPML-TIKKO gewesen zu sein.

In einem von ihm im Asylanerkennungsverfahren vorgelegten Schreiben vom 03.08.1993 an den Vorsitzenden des Staatlichen Sicherheitsgerichts in O2 führt er dazu wörtlich aus:

"Des weiteren stehe ich mit keiner Organisation in Verbindung. Ich habe überhaupt keinen Kontakt zu der Organisation TKPML-TIKKO. Diesen Namen habe ich zum ersten Mal auf der Wache gehört."

In dem selbst unterzeichneten Schriftstück "zusätzliche Angaben zum Asylantrag" vom 01.11.2002 erklärt er hingegen:

"Weil ich auf kurdischem Boden gelebt habe, musste ich menschenunwürdige Behandlungen in der Praxis erleben und erfahren. Ich lernte die Partei TKP(ML) kennen, die in unserem Gebiet tätig war. Was diese Partei von anderen Organisationen unterscheidet, ist der Umstand, dass in dieser Partei neben radikalen, auch friedliche und demokratische Gesinnungen herrschen. Weil ich nie daran geglaubt habe, dass mit Gewalt und Waffeneinsatz Erfolge erzielt werden, setzte ich in meinem Kampf auf friedliche Mittel. Um gegen den willkürlichen Terror des Staates zu protestieren, habe ich der Bevölkerung Flugblätter und Zeitschriften verteilt. Um die Bevölkerung zu organisieren, habe ich versucht, Komitees zu gründen. Ich habe an demokratischen Aktionen teilgenommen und diese mitorganisiert."

Dem entsprechen seine Angaben in der Anhörung gem. § 25 AsylVerfG am 22.10.2002 in O9 in dem Asylanerkennungsverfahren, in der er auf die Frage, ob ihm jemand bei der Flugreise geholfen habe, u. a. angab:

"Meine politische Organisation hat meine Ausreise vorbereitet. Damit meine ich die Organisation TKPML-TIKKO, für die ich verurteilt wurde.

Es hat mich auch jemand empfangen von meiner Organisation, mein Bild wurde ihm zugefaxt, er wusste, wie ich aussehe, und ihm habe ich die Unterlagen gegeben, als Zeichen hatte ich auch meine Zeitung unter dem Arm."

Weiterhin hat der Verfolgte in dem Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigter in der Sitzung der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main auf Befragen der Vorsitzenden u. a. erklärt:

"Die Zeugenaussagen, die in dem Urteil des Staatssicherheitsgerichts aufgeführt sind, sind ebenfalls unter Druck zustande gekommen. Sämtliche Personen, die vor der türkischen Polizei erscheinen mussten, waren verängstigt und wurden beeinflusst."

Die Fingerabdrücke auf der fraglichen Pistole erklärte er damit, ein Polizeibeamter, der selbst Handschuhe getragen hätte, hätte ihm nach einer Foltertortur die Pistole in die Hand gegeben, um sie sogleich wieder abzulegen.

In dem Auslieferungsverfahren selbst hat sich der Verfolgte zu den ihn angelasteten Straftaten nicht geäußert. Über seine Beistände und in einem persönlichen Brief an das Gericht beanstandet er ausschließlich, seine "Geständnisse" seien durch schwerste Folterungen "erpresst" worden und das Verfahren vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht haben den Anforderungen an ein faires Verfahren i. S. d. Europäischen Menschenrechtskonvention und i. S. d. Grundgesetzes nicht genügt.

Der Senat geht in Angesicht einer Gesamtschau der Beweislage davon aus, dass das in Rede stehende Urteil des Staatlichen Sicherheitsgericht nicht auf der behaupteten Folter beruht.

Es erscheint ausgeschlossen, dass die von dem staatlichen Sicherheitsgericht angeführten Beweise insbesondere die Umstände der Inhaftierung nach dem Banküberfall, insgesamt und vollständig von der türkischen Exekutive im Zusammenspiel mit der Jurisdiktion willkürlich inszeniert wurden, nur um einem unliebsamen Sympathisanten der TKPML-TIKKO verurteilen zu können. Ebenso nicht vorstellbar ist, dass derartig viele Zeugen allein aufgrund polizeilichen Drucks ihre Aussagen tätigten und den Verfolgten als Täter identifizieren. Das staatliche Sicherheitsgericht in O2 hatte im Übrigen das Verfahren gegen den Verfolgten und die Mitangeklagten nicht - wie aus anderen Fällen bekannt - an sich gezogen. Der Verfolgte und die anderen Mitangeklagten wurden zunächst vor verschiedenen ordentlichen Gerichten angeklagt. Diese erklärten sich aber für unzuständig und verwiesen die Verfahren an das Staatliche Sicherheitsgericht in O2.

Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, dem Verurteilten würden im Falle seiner Auslieferung Folter, menschenunwürdige Behandlung und Repressalien drohen. Er stützt seine Auffassung insoweit auf die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland vom 31.07.2006, in der es heißt:

"Angehörige von Terrororganisationen werden im Strafvollzug nicht schlechter gestellt als andere Häftlinge. Viele aufgrund von Terrordelikten Verurteilte sind in F-Typ Gefängnissen untergebracht, die mitteleuropäischem Standard entsprechen. Die Kritik auch türkischer Menschenrechtsorganisationen wegen der Gefahr einer Isolationshaft kann vom Auswärtigen Amt nach einer eingehenden Untersuchung von F-Typ Gefängnissen nicht bestätigt werden.

Insgesamt sind die Fälle von Folter und Misshandlungen im türkischen Strafvollzug seit 1999 kontinuierlich zurückgegangen. Seit Inkrafttreten der "Änderungsverordnung zur Verordnung bzgl. Festnahme, Polizeigewahrsam und Verhör" vom 03.01.2004, die zur ärztlichen Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen bei in Gewahrsamnahme verpflichtet, kann davon ausgegangen werden, dass aktuelle Fälle von Folter und Misshandlung nahezu ausschließlich bei nicht offiziell erfassten polizeilichen In -gewahrsamnahmen und Inhaftierung vorkommen. Außerdem haben viele der angezeigten Fälle keinen im weitesten Sinne als "politisch" bezeichneten Hintergrund (z. B. Zugehörigkeit zu politischen Organisationen) sondern beziehen sich auf den Verdacht anderer Form von Kriminalität, z. B. Verfolgung von Drogendelikten.

Eine Kopie des Vermerks der Botschaft O10 über den Besuch eines F-Typ Gefängnisses vom 22.102004 füge ich diesem Schreiben als Anlage bei. "

In dem in dieser Stellungnahme in Bezug genommenen Vermerk des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in O10 über einen Besuch eine F-Typ Gefängnisses vom 22.10.2004 lautet die zusammenfassende Wertung wie folgt:

"Das G. macht einen weit besseren Eindruck als es den Erwartungen der Besucher entsprochen hatte. Zumindest für die Türkei scheint es absolut vorbildlich zu sein, ein Vergleich mit deutschen Gefängnissen braucht es nicht zu scheuen. Der zu den F-Typ Gefängnissen oft gehörte Vorwurf, die Gefangenen würden dort in Isolation gehalten werden, kann nach dem Besuch in keiner Weise bestätigt werden."

Die türkischen Regierung hat völkerrechtlich verbindlich zugesichert, dass der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung in einem solchen F-Typ Gefängnis untergebracht werden würde.

Der Senat hat ebenfalls keine ernstlichen Gründe für die Annahme, die beabsichtigte Strafvollstreckung gegen den Verfolgten trage in einer über die bloße Ahndung krimineller Delikte hinausgehenden Weise den Charakter politischer Verfolgung, so dass insoweit ein Auslieferungshindernis i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk vorliegen würde. Das in Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk niedergelegte Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung knüpft an asylerhebliche Merkmale an. Es ist im Zulässigkeitsverfahren insbesondere dann zu prüfen, wenn das Auslieferungsersuchen einer Ahndung staatsfeindlicher Aktivitäten durch die Anwendung von Staatsschutzdelikten (hier: Versuch der Änderung der verfassungsmäßigen Staatsordnung mit Waffengewalt Art. 146/1 Türkisches StGB) dient, deren Unrechtsgehalt ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Angriff auf das politische Rechtsgut geprägt ist. Wird der unter Umständen generalklauselartige Tatbestand des Staatsschutzdelikts im Einzelfall aber nur genutzt, um eine Verletzung individueller Rechtsgüter der Bürger in der bei der Ahndung solcher Taten üblichen Weise zu bestrafen, so liegt keine politische Verfolgung vor. Sie ist also nur zu bejahen, wenn aufgrund bestimmter Indizien (besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen, "Politzuschlag" bei der Strafzumessung, Vorschieben krimineller Handlungen, Fälschung von Beweismaterial, Manipulation des Tatvorwurfs, unzureichende Sachbehandlung) trotz des kriminellen Charakters der zur Rede stehenden Tat zu befürchten oder zu beanstanden ist, dass dem Verfolgten eine Behandlung droht oder er einer solchen unterzogen wurde, die aus politischen Gründen härter ausfällt oder ausgefallen ist, als die sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat übliche (vgl. zu alledem BVerfGE 80, 336-339; BVerfGE 81,142, 149-153). Derartige Indizien liegen hier - wie oben bereits erörtert - nicht vor.

Der Verfolgte ist insbesondere nicht wegen seiner Sympathie zu einer rein politischen Vereinigung, sondern wegen Mitgliedschaft in der Organisation TKPML - TIKKO verurteilt worden. Im Gegensatz zu seiner oben eingeführten Einlassung vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht, er kenne das Wort TKPML - TIKKO - nicht, er habe zum ersten Mal von dieser Organisation auf der Wache erfahren, hat er in dem Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigter selbst "von meiner Organisation, ich meine damit die TKMPL - TIKKO" gesprochen, die ihm die Flucht aus der Türkei ermöglicht habe und auch erklärt, er habe die friedlichen und demokratischen Aktionen der TKPML - TIKKO unterstützt.

Die TKPML - TIKKO ( = "meine Organisation") wird dagegen in dem Jahresbericht 1999 des Bundesamtes für Verfassungsschutz folgendermaßen beschrieben:

Beide Flügel der TKPML operierten in der Türkei terroristisch und unterhielten in Deutschland Basisorganisationen, die ihre Verbundenheit mit der TKPML weitgehend verschleiern. Die in zwei Flügeln "DABK" und "PARTISAN" gespaltene TKPML betone den bewaffneten Kampf als Grundform ihres Handels und sei überzeugt, dass der einzige Weg zur Befreiung des türkischen Volkes über den bewaffneten Volkskrieg mit anschließender Bildung einer Volksregierung führe, ihr militärischer Zweig sei die türkische Arbeiter- und Bauerbefreiungsarmee (TIKKO), die Partei setzte weiterhin auf den bewaffneten Kampf zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele.

Die Auslieferung war dennoch für unzulässig zu erklären.

Nach Prüfen der gesamten Auslieferungsunterlagen blieb es letztlich zweifelhaft, ob das Verfahren vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht in O2den Anforderungen an ein faires Verfahren im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention genügte und damit gegebenenfalls auch ein Verstoß gegen unabdingbare Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vorliegt.

Diese Zweifel am Bestehen der tatsächlichen Voraussetzung eines Auslieferungshindernisses waren zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen.

Der Verfolgte ist von einem Staatlichen Sicherheitsgericht der Türkei 1996 verurteilt worden. Diese Staatlichen Sicherheitsgerichte und ihre Verfahren standen in ständiger massiver Kritik der UNO, verschiedener Menschenrechtsorganisationen, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Regierungen und Gerichte der Mitgliedstaaten der EU. Die Staatlichen Sicherheitsgerichte der Türkei wurden 2004 -letztlich wegen dieser anhaltenden Kritik und erstrebten Aufnahme in die EU- reformiert. Die Kritik bezog sich allerdings im weit überwiegenden Maße auf Verfahren vor den Staatlichen Sicherheitsgerichten, in denen Menschen allein auf Grund ihrer politischen Ansichten - die im Gegensatz zur Staatspolitik der Republik Türkei standen - in nicht hinnehmbarer Art und Weise zu oft extrem und nicht mehr hinnehmbaren Strafen verurteilt worden sind.

So verhält es sich - wie oben dargelegt - vorliegend nicht.

Diese Zweifel fußen zunächst auf dem Umstand, dass an der in Rede stehenden Entscheidung ein Militärrichter beteiligt war.

Es ist inzwischen gefestigte Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass zur Bindung an Gesetz und Recht der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen methodischer Gesetzesauslegung auch die Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehören. Eine fehlende Auseinandersetzung mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann deshalb zu einem Verstoß gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatprinzip führen (vgl. dazu zusammenfassend die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.10.2004 - 2 BVR 1481/04 -, abgedruckt in NJW 2004 3407 f.).

Auch der Bundesgerichtshof prüft ein Auslieferungsverbot inzwischen nicht nur an Elementargarantien und am wesentlichen Kern der Rechtsstaatlichkeit, sondern zieht - wie das Bundesverfassungsgericht- andere Maßstäbe heran, insbesondere Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BGH, Beschluss vom 16.10.2001 - 4 ARs 4/01 = StV 2002, 85 = NStZ 2002, 166 = JZ 2002, 464).

Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ( Entscheidung vom 09.06.1998 EGMR, Slg. 1998 - IV, S, 1504 und vom 28.10.1998 EGMR, Slg. 1998 - VIII, S. 3059) sprechen einige Aspekte des Status von Militärrichtern als Mitglied eines nationalen Sicherheitsgerichts tatsächlich für einige Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, andererseits könne dieser Status aber auch objektive Zweifel eines Zivilisten an ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit begründen.

Dieser Auffassung kann sich der Senat nicht verschließen, zumal auch andere Aspekte des Verfahrens gegen den Verfolgten Zweifel bestehen lassen, dass es sich um ein faires, den Grundanforderungen an eine rechtsstaatliche Vorgehensweise gerecht werdendes Verfahren handelte.

Aus den Auslieferungsunterlagen ist nicht mit Sicherheit erkennbar, dass der Verfolgte während des gesamten Verfahrens von einem Verteidiger vertreten wurde. Er hatte zwar - nach eigenen Angaben - einen Verteidiger beauftragt, es lässt sich u. a. aber nicht feststellen, ob dieser an der Verhandlung vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht in O2 unmittelbar beteiligt war. Insoweit kann dem Protokoll nur die Anwesenheit des Verfolgten und einiger Mittäter sowie die einer Verteidigerin für einen der Mittäter entnommen werden. In dem Urteil selbst ist hinsichtlich der Verteidigung des Angeklagten lediglich angeführt, dass dieser seine Einlassung vor der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter in schriftlichen Erklärungen und vor dem Gericht widerrufen habe, von Ausführungen eines Verteidigers ist in dem Hauptverhandlungsprotokoll und in dem Urteil dagegen nicht die Rede. Die Mitwirkung eines Verteidigers in einem solchen Verfahren, insbesondere an der Hauptverhandlung wäre aber nach grundlegenden rechtsstaatlichen Erfordernissen an ein faires Verfahren unerlässlich gewesen. Die Anklageschrift enthielt schwerwiegende Vorwürfe, die mit der Todesstrafe bedroht waren. Das Sicherheitsgericht verhängte auch diese Strafe gegen den Verfolgten, wandelte sie lediglich wegen seines Verhaltens insbesondere seines Geständnisses in eine lebenslange Freiheitsstrafe um.

Weiterhin ist ein Verstoß gegen ein faires Verfahren im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention deshalb nicht auszuschließen, weil aus den Auslieferungsunterlagen nicht erkennbar ist, ob es dem Verfolgten als Angeklagten möglich war, in der Hauptverhandlung oder davor direkt Fragen an die ihn belastenden und identifizierenden Zeugen zu stellen.

Es ist den Auslieferungsunterlagen insoweit nur zu entnehmen, dass in der Hauptverhandlung vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht die Zeugen nicht selbst vernommen wurden, sondern lediglich Niederschriften über die Vernehmungen durch andere Gerichte oder Polizei oder Staatsanwaltschaft verlesen worden sind. Diese fehlende Möglichkeit eines Angeklagten, die belastenden Zeugen direkt zu befragen, kann einen Verstoß gegen das Prinzip des fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 3 d Europäischer Menschenrechtskonvention begründen (BGH StV 2005, 113, 114).

Nach all`dem bleiben bei einer Gesamtschau Zweifel - die zu Gunsten des Verfolgten zu berücksichtigen sind - , ob dem Verfolgten ein den Grundsätzen für ein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 Menschrechtskonvention genügendes Verfahren zu Teil wurde.

Diese Zweifel werden auch nicht dadurch ausgeräumt, dass das Urteil des Staatlichen Sicherheitsgerichts in O2 vom 10.12.1996 durch ein Urteil der 9. Strafkammer bei dem Kassationsgerichtshof vom 8.12.1997 bestätigt wurde, da dieses Urteil des Kassationsgerichtshofes ausdrücklich anführt, dass die Überprüfung des Urteils des staatlichen Sicherheitsgerichts in O2 vom 10.12.1996 gegen den Verfolgten ohne Gerichtsverhandlung durchgeführt wurde, somit die oben angeführten möglichen Verstöße gegen ein faires Verfahren nicht ausgeräumt wurden.

Gleiches gilt für die - nach der Reform der staatlichen Sicherheitsgerichte in der Türkei 2004 - gefällten Urteile der 8. Kammer des Schwurgerichts in O2 (Nr. 206/577) vom 30.5.2006 und des Staatlichen Sicherheitsgericht in O2 vom 6.7.2005, die beide ohne die Beteiligung eines Militärrichters ergingen. Das Urteil der 8. Strafkammer des Schwurgerichts in O2 vom 30.5.2006 befasst sich ausschließlich mit vollstreckungsrechtlichen Fragen. Das Urteil des Staatlichen Sicherheitsgerichts vom 6.7.2005 hatte nach der Reform der Sicherheitsgerichte im Jahr 2004 (Inkrafttreten des entsprechenden Gesetzes am 1.6.2005) zwar das ursprüngliche Urteil vom 10.12.1996 auf Antrag der Oberstaatsanwaltschaft der Republik ohne Beteiligung eines Militärrichters überprüft, doch wird auch in diesem Urteil festgestellt, dass die Entscheidung ohne Gerichtsverhandlung lediglich nach dem Überprüfen der Akte einstimmig gefällt wurde. Das Verfahren des Staatlichen Sicherheitsgerichts im Jahre 1996 und die Urteile vom 10.12.1996 und 8.12.1997 wurde als mit der damaligen Gesetzeslage und der damaligen Verfahrensordnung übereinstimmend und rechtmäßig befunden, es wurde lediglich die erschwerte lebenslange Zuchthausstrafe entsprechend der neuen Gesetzeslage in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt.

Der Senat hat davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Verfolgten der Staatskasse aufzuerlegen (§§ 77 IRG, 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO analog). Gemäß § 77Abs. 1 IRG sind in Auslieferungsverfahren - soweit das IRG selbst keine entsprechenden Vorschriften enthält - unter anderem die Vorschriften der StPO sinngemäß anzuwenden. In Anbetracht des Umstandes, dass der Senat ein Auslieferungshindernis zu Gunsten des Verfolgten nicht ausschließen kann, ist die entsprechende Anwendung des § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO angebracht, wonach das Gericht von der Auferlegung der notwendigen Auslagen eines Angeklagten auf die Staatskasse absehen kann.

Ende der Entscheidung

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