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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 09.08.2000
Aktenzeichen: 3 Ws 596/00 (StVollz)
Rechtsgebiete: StVollzG, StPO


Vorschriften:

StVollzG § 201 Nr. 3
StVollzG § 18
StVollzG § 116
StVollzG § 18 Abs. 1 Satz 2
StVollzG § 18 Abs. 2
StVollzG §§ 1 ff
StVollzG § 198
StVollzG § 199
StVollzG § 200
StVollzG § 201
StVollzG § 131
StVollzG § 18
StVollzG § 119 Abs. 4 Satz 3
StVollzG § 146 Abs. 2
StVollzG § 18 Abs. 2 Satz 2
StPO § 467 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

3 Ws 596/00 (StVollz)

7a StVK 80/00 LG Marburg

Entscheidung vom 9.8.2000

In der Strafvollzugssache des ... zur Zeit in Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt ..., wegen Unterbringung in einem Einzelhaftraurn, hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Rechtsbeschwerde des Leiters der JVA ... gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg vom 24.05.2000 am 09.08.2000 beschlossen:

Tenor:

Dem Antragsteller wird für die Rechtsbeschwerde ratenfreie Prozeßkostenhilfe gewährt. Ihm wird Rechtsanwalt ... als Bevollmächtigter beigeordnet.

Der angefochtene Beschluss der Strafvollstreckungskammer und der Bescheid der JVA ..., mit dem diese das Gesuch des Antragstellers auf Verlegung in eine Einzelzelle abgelehnt hat, werden aufgehoben. Die Vollzugsbehörde wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird verworfen.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Staatskasse zur Last.

Der Gegenstandswert wird auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf DM 2.300,- festgesetzt.

Gründe

I. Gegen den Verurteilten, der sich zuletzt seit 29.07.1999 in Haft befindet, wird seit dem 31.01.2000 im Anschluß an die Verbüßung einer Restfreiheitsstrafe wegen Betruges Sicherungsverwahrung vollstreckt. Er ist nach den im angefochtenen Beschluß getroffenen Feststellungen in einem mit zwei Personen belegten Haftraum, der eine Grundfläche von 20 qm aufweist, untergebracht und begehrt die Unterbringung in einem Einzelhaftraum.

Die Strafvollstreckungskammer hat die JVA ... mit dem angefochtenen Beschluß verpflichtet, den Antragsteller während der Ruhezeiten alleine in einem Haftraum unterzubringen. Sie hat zur Begründung die Auffassung vertreten, daß es die Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 3 StVollzG bei der gebotenen verfassungsonformen Auslegung mehr als 23 Jahre nach Inkrafttreten des StVollzG jedenfalls gegenüber Sicherungsverwahrten nicht mehr rechtfertigen könne, von der Regelung des § 18 StVollzG abzuweichen.

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Leiters der JVA .... II. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Nachprüfung der Entscheidung ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, § 116 StVollzG.

Die Rechtsbeschwerde erzielt mit der Sachrüge einen Teilerfolg.

Die vom Antragsteller angefochtene Verfügung der JVA ..., aufgrund deren er in einer mit zwei Personen belegten Zelle untergebracht ist, ist zwar auch nach Auffassung des Senats rechtswidrig. Die Sache ist aber entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer nicht spruchreif.

Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Der angefochtene Beschluß weist zutreffend darauf hin, daß § 18 StVollzG grundsätzlich verlangt, jeden Sicherungsverwahrten und jeden Gefangenen während der Ruhezeiten allein in seinem Haftraum unterzubringen. Eine der in § 18 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 StVollzG ausdrücklich geregelten Ausnahmen liegt hier ­ wie die Strafvolistreckungskammer überzeugend ausgeführt hat ­ nicht vor.

Die angeordnete gemeinsame Unterbringung von zwei Sicherungsverwahrten kann aber unter Umständen nach wie vor gestützt auf die Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 3 Satz 1 (i.V.m. § 130) StVollzG zulässig sein.

Die in § 201 Nr. 3 StVollzG getroffene Regelung - die auf die JVA ... anwendbar ist - ist unbefristet. Die Vorschrift wird zwar in ihrer Überschrift ausdrücklich als "Übergangsbestimmung" bezeichnet. Die Gesetzestechnik des Gesetzgebers des 1977 in Kraft getretenen StrafvolIzugsgesetzes, der mit den §§ 1 ff StVollzG bekanntlich nur ein Torso" geschaffen und wesentliche Vorschriften gleichzeitig durch die Übergangsvorschriften der §§ 198 - 201 StVollzG wieder außer Kraft gesetzt hat (vgl. dazu etwa Calliess/Müller-Dietz, StVolIzG, 8. Aufl., § 198 Rdn. 1 m.w.N.), läßt auch erkennen, daß es der damalige Gesetzgeber für wünschenswert erachtet hat, daß eine gemeinsame Unterbringung mehrerer Strafgefangener oder gar Sicherungsver- wahrter während der Ruhezeiten nur noch für einen gewissen Übergangszeitraum erfolgen werde. Er hat damit sowohl einem nach wie vor zu Recht anerkannten kriminalpädagogischen Konzept als auch dem Schutz der Intimsphäre Rechnung tragen wollen (vgl. dazu Calliess/Müller-Dietz, § 18 Rdn. 1; Böhm in Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Aufl., § 18 Rdn. 1; jeweils m.w.N.).

Der Gesetzgeber hat die "Übergangsvorschrift" des § 201 Nr. 3 StVollzG aber mit Bedacht keiner zeitlichen Befristung unterworfen. Es kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, daß § 201 Nr. 3 StVollzG, obwohl als Übergangsvorschrift apostrophiert und obwohl seit dem Inkrafttreten des StVollzG bereits knapp 25 Jahre ver-, gangen sind, nach wie vor geltendes Recht ist. Wortlaut, Gesetzesgeschichte und Gesetzessystematik belegen, daß diejenigen Übergangsvorschriften, die keine ausdrückliche Befristung enthalten, nicht etwa nur für einen von den Gerichten im Wege der Auslegung zu bestimmenden Zeitraum, sondern unbefristet, bis zu ihrer Aufhebung durch den Gesetzgeber, gelten sollen. Es gilt hier das gleiche wie für diejenigen "Übergangvorschriften", deren zunächst im StVollzG enthaltene Befristungen vom Gesetzgeber nachträglich gestrichen worden sind (vgl. dazu Calliess/MüllerDietz § 198 Rdn. 1).

Die Fortgeltung der vom Gesetzgeber des Jahres 1976 als Übergangsvorschriften bezeichneten Vorschriften mag zwar - wie in der strafvollzugsrechtlichen Literatur zu Recht allseits betont wird (vgl. etwa Calliess/Müller-Dietz, a.a.0., m.w.N.; Böhm in Schwind/Böhm, § 18 Rdn. 2), bedauerlich erscheinen, sie ist als kriminalpolitische Entscheidung des Gesetzgebers von den Gerichten gleichwohl bis zur Grenze des verfassungsrechtlich Erlaubten hinzunehmen.

Diese Grenze ist nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall nicht überschritten.

Der Senat hält zwar an seiner Auffassung fest, derzufolge die Unterbringung eines Strafgefangenen (oder eines Sicherungsverwahrten) an seinem Recht auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 GG), dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) und den Europäischen Mindestgrundsätzen für die Be- handlung Gefangener zu messen ist (Senatsbeschluß vom 15.08.1985 NStZ 1985, 572 m.w.N.). Diese Grundsätze sind etwa bei der Belegung eine Haftraumes, der lediglich eine Grundfläche von 11,54 Quadratmetern hat, mit drei Gefangenen verletzt (Senat a.a.0.), möglicherweise auch bei der Belegung eines ausreichend großen Haftraums mit mehr als 8 Personen (vgl. § 201 Nr. 3 StVollzG). Gleiches dürfte, wie die Strafvollstreckungskammer zutreffend ausführt, auch dann gelten, wenn ein Strafgefangener oder ein Sicherungsverwahrter nicht nur vorübergehend (§ 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG) in einer mit mehreren Personen belegten Zelle untergebracht wird, ohne daß eine feste räumliche Abtrennung der Toilette, die einen Sicht-, Geruchs- und Geräuschschutz gewährleistet. vorhanden ist (vgl. OLG Hamm NJW 1967, 2024; zustimmend Calliess/Müller-Dietz § 144 Rdn. 1; Böhm in Schwind/Böhm § 18 Rdn. 6).

Aus den dargelegten, insbesondere verfassungsrechtlichen Grundsätzen läßt es sich aber nach Überzeugung des Senats nicht entnehmen, daß die Unterbringung in einer Zweimannzelle ­ zumindest für Sicherungsverwahrte ­ schlechthin verboten wäre. Dergleichen wird, soweit ersichtlich, bislang weder in der Rechtsprechung noch in der stafvollzugsrechtlichen Literatur vertreten. Die Unterbringung in Mehrbettzellen wird zwar allseits für untunlich und rechtspolitisch kritikwürdig, nicht aber für rechtswidrig erachtet (vgl. nur Callies/Müller-Dietz, § 18 Rdn. 3 m.w.N.; Böhm in Schwind/Böhm, § 18 Rdn. 1 f; Pécic/Feest in AK-StVollzG, 3. Aufl., § 18 Rdn. 4). Die Unterbringung in mit zwei Personen belegten Zellen ist im Inland (vgl. das Zahlenmaterial bei Böhm in Schwind/Böhm § 18 Rdn. 2) und im benachbarten Ausland keineswegs selten, sondern auch gegenwärtig noch weit verbreitet .

Da sich aber aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Menschenwürde nur Auslegungskriterien und Mindestgrundsätze entnehmen lassen (vgl. dazu allgemein von Münch in von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., vor Art. 1, Rdn. 66, 67, Art.1, Rdn. 32; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl., § 23 I, S. 172 m.w.N.), würde es das Gebot verfassungsrechtlicher Auslegung des StVollzG und das Verhältnis von Verfassungsrecht und schlichtem Gesetzesrecht überstrapazieren, wenn man dem Verfassungsrecht eine Regelung der Frage, ob in einer im übrigen ausreichend gro- ßen Zelle mit abgetrennter Toilette gegen ihren Willen nachts auch 2 Personen untergebracht werden dürfen, entnehmen wollte.

Auch die besondere Stellung der Sicherungsverwahrten gebietet insoweit keine andere Beurteilung.

Bei der Entscheidung, ob ein Gefangener oder ein Sicherungsverwahrter in einer mit einer oder mit mehr Personen belegten Zelle untergebracht wird, handelt es sich aber gemäß § 201 Nr. 3 StVollzG um eine Ermessensentscheidung. Die Justizvollzugsanstalt hat insoweit eine Auswahlentscheidung zu treffen, die nachvollziehbaren und mit dem StVollzG vereinbaren Kriterien folgen muß (vgl. Böhm in Schwind/Böhm § 18 Rdn. 5: "Solange die Übergangsregelung des § 201 Rn. 3 eine gemeinschaftliche Unterbringung in der Ruhezeit zuläßt, gehört es zu den schwierigsten und ... wichtigsten vollzuglichen Entscheidungen, welche Gefangenen in welcher Zusammensetzung nachts gemeinschaftlich untergebracht werden.").

Im Rahmen dieser Ermessensbetätigung sind neben vorrangigen - einzelfallbezogenen Gesichtspunkten insbesondere der Wiedereingliederung (hier gemäß § 129 Satz 2 StVollzG), der Gegensteuerung (§ 3 Abs. 2 StVollzG) und der Sicherheit und Ordnung (Böhm a.a.0.) nach Auffassung des Senats auch die Dauer der bereits erlittenen Freiheitsentziehung und die besondere Situation der Sicherungsverwahrten zu berücksichtigen.

Die Strafvollstreckungskammer weist zutreffend darauf hin, daß diesbezüglich der auch in § 131 StVollzG zum Ausdruck kommende Umstand eine Rolle zu spielen hat, daß der Verwahrte, der über das Maß seiner Schuld hinaus Freiheitsentzug hinzunehmen hat, für die Gemeinschaft quasi ein "Sonderopfer" (Rotthaus in Schwind/Böhm § 131 Rdn. 2; Calliess/Müller-Dietz § 131 Rdn. 1) erbringt.

Dann wenn, wie hier, nicht genügend Einzelzellen vorhanden sind, wird es deshalb aus den von der Strafvollstreckungskammer im einzelnen dargelegten Gründen unter Umständen geboten sein, die Einzelzellen dort, wo nicht andere (etwa unabweisbare Gründe der Behandlung oder der Sicherheit entgegenstellen) vorrangig mit Si- cherungsverwahrten, die dies wünschen, zu belegen und eine Unterbringung in Zellen für mehrere Personen eher (geeigneten) Strafgefangenen zuzumuten. Dies könnte unter Umständen auch die Ausweitung einer Abteilung für Sicherungsverwahrte (§ 140 StVollzG) zu Lasten einer Abteilung des Strafvollzugs nötig machen. Die Justizvollzugsbehörde ist hier also gehalten, eine umfassende Abwägung vorzunehmen. Die Ablehnung des Begehrens des Antragstellers würde in diesem Zusammenhang auch fehlerfreie Erwägungen dazu erfordern, weshalb die nötige Zahl von Einzelzellen nicht durch Umwidmung von bislang für Strafgefangene genutztem Haftraum bereit gestellt werden kann. Organisatorische Erwägungen werden sich, insbesondere mittel- und langfristig, insoweit zumindest nicht ohne weiteres entgegenhalten lassen. Der Anspruch gerade der Sicherungsverwahrten auf weitestmögliche Rücksichtnahme auf ihre Intimsphäre wird im Rahmen dieser Ermessensbetätigung hervorgehobenes Gewicht haben müssen.

Im Zusammenhang mit der diesbezüglichen Ermessensbetätigung hat auch der in der Strafvollzugsliteratur gegebene Hinweis Berechtigung, demzufolge die Vollzugsbehörde je länger das StVollzG gilt, desto stärker genötigt ist, den Umstand, daß sie den gesetzlichen Anforderungen des § 18 StVollzG noch nicht genügt und weiterhin die von § 201 StVollzG eröffnete Möglichkeit in Anspruch nimmt, zu rechtfertigen (Böhm in Schwind/Böhm § 201 Rdn. 4; zustimmend Calliess/Müller-Dietz § 201 Rdn. 2, vgl. auch Feest § 201 Rdn. 1).

Der Senat vermag aber aufgrund des im angefochtenen Beschluß mitgeteilten Sachstands diesbezüglich bislang keine Reduzierung des der Justizvollzugsanstalt insoweit zustehenden Ermessensspielraums "auf Null" zu erkennen.

Es ist vielmehr geboten, der Justizvollzugsanstalt zunächst Gelegenheit zu geben, unter Berücksichtigung der Auffassung des Senats erneut eingehend in eine Ermessensprüfung einzutreten.

Den Gründen des angefochtenen Beschlusses ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß die JVA eine solche umfassende Prüfung bislang nicht vorgenommen hat, so daß die Sache nicht nach § 119 Abs. 4 Satz 3 StVollzG an die Strafvoll- streckungskammer zurückzuverweisen, sondern Abs. 4 Satz 2 StVollzG zu verfahren war.

Der angefochtene Kammerbeschluß ist auch nicht etwa deshalb gerechtfertigt, weil der Antragsteller in einer Zelle untergebracht war, deren Toilettenbereich bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung möglicherweise noch für wenige Tage nicht abgetrennt war. Denn der Kammerbeschluß, der sich auf diesen Umstand nicht stützt, enthält insoweit keine ausreichenden Feststellungen, zudem stand offenbar Abhilfe jedenfalls unmittelbar bevor, vgl. § 146 Abs. 2 und 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf §§ 121 Abs. 1 und Abs. 4 StVollzG, § 467 Abs. 1 StPO. Sie berücksichtigt, daß der Antrag des Antragstellers einen zwar aufgrund des Teilerfolgs der Rechtsbeschwerde nur noch vorläufigen, im vorliegenden Verfahren aber gleichwohl umfassenden Erfolg erzielt hat.

Die erstinstanzliche Festsetzung des Gegenstandswerts erscheint auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren angemessen (§§ 13, 25, 48a GKG).



Ende der Entscheidung

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