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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 14.02.2002
Aktenzeichen: 3 Ws 132/02 (StVollz)
Rechtsgebiete: StVollzG, StPO, GKG


Vorschriften:

StVollzG § 89
StVollzG § 81 I
StVollzG § 88 V
StVollzG § 88 I
StVollzG § 116 I
StVollzG § 109 I
StVollzG § 115 IV
StVollzG § 115 V
StVollzG § 121 I
StPO § 473 I
StPO § 473 II
GKG § 13
GKG § 48a
Die kumulative Anordnung von Sicherungsmaßnahmen in der Haft entscheidet sich nach den im Einzelnen darzulegenden Umständen des Einzelfalles unter Anlegung äußerst strenger Maßstäbe. Dabei müssen alle prognostisch maßgeblichen Gesichtspunkte ermittelt und in einer Gesamtwürdigung berücksichtigt werden.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN Beschluß

3 Ws 132/02 (StVollz)

Verkündet am 14.02.2002

In der Strafvollzugssache

des ...

wegen Aufhebung der Einzelhaft und weiterer besonderer Sicherungsmaßnahmen,

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß der 3. Strafvollstrekkungskammer des Landgerichts Kassel vom 18. Dezember 2001 am 26. Februar 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluß und der Bescheid des Leiters der Justizvollzugsanstalt Kassel I vom 5.4.2001, mit dem die Aufhebung der mit Bescheid vom 28.11.2000 angeordneten Einzelhaft und weiterer besonderer Sicherungsmaßnahmen abgelehnt worden ist, werden aufgehoben.

2. Die Vollzugsbehörde wird verpflichtet, den Aufhebungsantrag des Antragstellers unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.

3. Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge und die dem Antragsteller insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

4. Der Gegenstandswert wird für beide Instanzen einheitlich auf * 2.500.-festgesetzt.

Gründe:

I. Das Landgericht Frankfurt am Main verurteilte den Beschwerdeführer durch inzwischen rechtskräftiges Urteil vom 1.10.1998 wegen Mordes und gemeinschaftlichen Menschenraubes in zwei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, wobei die besondere Schwere der Schuld festgestellt und Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.

Bereits während der Untersuchungshaft waren besondere Sicherungsmaßnahmen, namentlich das Verbot, an gemeinschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen, und Einzelfreistunde angeordnet worden. Deren teilweise Lockerung, die vom Vorsitzenden des erkennenden Gerichts angeordnet worden war, wurde durch den Senat auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit Beschluß vom 15.12.1998 ­3 Ws 1045/98 wieder aufgehoben. Zur Begründung führte der Senat aus, die nach Maßgabe des Gutachtens Dr. M. vom 16.7.1998 persönlichkeitsbedingte Gefährlichkeit des Gefangenen werde durch die Aussichtslosigkeit seiner Lebensperspektive ­bei Rechtskraft des Urteils vom 1998 bestehe keine reale Chance, in absehbarer Zeit die Freiheit auf legalem Wege wiederzuerlangen- noch gesteigert. Ferner erweise der autoaggressive Vorfall vom 16.11.1998, daß derzeit (i.e. zum Zeitpunkt der Beschlußfassung) eine reale Gefahr bestehe, daß der Gefangene zum Mittel der Geiselnahme oder ähnlichen Aktionen zur gewaltsamen Selbstbefreiung greifen werde.

Nach Verlegung des Gefangenen in die Justizvollzugsanstalt Kassel wurden mit Verfügung der Vollzugsbehörde vom 28.11.2000 ein Bündel besonderer Sicherungsmaßnahmen angeordnet. Im Wesentlichen wurden Einzelhaft, tägliche Durchsuchung des Gefangenen und seines Haftraums, seine Absonderung von anderen Gefangenen (Einzelfreistunde, Einzelseelsorge, keine Teilnahme am Sport), Beschränkungen seiner Kommunikation mit der Außenwelt und den Fachdiensten, Beschränkungen bezüglich Wäsche und Habe, Postkontrolle sowie die Begleitung außerhalb des Haftraums von zwei Bediensteten und außerhalb der Anstalt nur unter Beteiligung des SEK festgelegt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen ,die Gefahr einer Geiselnahme bestehe unverändert fort. Den Antrag des Gefangenen vom 3.4.2001 auf Aufhebung, hilfsweise Reduzierung dieser Maßnahmen lehnte die Vollzugsbehörde mit mündlichen Bescheid vom 5.4.2002 mit dem Hinweis ab, es lägen ihr Informationen vor, welche die Sicherungsmaßnahmen weiterhin erforderlich erscheinen ließen. Im gerichtlichen Verfahren wurde zur Begründung weiter ausgeführt, nach der Einschätzung von Staatsanwaltschaft und Hessischem Landeskriminalamt bestehe die der besondere Gefährlichkeit des Gefangenen und die aus ihr resultierenden Gefahr seiner gewaltsamen Flucht im Wege der Geiselnahme, die durch die Senatsentscheidung vom 15.12.1998 bestätigt worden sei, fort.

Durch den angefochtenen Beschluß wies die Strafvollstreckungskammer den Antrag des Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er sein Begehren weiter verfolgte, als unbegründet zurück. Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde des Antragstellers.

II. Das Rechtsmittel erfüllt auch die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 I StVollzG, weil die Nachprüfung der Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist und hat mit der Sachrüge Erfolg. Der Bescheid der Vollzugsbehörde vom 5.4.2001, mit dem die Aufhebung der Einzelhaft und der angeordneten besonderen Sicherungsmaßnahmen abgelehnt worden ist, genügt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Anstalt im gerichtlichen Verfahren nicht den Anforderungen die an die Begründung einer derartigen Entscheidung zu stellen sind.

Aus dem in § 81 I StVollzG normierten allgemeinen und dem in § 88 V StVollzG enthaltenen speziellen Verhältnismäßigkeitsgebot resultiert die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, Einzelhaft und weitere besondere Sicherungsmaßnahmen aufzuheben, wenn ihre Notwendig- bzw. Unerläßlichkeit nicht mehr besteht; der Gefangene hat hierauf einen - mit dem Verpflichtungsantrag gem. §§ 109 I, 115 IV, V StVollzG gerichtlich durchsetzbaren- Anspruch (vgl. etwa Brühl, in: AK-StVollzG, 3. Aufl. § 88 Rn 19). Dieser Rechtslage trägt auch Abs. 2 der VV zu § 88 Rechnung. Einzelhaft und besondere Sicherungsmaßnahmen dürfen mithin nur Bestand haben, wenn und solange aus in der Person des Gefangenen liegenden Gründen im erhöhten Maße Fluchtgefahr oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten besteht und die angeordneten Maßnahmen gerade zur Abwendung dieser Gefahren unerläßlich (bzgl. der Einzelhaft) bzw. erforderlich (bzgl. der übrigen besonderen Sicherungsmaßnahmen) sind (vgl. Brühl, § 89 Rn 3 mwN). Zwar steht der Vollzugsbehörde bezüglich der Flucht- und Gewalttätigkeitsprognose nach st. Rspr. des Senats (zuletzt Beschl. v. 1.9.2000 ­3 WS 650/00 seit Senat, StV 1994, 431) und der Obergerichte (OLG Saarbrücken, ZfStrVo 1985, 58; OLG Celle, NStZ 189, 143) ein Beurteilungsspielraum zu mit der Folge, daß die Prognose nur in Anwendung der Grundsätze des § 115 V StVollzG überprüfbar ist. Deshalb darf ­was die Kammer übersehen hat- die von der Anstalt gegebene Begründung für die Fortdauer der besonderen Sicherungsmaßnahmen nur daraufhin gerichtlich nur überprüft werden, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, sowie ob sie bei der Versagung der Aufhebung der Maßnahmen von einem zutreffenden Begriff des Versagungsgrundes zu Grunde gelegt und dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (vgl. BGHSt 30, 320; Senat a.a.O. und Beschl. v. 19.2.2001 ­3 Ws 64/02 (StVollz); Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 8. Aufl., § 115 Rn 19). Der Strafvollstreckungskammer ist es hingegen wegen des bestehenden Beurteilungsspielraums verwehrt, bei unzutreffend oder unzureichender Sachverhaltsermittlung seitens der Vollzugsbehörde, den Sachverhalt selbstständig weiter aufzuklären (s. BGHSt 30, 320 [322]; Senat a.a.O.) oder die Bejahung (bzw. den Fortbestand) der in § 88 I StVollzG bezeichneten Gefahren auf tatsächliche Gründe zu stützen, die von der Anstaltsleitung nicht herangezogen worden sind (vgl. Calliess/Müller-Dietz a.a.O.).

Die Überprüfung nach diesen Grundsätzen ergibt, daß die Begründung, die (erhöhte) Fluchtgefahr und die Gefahr von Gewalttätigkeiten (Geiselnahme zur Ermöglichung der Flucht) bestehe fort, von der Anstalt auf eine unzureichende tatsächliche Grundlage gestützt wird. Soweit hierfür Informationen und Einschätzungen des Hessischen Landeskriminalamtes und der Staatsanwaltschaft ins Feld geführt werden, unterliegt deren Verwertung zwar grundsätzlich keinen Bedenken, selbst wenn sie vertraulicher Art" gewesen sein sollten (vgl. Senat, NStZ 1981, 117 f; OLG Nürnberg, NStZ 1982, 438 f). Sie sind jedoch seitens der Vollzugsbehörde bei der Begründung ihres Versagungsbescheides inhaltlich in keiner Weise konkretisiert worden. Vor allem fehlt es an einer Ermittlung und Gesamtwürdigung aller prognostisch maßgeblichen Gesichtspunkte (vgl. hierzu zuletzt, Senatsbeschl. v. 10.1.2002 ­ 3 Ws 1142/01 [StVollz]). Die Vollzugsbehörde rekurriert auf die prognostische Bewertung des Senats im Beschluß vom 15.12.1998. Der Senat hat aber bereits in den genannten Beschluß darauf hingewiesen, daß die Einschätzung unter dem Vorbehalt der weiteren Entwicklung der Gefangenen im Vollzug stehe. Dieser für die nunmehrige prognostische Einschätzung maßgebliche Gesichtspunkt findet in der Begründung der Anstalt für die Versagung einer Aufhebung oder Reduzierung der Maßnahmen keinerlei Berücksichtigung. Dieses Begründungsdefizit kann auch mit dem lapidaren Hinweis der Strafvollstreckungskammer, die Situation des Antragstellers habe sich gegenüber den damaligen Einschätzung durch Eintritt der Rechtskraft des Urteils noch verschlechtert und eine maßgebliche Änderung der Persönlichkeit des Antragstellers sei angesichts seiner vom Gutachter im Erkenntnisverfahren attestierten Behandlungsunfähigkeit nicht erkennbar, nicht geheilt" werden. Diese Erwägungen lassen überdies besorgen, daß die Kammer unzulässig ihr Beurteilungsermessen an das der Vollzugsbehörde gesetzt hat. Vielmehr hätte die Vollzugsbehörde auch mit Blick auf den seit dem genannten Senatsbeschluß verstrichenen langen Zeitraum detailliert die Entwicklung des Antragstellers im Vollzug seit dem Vorfall vom 16.11.1998 unter Hinzuziehung der Fachdienste (insbesondere von Stellungnahmen des psychologischen und/oder psychiatrischen Personals) aufklären, diese Erkenntnisse in die Gesamtwürdigung einstellen sowie in ihre Begründung niederlegen und auch gewichten müssen. Außerdem lag es mit Blick auf erheblichen (vor allem teilweise auch grundrechtsrelevanten) Einschränkungen, welche die angeordneten Maßnahmen nach sich ziehen, mehr als nahe, eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. M. einzuholen.

Da es ­wie dargestellt- der Strafvollstreckungskammer verwehrt ist, die gebotene weitere Sachverhaltsaufklärung und die erforderliche Gesamtabwägung selbständig vorzunehmen, waren schon aus diesem Grunde nicht nur der angefochtenen Beschluß, sondern auch der Bescheid vom Vollzugsbehörde vom 5.4.2001 aufzuheben und war diese anzuweisen, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden (§ 115 IV 2 StVollzG).

Der Senat weist aber darauf hin, daß der Bescheid der Vollzugsbehörde vom 5.4.2001 selbst bei rechtsfehlerfreier Annahme des Fortbestandes von erhöhter Fluchtgefahr und Gefahr von Gewalttätigkeiten (Geiselnahme) wegen eines weiteren Begründungsmangels keinen Bestand hätte haben können.

Zwar können bei Annahme der Gefahr einer Geiselnahme ggfs. mehrere besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn die Gefahr nicht anderes abgewendet werden kann. Bei einer derartigen kumulativen Anordnung der Maßnahmen muß aber jede für sich in ihren Voraussetzungen geprüft werden. Welche besondere Sicherungsmaßnahmen jeweils angebracht bzw. unerläßlich sind, entscheidet sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls. Im Hinblick auf die Mittel-Zweck-Relation sind dabei äußerst strenge Maßstäbe anzulegen, wenn sich der Gefangene ­wie hier der Antragsteller- einer mehrfachen ­hier nicht nur zu einer Isolation von den Mitgefangenen, sondern auch zu einem nur sehr begrenzten Zugang zu den Fachdiensten und dem Seelsorger und sogar der Einschränkung, seiner Möglichkeiten, sich körperlich zu ertüchtigen- Beeinträchtigung ausgesetzt wird (vgl. Senat, Beschl. v. 1.9.2000 ­3 Ws 650/00; Brühl, § 88 Rn 10). Auch diesen Anforderungen genügen die Verfügung des Anstaltsleiters vom 28.11. 2000 und deren Aufrechterhaltung mit Bescheid vom 5.4.2001 selbst unter Einbeziehung des Vorbringens der Anstaltsleitung im gerichtlichen Verfahren nicht. In der Anordnung sind eine Fülle von zum Teil erheblichen und grundrechtsrelevanten Einschränkungen enthalten, ohne daß die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme und der Kumulation aller Anordnungen zur Abwendung der in § 88 I StVollzG genannten Gefahren dargelegt worden ist. Die Erforderlichkeit sämtlicher angeordneter Maßnahmen erschließt sich auch keineswegs von selbst. Von daher kann auch die dem Gericht obliegende, von der Strafvollstreckungskammer aber unterlassene Nachprüfung, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist, nicht durchgeführt werden. Auch diesem Begründungserfordernis wird die Vollzugsbehörde, für den Fall, daß sie bei der erneuten Bescheidung wiederum den Fortbestand der Gefahren i.S. der § 88 I, 89 StVollzG bejaht, Rechnung tragen müssen.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf §§ 121 I StVollzG, 473 I, II StPO.

Die Festsetzung des Gegenstandswerte basiert auf §§ 13, 48a GKG. Mit Blick auf die erheblichen Einschränkungen, denen sich der Antragsteller ausgesetzt sieht, erschien es angemessen, den wert mit * 2.500 festzusetzen.

Ende der Entscheidung

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