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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 19.12.2005
Aktenzeichen: 3 VAs 50/05
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 10 I
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Vollstreckungsbehörde verpflichtet ist, den Gefangenen in den offenen Vollzug zu übernehmen.
Gründe:

I.

Das Landgericht Darmstadt verhängte mit Urteil vom 14.07.2005 gegen den Verurteilten wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in 83 Fällen, wobei er in zwei Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel trieb, eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten.

Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Darmstadt hat - nach Einholung einer Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt O1 - den Verurteilten mit Ladungsverfügung vom 10.10.2005 zur Durchführung des Einweisungsverfahrens in die JVA O1 geladen verbunden mit dem Hinweis, daß die zuständige Vollzugsanstalt einer Direkteinweisung in den offenen Vollzug nicht zugestimmt hat. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten hat die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht mit Bescheid vom 04.11.2005 zurückgewiesen.

Mit seinem hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung rügt der Verurteilte eine Verletzung seiner Rechte gemäß § 10 Abs. 1 StVollzG und auf fehlerfreien Ermessensgebrauch und begehrt die direkte Einweisung in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt O2.

II.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gemäß §§ 23 ff. EGGVG zulässig (vgl. Senat, NStZ-RR 2001, 316; Beschluß vom 29.09.2003 - 3 VAs 40/03 - m. w. N.), insbesondere form- und fristgerecht gestellt und begründet worden. Er hat auch in der Sache Erfolg.

Nach § 10 Abs. 1 StVollzG soll ein Gefangener in den offenen Vollzug untergebracht werden, wenn er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt und namentlich keine Flucht- oder Mißbrauchsgefahr zu befürchten ist. Auch wenn es sich bei der Prüfung der Eignung für den offenen Vollzug regelmäßig um einen Entscheidungsprozeß innerhalb und nicht außerhalb des Strafvollzugs handelt, umfaßt der Begriff "Unterbringung" in § 10 StVollzG die Möglichkeit, eine Freiheitsstrafe von Anfang an im offenen Vollzug zu verbüßen (vgl. Senat, NStZ-RR 2001, 316, 317; Beschluß vom 29.09.2003 - 3 VAs 40/03 - , jew. m. w. N.). Die Vorschrift begründet allerdings keinen Rechtsanspruch für den Verurteilten auf Unterbringung in den offenen Vollzug, sondern lediglich ein Recht auf fehlerfreien Eressensgebrauch (vgl. Senat, Beschluß vom 29.09.2003 - 3 VAs 40/03 - ; Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 10. A., § 10 RN 2).

Dementsprechend ist bereits vor Strafbeginn durch die Vollzugsbehörde die Eignung des Verurteilten für den offenen Vollzug und das Fehlen einer Flucht- und Mißbrauchsgefahr zu prüfen und auf Grundlage dieser Entscheidung die Ladung durch die Vollstreckungsbehörde in den offenen oder geschlossenen Vollzug vorzunehmen. Hierbei, insbesondere bei der Prüfung der Flucht- und Mißbrauchsgefahr, hat die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich eine Gesamtwürdigung aller prognostisch maßgeblichen Umstände vorzunehmen, insbesondere die Persönlichkeit des Gefangenen zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. StV 2003, 399 m. w. N.). Verneint die Vollzugsbehörde - wie hier - die Eignung für den offenen Vollzug und lädt deshalb die Vollstreckungsbehörde in den geschlossenen Vollzug, ist in dem Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG die Entscheidung der Vollzugsbehörde mit zu überprüfen, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Vollzugsbehörde bei der Prüfung der Eignung und der Prognoseentscheidung über Flucht- und Mißbrauchsgefahr ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wurde und deshalb die Entscheidung nicht uneingeschränkt der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (Senat, NStZ-RR 2001, 316, 317; Beschluß vom 07.10.2005 - 3 Ws 41/05 -). Der Senat kann daher lediglich überprüfen, ob die Behörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des herangezogenen Versagungsgrundes - fehlende Eignung bzw. Bestehen von Flucht- und/oder Mißbrauchsgefahr - zugrunde gelegt sowie die erforderliche Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller für die Entscheidung über die Vollzugsform wesentlichen Gesichtspunkte vorgenommen und dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (vgl. Senat, StV 2003, 399; Beschluß vom 07.10.2005 - 3 Ws 41/05 - m. w. N.). Etwas anderes gilt nur in den Fällen, in denen der Beurteilungsspielraum oder das Ermessen auf Null reduziert sind, so daß nur noch eine Entscheidung in der Sache möglich ist (vgl. Senat, Beschluß vom 28.04.2005 - 3 VAs 16/05 - m. w. N.; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 09.07.1997 - 1 Ws 364/97 Vollz - , zit. nach juris).

III.

Auf der Grundlage dieses Prüfungsmaßstabs halten die angegriffenen Entscheidungen der Überprüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, nicht stand.

Die Vollzugsbehörde hat zur Begründung der - hier als Hinderungsgrund für eine Ladung in den offenen Vollzug einzig in Betracht kommenden - Mißbrauchsgefahr ausgeführt, daß es sich bei den der Vollstreckung zugrundeliegenden Straftaten um eine Vielzahl von Taten handelt, die über den Zeitraum von ungefähr zwei Jahren in schneller Abfolge und zur Aufbesserung der finanziellen Verhältnisse des Verurteilten begangen wurden. Zu berücksichtigen sei, daß es sich bei einem der Mittäter um den Bruder des Verurteilten handelte und selbst anläßlich der Tauffeier der Tochter des Verurteilten Betäubungsmittelgeschäfte getätigt wurden, die Familie des Verurteilten diesen somit nicht von der Begehung der Straftaten habe abhalten können. Da insoweit nicht beurteilt werden könne, inwieweit sich der Verurteilte aus den entsprechenden Kreisen gelöst und die Straftaten aufgearbeitet habe, sei die Beobachtung und Anhörung des Verurteilten sowie ggf. die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Rahmen der Eignungsprüfung für den offenen Vollzug zwingend erforderlich.

Diese Begründung läßt indes wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt, die für die Frage einer Eignung für die Unterbringung im offenen Vollzug und das Fehlen einer Mißbrauchs- und Fluchtgefahr jedenfalls in die Gesamtabwägung (vgl. Senat, Beschluß vom 29.09.2003 - 3 VAs 40/03 -) einzustellen sind.

Der Verurteilte ist nicht vorbestraft. Er wurde bereits am 06.01.2005 aus der Untersuchungshaft entlassen und befindet sich damit seit nunmehr fast einem Jahr in Freiheit, ohne daß es in dieser Zeit Anhaltspunkte für erneute Straftaten gegeben hätte. Seitdem führt der Verurteilte, soweit ersichtlich, ein sozial geordnetes Leben im Kreise seiner Familie. Soweit die Vollzugsbehörde meint, nicht beurteilen zu können, inwieweit sich der Verurteilte "aus den entsprechenden Kreisen gelöst" habe, berücksichtigt sie nicht hinreichend, daß der Verurteilte nach den Urteilsfeststellungen "als erster (...) detaillierte Angaben zu den von ihm und seinen Mitangeklagten betriebenen Rauschgiftgeschäften" gemacht hat und sein Geständnis hiernach "für den Ermittlungserfolg von besonderer Bedeutung" war. Der Verurteilte hat dabei nicht nur seinen eigenen Bruder, sondern insbesondere auch die Rauschgiftlieferanten benannt und zudem noch nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft - offenbar trotz massiver Bedrohungen - gegenüber der Polizei weitere Aussagen gemacht und damit geholfen, die Taten weiter aufzuklären. So hat der Verurteilte noch im August 2005 Angaben zu den von den Rauschgiftlieferanten verwendeten Fahrzeugen gemacht (Bl. 1741 Bd. XI d. A.). Unter diesen Umständen sind Anhaltspunkte, die gegen die Behauptung des Verurteilten sprechen, er habe sich nach seiner Festnahme am 12.11.2004 aus sämtlichen Bekanntenkreisen, die auch über ihn mit Drogen zu tun gehabt hätten, zurückgezogen, nicht ersichtlich.

An dieser Bewertung ändert sich auch nichts dadurch, daß der Verurteilte mit einer großen Menge Kokain Handel getrieben und den erzielten Gewinn zur Aufbesserung seiner finanziellen Verhältnisse verwendet hat. Eine bestimmte Deliktsart allein - hier der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz - rechtfertigt noch nicht die Bejahung der Entweichungs- und Mißbrauchsgefahr; vielmehr müssen weitere, eine solche Beurteilung rechtfertigende Indizien hinzukommen (Senat, NStE Nr. 2 zu § 10 StVollzG), was hier nicht der Fall ist, zumal auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Suchtproblematik bestehen. Durch ein Abstellen auf den erzielten Gewinn wird die Mißbrauchsgefahr zudem lediglich aus der Tat selbst heraus begründet, da ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln notwendig eine Gewinnerzielungsabsicht voraussetzt. Nicht ausreichend berücksichtigt wurde auch, daß der Verurteilte nach den Urteilsfeststellungen lediglich als Zwischenhändler fungierte, der das Kokain überwiegend in kleineren Mengen an seine jeweiligen Endabnehmer weiterveräußerte, während die anderen Mittäter das Kokain anlieferten oder den Einkauf des Kokains organisierten.

Nach den vorhandenen Erkenntnisgrundlagen ist daher eine Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr iSd. § 10 Abs. 1 StVollzG mit hinreichender Sicherheit auszuschließen; es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Verurteilte gerade die Lockerungen des offenen Vollzug dazu mißbrauchen wird, erneut einschlägige Straftaten zu begehen.

Neben dem Fehlen einer Entweichungs- und Mißbrauchsgefahr kann auch erwartet werden, daß der Verurteilte den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen wird. Zwar verlangen die VV Nr. 2 III zu § 10 StVollzG, die für die Gerichte im übrigen nicht bindend sind, bei Handeltreiben mit Betäubungsmitteln insoweit eine besonders gründliche Prüfung. Auch diese ergibt hier aber aus den dargelegten Gründen keine Anhaltspunkte, die gegen eine Eignung des Verurteilten für den offenen Vollzug sprechen.

Nach alldem erweisen sich die angegriffenen Bescheide der Vollstreckungsbehörde wegen Ermessenfehlgebrauchs als rechtswidrig, weil wesentliche Gesichtspunkte, die bei der gebotenen Gesamtwürdigung zu berücksichtigen wären, außer Acht gelassen wurden. Sie war deshalb aufzuheben (§ 28 Abs. 1 EGGVG).

IV.

Angesichts geschilderten Gesichtspunkte und des Umstandes, daß keine noch durch eine Beobachtung in der Einweisungsanstalt aufzuklärenden Zweifel bestehen, ist vorliegend hinsichtlich der von der Vollzugsbehörde vorzunehmenden vorläufigen Eignungsprüfung nur noch eine Entscheidung rechtlich vertretbar, der Beurteilungsspielraum also entsprechend eingeengt - "auf Null reduziert" - (vgl. Senat, NStZ-RR 2001, 316, 317; NStE Nr. 2 zu § 10 StVollzG; Beschluß vom 29.09.2003 - 3 VAs 40/03 -), nämlich die Ladung in den offenen Vollzug, so daß die Vollstreckungsbehörde hierzu zu verpflichten war (§ 28 Abs. 2 Satz 1 EGGVG).

V.

Soweit der Verurteilte beantragt hat, ihn in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt O2 einzuweisen, ist dieser Antrag bei verständiger Würdigung dahingehend auszulegen, daß er die Einweisung in den offenen Vollzug der insoweit nach dem Vollstreckungsplan für das Land Hessen zuständigen Justizvollzugsanstalt, im vorliegenden Fall der Justizvollzugsanstalt O3 (Ziff. B. V. 1. c) bb) iVm. D. I. Nr. 1 Spalte 2 des Vollstreckungsplans für das Land Hessen - JMBl. 2004, 327 - ), begehrt, so daß eine Verpflichtung zur Einweisung gerade in diese Justizvollzugsanstalt nicht gesondert auszusprechen war.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 30 Abs. 1 und 2 EGGVG, 130 KostO, die des Gegenstandswertes aus §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 KostO.

Ende der Entscheidung

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