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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 06.03.2003
Aktenzeichen: 3 Ws 15/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 124 I
1. Für ein Entziehen der durch § 124 I StPO gleichermaßen gesicherten Vollstreckung einer rechtskräftigen Verurteilung reicht bloßer Ungehorsam, namentlich die Nichtbefolgung der Ladung zum Strafantritt, nicht aus. Vielmehr ist erforderlich, dass sich der Verurteilte durch Flucht, durch Sich-Verborgen-Halten oder durch Täuschungsmanöver (Senat NStZ-RR 2001, 381; OLG Düsseldorf NJW 1978, 1932) der Verfügungsgewalt der Vollstreckungsbehörde, wenn auch nur vorübergehend, in der Weise entzieht, dass notwendige Verfahrensakte nicht ungehindert, notfalls durch seine zwangsweise Gestellung, durchgeführt werden können.

2. Zur Flucht oder zum Sich-Verborgen-Halten reicht zwar aus, dass sich der Betroffene ohne Hinterlassung einer Anschrift ins Ausland absetzt. Die bloße Vorbereitung und der bloße Versuch, sich ins Ausland ohne Hinterlassung einer Anschrift zu begeben, reichen hingegen nicht aus. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein derartiges Verhalten des Verurteilten die Verhaftung mit sich anschließender Auslieferungs- und nachfolgender Strafhaft geradezu herbeigeführt hat.


OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

3 Ws 15/03

Verkündet am 06.03.2003

In der Strafsache

wegen fahrlässiger Tötung,

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortigen Beschwerden des Verurteilten und der Verfahrensbeteiligten gegen den Beschluss der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hanau vom 10.10.2002

am 6. März 2003 beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Der Antrag der Staatsanwaltschaft, die aufgrund des Haftverschonungsbeschlusses des Amtsgerichts Hanau vom 15.7.1996 in der Fassung des Beschlusses vom 4.12.1996 gestellte Sicherheit zugunsten der Staatskasse für verfallen zu erklären, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten und der Verfahrensbeteiligten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Mit Beschluss vom 15.7.1996 verschonte das Amtsgericht Hanau den zwischenzeitlich Verurteilten vom weiteren Vollzug der am 8.7.1996 angeordneten Untersuchungshaft u.a. gegen Gestellung einer Sicherheit in Höhe von 2 Millionen Deutsche Mark, wobei ihm gestattet wurde, die Sicherheit in Form der Bestellung zweier Grundschulden an zwei Grundstücken der Verfahrensbeteiligten zu erbringen. Diese hatte bereits zuvor zwei in Sch. und H. belegene Grundstücke mit Grundschulden in Höhe von jeweils 1 Million DM belastet und diese Grundpfandrechte an das Land Hessen abgetreten. Mit Beschluss vom 4.12.1996 wurde die am Grundstück in H. bestellte Sicherheit vom Amtsgericht freigegeben.

Am 4.3.1997 wurde der Verurteilte wegen Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung und wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Nach Rechtskraft des Urteils und erfolgter Inhaftierung des Verurteilten beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hanau, die Sicherheit für verfallen zu erklären, weil sich der Verurteilte zumindest zeitweise der Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils entzogen habe.

Nachdem das Landgericht Hanau mit Beschluss vom 12.9.2000 den Verfall ausgesprochen hatte, dieser Beschluss jedoch durch den Senat am 15.11.2000 wegen fehlender Beteiligung der Sicherungsgeberin am Verfahren aufgehoben und die Sache an die Strafkammer zurückverwiesen worden war, hat die Kammer nach erfolgter Anhörung der Sicherungsgeberin erneut mit dem angefochtenen Beschluss die gestellte Sicherheit, soweit sie nicht freigegeben worden ist, zugunsten der Staatskasse für verfallen erklärt. Hiergegen richten sich die form- und fristgerecht eingelegten und auch im übrigen zulässigen Beschwerden der Verfahrensbeteiligten und des Verurteilten. Über diese konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da sämtliche Verfahrens beteiligten auf deren Durchführung verzichtet haben (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 124 Rn. 10).

Die Rechtsmittel erweisen sich als begründet. Die Voraussetzungen des Verfalls der Sicherheit gem. § 124 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

Allerdings scheitert die Verfallsanordnung - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer - nicht bereits daran, dass die Sicherheit gem. § 123 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO freigeworden wäre. Zwar hatte sich durch die am 2.10.1998 (Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft) eingetretene Rechtskraft des verurteilenden Erkenntnisses des Amtsgerichts Hanau vom 4.3.1997 der Haftbefehl vom 15.7.1996 (in seiner letzten Fassung v. 23.4.1997) erledigt (vgl. Boujong, KK-StPO, 4. Aufl., § 120 Rn. 22; Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 123 Rn. 6 - jew. m.w.N.). Aus der klaren und unzweideutigen Regelung des § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO folgt indes, dass hierdurch eine Aufhebung der nach § 116 StPO angeordneten Maßnahmen und damit ein Freiwerden der Sicherheit (§ 123 Abs. 2 StPO) nicht veranlasst ist. Vielmehr bleibt die Sicherheit nach ganz herrschender Meinung, der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. z.B. Beschl. v. 31.7.1996 - 3 Ws 775/96), isoliert bestehen (Meyer-Goßner, § 123 Rn. 4; Boujong, § 123 Rn. 3; Hilger, § 123 Rn. 6f.; OLG Karlsruhe MDR 1980, 598; NStZ 1992, 204 - jew. m.w.N.). Die Maßnahmen, insbesondere die Kaution sichern nunmehr die Vollstreckung der erkannten Strafe (Senat aaO).

Der Verurteilte hat sich jedoch der Vollstreckung der erkannten Strafe bereits objektiv nicht "entzogen" i.S.d. § 124 Abs. 1 StPO; jedenfalls kann ihm der in subjektiver Hinsicht erforderliche Vorsatz nicht nachgewiesen werden.

Für ein Entziehen i.S.d. § 124 Abs. 1 StPO reicht die bloße unterlassene Mitwirkung des Verurteilten bei der Strafvollstreckung, sein bloßer Ungehorsam, namentlich die Nichtbefolgung der erfolgten Ladung zum Strafantritt nicht aus (vgl. Senat, NStZ-RR 2001, 381; NJW 1977, 1975 - jew. m.w.N.). Von daher kann sein Aufenthalt in seiner Londoner Wohnung nach Rechtskraft des Urteils sowie die Nichtbefolgung der Ladung zum Strafantritt nach Ablehnung weiteren Strafaufschubs mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 16.11.1998 auch nach Zurückweisung der gegen die Vollstreckung gerichteten Einwendungen des Verurteilten durch - offenbar ihm nicht zugestellten - Beschluss des Amtsgerichts Hanau vom 2.12.1998 nicht als "Entziehen" gewertet werden.

Denn den Vollstreckungsbehörden war dieser Aufenthaltsort bekannt, wenn sie ihn auch nach der dienstlichen Äußerung des zuständigen Staatsanwalts nicht "überprüft" hatten.

Sogar die Ausschreibung des Verurteilten erfolgte unter Angabe dieser Adresse. Unter dieser Adresse konnte er von daher mittels seiner Verhaftung der Vollstreckung der gegen ihn erkannten Strafe ohne weiteres zugeführt werden.

Für ein Entziehen ist vielmehr erforderlich, dass sich der Verurteilte durch Flucht, durch Sich-Verborgen-Halten oder durch Täuschungsmanöver (Senat, NStZ-RR 2001, 381; OLG Düsseldorf, NJW 1978, 1932) der Verfügungsgewalt der Vollstreckungsbehörden, wenn auch nur vorübergehend, in der Weise sich entzogen hat, dass notwendige Verfahrensakte nicht ungehindert, notfalls durch seine zwangsweise Gestellung, durchgeführt werden konnten (vgl. Senat aaO; OLG Karlsruhe, NStZ 1992, 204 - jew. m.w.N.). Das auf diversen Anträgen des Verurteilten beruhende Hinauszögern des Vollstreckungsbeginns (späterer Erlass und verzögerte Vollziehung des Vollstreckungshaftbefehls) kann als "Entziehung" deswegen nicht gewertet werden, weil es nicht auf Täuschungsmanövern des Verurteilten beruhte. Die von ihm zur Begründung angegebenen familiären Belange, die für die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft maßgeblich waren, sind vielmehr sämtlich durch Atteste und sonstige Urkunden belegt.

Auch das Verlassen der Wohnung mit dem Ziel, in die USA einzureisen, kann nicht als "Sich-Entziehen" gewertet werden. Zur Flucht oder zum Sich-Verborgen-Halten reicht zwar aus, dass sich der Betroffene ohne Hinterlassung einer Anschrift ins Ausland absetzt (vgl. OLG Hamm, NJW 1996, 736; Meyer-Goßner, § 124 Rn. 5, indes mit unvollständigem Zitat). Der Erfolg - fehlende Erreichbarkeit für die Vollstreckungsbehörden zur Durchsetzung der zwangsweisen Gestellung des Verurteilten (d.h. fehlende Möglichkeit der Vollziehung eines Vollstreckungshaftbefehls) - muss jedoch für eine gewisse Zeit eingetreten sein (vgl. OLG Hamm, NJW 1996, 736; NStZ-RR 1996, 70; OLG Karlsruhe, NStZ 1992, 202; OLG Celle, NJW 1957, 1203; Boujong, § 124 Rn. 4 m.z.w.Rspr.N.). Die bloße Vorbereitung (vgl. Senat, NJW 1977, 1975) und der bloße Versuch (vgl. Senat, Beschl. v. 18.7.2000 - 3 Ws 748/00; Hilger, § 124 Rn. 17), sich ins Ausland ohne Hinterlassung einer Anschrift zu begeben, reichen demzufolge nicht aus.

Dies gilt insbesondere dann, wenn ein derartiges Verhalten des Verurteilten die Verhaftung (mit sich anschließender Auslieferungs- und nachfolgender Strafhaft) geradezu herbeigeführt hat (vgl. Hilger, § 124 Rn. 18; s. auch OLG München, NJW 1958, 312).

So liegt die Sache hier.

Mangels gegenteiliger Hinweise und der unwiderlegten, durch den erfolgten sofortigen Rückflug sogar bestätigten Einlassung des Verurteilten, er habe bei seiner versuchten Einreise in die USA am 10.12.1999 über ein Rückflugticket verfügt, muss davon ausgegangen werden, dass er nach wie vor seine Londoner Adresse inne hatte und von dieser aus sich auf die Reise in die USA begeben hat. In die USA tatsächlich einzureisen, wurde ihm jedoch noch im abgesperrten Bereich auf dem Zielflughafen verweigert. Ferner wurden die britischen Behörden aufgrund der erfolgten internationalen Ausschreibung von der verweigerten Einreise und dem unverzüglich erfolgten Rückflug des Verurteilten informiert, was zu seiner Verhaftung unmittelbar nach Verlassen des Flugzeuges in London führte. Von daher war der Aufenthaltsort des Verurteilten den Vollstreckungsbehörden allenfalls für die kurze Zeit des Fluges von London bis zum Einreiseflughafen in den USA unbekannt. Deren Zugriffsmöglichkeit hat er sich indes auch während dieses Fluges mangels bestehender "Ausweichmöglichkeiten" bis zu seinem erzwungen Rückflug mit anschließender Verhaftung nicht entzogen. Im Gegenteil: Durch den Flug und die Erweckung der Aufmerksamkeit der amerikanischen Einwanderungsbehörden hat er die bis dahin -aus welchen Gründen auch immer- wirkungslos gebliebene Ausschreibung zur Fahndung erst realisiert. Von daher kann in den Flug nach den USA allenfalls ein unmittelbares Ansetzen (Beginn der Ausführungshandlung beim Versuch), nicht aber bereits die Herbeiführung des Entziehungserfolges gesehen werden. Den Eintritt dieses durch § 124 I StPO sanktionierten Erfolges hat der Verurteilte durch sein -seine Verhaftung bewirkenden- Verhaltens vielmehr geradezu "vereitelt".

Jedenfalls hat der Verurteilte bezüglich des Sich-Entziehens nicht vorsätzlich gehandelt.

Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass er vor Antritt seiner Reise und während deren Dauer ernsthaft damit rechnete, dass die Vollstreckungsbehörden seine Verhaftung betreiben oder aber seine Reise zum Anlass nehmen würden, neue Verfolgungsmaßnahmen gegen ihn einzuleiten und er billigend in Kauf genommen hätte, dass diese ihr Ziel, ihn der Strafvollstreckung zuzuführen, zumindest eine gewisse Zeit nicht erreichen.

Dem Verurteilten waren Auslandsreisen nach Maßgabe des Abänderungsbeschlusses vom 23.4.1997 jedoch ausdrücklich gestattet. Er wollte sich ferner - wie das schon Rückflugticket erweist und sich überdies aus seinen unwiderlegten Angaben über den Grund seiner Reise ergibt- allenfalls kürzere Zeit in den USA aufhalten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Verurteilte damit rechnete, er werde gerade während der Dauer seiner geplanten Reise seine zwangsweise Gestellung vereiteln. Denn während des vorangegangenen, ganz erheblichen Zeitraums seit der am 2.11.1998 erfolgten Ankündigung des zuständigen Staatsanwalts, er werde einen Vollstreckungshaftbefehl erlassen, waren -aus welchen Gründen auch immer- keinerlei Versuche unternommen worden, den Verurteilten in London zu verhaften. Dies, obwohl den Vollstreckungsbehörden gerade auch aus der Korrespondenz mit dem Verurteilten dieser Aufenthaltsort bekannt war. Auch die seitens der Staatsanwaltschaft und vom Verurteilten sich selbst (zuletzt am 13.11.1998) gesetzten Fristen zur freiwilligen Gestellung waren sämtlich verstrichen, ohne dass es zu Verhaftungsversuchen gekommen war. Es kommt hinzu, dass der Verurteilte ausweislich des Schreibens des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 8.1.1999 über seine Mutter versucht hat, weiteren Vollstreckungsaufschub im Wege der Dienstaufsicht zu erreichen und dass Anhaltspunkte dafür, dass ihm das Scheitern dieser Bemühungen (vgl. das genannte Schreiben vom 8.1.1999) vor Antritt seiner Reise bekannt war, nicht hervorgetreten sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 273 Abs. 3 StPO.

Ende der Entscheidung

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