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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 10.04.2008
Aktenzeichen: 3 Ws 331/08
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Wird die Bewährungszeit in zulässiger Weise nach Ablauf der zunächst festgesetzten Frist verlängert, so können Straftaten, die zwischen dem Ende der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass des die Bewährungszeit verlängernden Beschlusses begangen werden, nicht als Anlasstaten nach § 56 f 1 Nr. 1 StGB gewertet werden.
3 Ws 331/08 3 Ws 334/08

Gründe:

Mit Beschluss vom 22.01.2003, rechtskräftig 06.02.2003, setzte die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung in der restlichen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 12.11.1998 zur Bewährung aus. Sie setzte die Bewährungszeit zunächst auf 3 Jahre fest.

Mit Beschluss vom 16.06.2006 verlängerte die Strafvollstreckungskammer wegen erneuter Straffälligkeit des Verurteilten innerhalb der Bewährungszeit die Dauer der Bewährungszeit auf 4 Jahre.

Da der Verurteilte erneut und zwar am 1.11. 06 durch das Amtsgericht Hanau wegen innerhalb der Bewährungszeit begangener Straftaten nachverurteilt worden war, hörte die Strafvollstreckungskammer ihn mit Schreiben vom 05.03.2007, zugestellt am 08.03.2007, (ausschließlich) zur Frage des Widerrufs der Bewährung in vorliegender Sache und in einer weiteren Strafvollstreckungssache an.

Mit Beschluss vom 13.04.2007 verlängerte die Strafvollstreckungskammer die Bewährungszeit erneut, diesmal auf 5 Jahre.

Mit Urteil des Amtsgerichts Hanau vom 19.06.2007 wurde der Verurteilte wegen schweren Diebstahls in drei Fällen zu 9 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die der Verurteilung zu Grunde liegenden Taten wurden am 13.02.2007, 07.03.2007 und 04.04.2007 begangen.

Mit Schreiben vom 05.11.2007 hörte die Strafvollstreckungskammer den Verurteilten zur Frage des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung in vorliegender Sache und in einer weiteren Strafvollstreckungssache an. Für den Verurteilten nahm sein Wahlverteidiger, Rechtsanwalt RA1, Stellung, der zugleich unter Ankündigung der Niederlegung seines Wahlmandats seine Bestellung als Pflichtverteidiger begehrte.

Mit Beschluss vom 31.01.2008 widerrief die Strafvollstreckungskammer die erfolgte Reststrafenaussetzung zur Bewährung, weil der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit erneut und einschlägig straffällig geworden sei.

Mit Beschluss vom 11.12.2007 hatte sie zuvor das Begehren auf Pflichtverteidigerbestellung zurückgewiesen.

Die gegen den Beschluss vom 31.01.2008 form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde (1.) hat ebenso Erfolg wie die gegen den Beschluss vom 11.12. 2007 eingelegte einfache Beschwerde (2.).

1. Der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 57 III, 56 f I 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Verurteilte "in der Bewährungszeit eine Straftat begeht". Die ursprüngliche, auf 4 Jahre verlängerte Bewährungszeit war mit Ablauf des 05.02.2007 verstrichen. Zwar schließt die Verlängerung der Bewährungszeit um 1 Jahr mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 13.04.2007 sich rückwirkend unmittelbar an die abgelaufene Bewährungszeit an (vgl. BVerfG, NStZ 1995, 437=StV 1996, 160; Tröndle/Fischer, StGB, 55. Aufl., § 56 f Rn 17). Dies hat indes aber nur rein formal zur Folge, dass die neuen Straftaten vom 13.02.2007, 07.03.2007 und 14.4. 2007 in die Bewährungszeit fallen. Ob Straftaten, die in der jedenfalls zunächst "bewährungsfreien Zeit" (hier vom 05.02.2007 bis 12.04.2007) begangen wurden, auch als Anlasstaten im Sinne des § 56 f I 1 Nr. 1 StGB gewertet werden können, ist hingegen umstritten.

Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur vertreten die Auffassung, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer zwischen dem Ende der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Verlängerungsbeschluss begangenen Straftat stets ausscheide (OLG Jena, NStZ-RR 2007, 220; Beschl. v. 13.09.2004 - 1 Ws 227/04 - Juris; OLG Hamm, StV 1998, 215; OLG Düsseldorf, StV 1994, 382; KG, StV 1986, 165; Groß, in: MüKo-StGB, § 56 f Rn 19; Horn, in SK-StGB, § 56 f Rn 9). Dagegen wird von einem anderen Teil der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, ein Widerruf wegen in "bewährungsfreier Zeit" begangener Straftaten käme jedenfalls dann in Betracht, wenn der Verurteilte vor Begehung dieser Straftaten Kenntnis von einer beabsichtigten Verlängerung der Bewährungszeit gehabt habe (OLG Brandenburg, StraFo 2004,214; OLG Hamburg, OLGSt § 56f Nr. 4; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.02.2005 - 3 Ws 50/05 - Juris).

Nach beiden Auffassungen scheiden demnach die Straftaten vom 13.02.2007 und 07.03.2007 als Anlasstaten aus, da das Schreiben der Strafvollstreckungskammer vom 05.03.2007 erst am 08.03.2007 dem Verurteilten zugestellt wurde. In Betracht kommt hingegen Anlasstat nach der zuletzt genannten Auffassung der schwere Diebstahl vom 04.04.2007. Der Senat vermag dieser Meinung indes nicht zu folgen (vgl. hierzu bereits Senat, Beschl. v. 21.04.2004 - 3 Ws 841+847/04, v. 03.11.2006 - 3 Ws 1196-1197/06 und v. 29.03.2007 - 3 Ws 182-183/07 - jew. mwN).

Auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.02.1995 (NStZ 1995, 437) beruft sich diese Auffassung nur teilweise zu Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar ausgeführt, dass es den Gerichten jedenfalls aus Gründen der Verfassung nicht verwehrt sei, die zwischen dem (vorläufigen) Ende der Bewährungszeit und dem Erlass des Verlängerungsbeschlusses liegende Straftat zum Anlass für einen späteren Widerruf zu nehmen, wenn ein Vertrauenstatbestand nicht gegeben sei. Damit ist zum einen weder die auch einfach-rechtlich zu beantwortende Frage, ob auch in der "bewährungsfreien Zeit" begangene Straftaten als Anlasstaten für einen Widerruf ausreichen, nicht beantwortet. Zum anderen besteht keine Veranlassung, den durch die Nichtbeanstandung von Verfassungs wegen eröffneten Spielraum auch auszuschöpfen.

Vor allem aber kann die rückwirkende Verlängerung der Bewährungszeit nicht ungeschehen machen, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Tatbegehung tatsächlich nicht unter Bewährung stand (vgl. Senat und OLG Jena - jew. aaO; OLG Köln, Beschluss vom 27.1.2006 - 2 Ws 37/06 - Juris ). Der Verurteilte wusste auch zu diesem Zeitpunkt von dem rückwirkenden Beschluss nichts, bzw. konnte von ihm nichts wissen, weil dieser bei Tatbegehung noch nicht erlassen war (vgl. Senat Beschl. vom 21.9.04 - 3 Ws 841+847/04; v. 4.1.2007 - 3 Ws 1196+1197/07 und v. 29.03.2007 - 3 Ws 182-183/07 - jew. mwN auf weitere Rspr. des Senats). Die Zwischenzeit zwischen Ablauf der ursprünglichen Bewährung und Erlass des Verlängerungsbeschlusses kann unter Berücksichtigung dieser Umstände aus Rechtsstaats- und Vertrauensschutzgründen nicht als Bewährungszeit im Sinne des § 56 f I 1 Nr. 1StGB angesehen werden (vgl. Senat und OLG Köln - jew. aaO mwN).

Das Rechtsstaatsgebot verbietet eine rückwirkende Begründung nachteiliger Rechtsfolgen: So wie ein Täter nicht rückwirkend für ein Verhalten bestraft werden kann, das zum Zeitpunkt der Tat nicht strafbar war, so darf auch derjenige, der zum Zeitpunkt der Tat nicht unter Bewährung stand, zu seinen Lasten aufgrund der - ansonsten zu seinen Gunsten angenommenen - Rückwirkungsfiktion der Verlängerung nicht so behandelt werden, als habe er während laufender Bewährungszeit eine Straftat begangen (Senat, Beschl. v. 04.01.2007 - 3 Ws 1196-1197/06).

Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist entscheidend, dass nach Ablauf der ursprünglichen Bewährung ein Verurteilter bis zu einer erneuten Entscheidung des Gerichts davon ausgehen kann, er stehe nicht mehr unter dem Druck, sich bewähren zu müssen (vgl. OLG Schleswig, NStZ 1986, 363; OLG Jena aaO). Auch der Zugang eines gerichtlichen Schreibens, dass eine solche Entscheidung beabsichtigt ist, ändert hieran nichts. Nach wie vor bleibt für den Verurteilten nämlich zunächst offen, ob die Strafe nach § 56b I StGB erlassen wird, die Bewährungszeit verlängert wird oder ein Bewährungswiderruf erfolgt. Ist - wie hier - in dem Anhörungsschreiben von einer Verlängerung der Bewährungszeit nicht die Rede, so kann ohnehin nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Verurteilte von dieser Möglichkeit Kenntnis hatte (Senat, Beschl. v. 04.01.2007 - 3 Ws 1196-1197/06). Aus Vertrauensschutzgesichtspunkten musste er sich deshalb auf sie auch nicht einstellen (vgl. Lammers, StV 1996, 161; insoweit wohl auch zust. OLG Düsseldorf, Beschl. 23.02.2005 [Rn 25] - 3 Ws 50/05 - Juris). Jedenfalls ist einem Rechtsunkundigen aber unbekannt, dass die Verlängerungsentscheidung auch zeitlich zurückwirkt. Sein durch den Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit einmal begründetes Vertrauen, es werde wegen einer "in bewährungsfreier Zeit" begangenen Straftat nicht zum Widerruf kommen, kann also durch Zugang eines Anhörungsschreibens nicht - wie die Gegenauffassung annimmt (vgl. insbes. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.02.2005 - 3 Ws 50/05-Juris) - als von vorneherein zerstört angesehen werden. Der Verurteilte kann vielmehr davon ausgehen, dass er nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung, sich zumindest zunächst nicht mehr bewähren muss. Dies verkennt die Gegenmeinung und legt deshalb zu enge Maßstäbe an den Vertrauensschutz an (Senat, Beschl. v. 04.01.2007 aaO; Lammers, StV 1996, 161; zur Kritik vgl. auch Bringewat, BewH 1996,167).

2. Dem Verurteilten war auf seine Beschwerde hin für das Widerrufsverfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen, da - wie die obigen Ausführungen zeigen - dieses nicht unerhebliche, - rechtliche Schwierigkeiten aufweist.

Ende der Entscheidung

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