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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 23.10.2001
Aktenzeichen: 3 Ws 861/01
Rechtsgebiete: JGG, StPO, StGB


Vorschriften:

JGG § 88
JGG § 89 a
JGG § 18 Abs. 1
JGG § 21 Abs. 2
JGG § 21 Abs. 3
JGG § 85 Abs. 6
JGG § 93 Abs. 2
JGG § 93 Abs. 1
JGG § 89 a Abs. 1 Satz 4
StPO § 454 b
StPO § 467 Abs. 1
StPO § 473 Abs. 3
StPO § 454 b Abs. 2 Satz 1
StPO § 454 b Abs. 2 Satz 2
StGB § 57
StGB § 56 Abs. 4
StGB § 57 Abs. 2 Ziffer 1
Es ist nicht vertretbar, die Vollstreckung von Untersuchungshaft mit der Vollstreckung von Strafhaft zur Begründung des in §§ 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO verwandten Begriffes des Strafrestes gleichzusetzen.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

3 Ws 861/01

Verkündet am 23.10.2001

In der Strafvollstreckungssache

gegen ...

wegen schweren Raubes hier: Unterbrechung der Vollstreckung

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstrekkungskammer des Landgerichts Darmstadt vom 16.7.2001 am 23.10.2001 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Vollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 31.10.1995 ist zum Halbstrafenzeitpunkt zugunsten der Vollstreckung der weiterhin notierten Strafen zu unterbrechen. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Durch Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 31.10.1995 ist der Verurteilte wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung nach § 21 Abs. 2 JGG zur Bewährung ausgesetzt wurde. In dieser Sache hatte der Verurteilte vom 27.7. bis 11.8.1995 Untersuchungshaft verbüßt. In laufender Bewährung hat er weitere Straftaten begangen. Wegen Verstoßes gegen das BtMG ist er durch das Amtsgericht Offenbach am Main am 5.11.1998 zu einer Gesamtfreiheitsstralfe von einem Jahr und sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden; es folgte am 24.2.2000 eine Verurteilung durch das Landgericht Darmstadt wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung. Wegen der erstgenannten Verurteilung ist die Bewährungszeit aus dem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg verlängert worden; wegen der letztgenannten Verurteilung sind in beiden Bewährungssachen Widerrufe erfolgt. Alle drei Strafen sind zur Vollstreckung notiert; derzeit verbüßt der Verurteilte die Jugendstrafe.

Nach dem Widerruf hat der Vollstreckungsleiter nach § 85 Abs. 6 JGG die Vollstreckung der Jugendstrafe an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben. Mit Schriftsatz vom 1. 6.2001 hat die Verteidigerin beantragt, die Vollstreckung der Jugendstrafe nach Verbüßung der Hälfte zugunsten der Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Landgericht Darmstadt zu unterbrechen. Dies hat die Staatsanwaltschaft Darmstadt mit Verfügung vom 20.6.2001 abgelehnt und eine Unterbrechung zum 2/3-Termin angeordnet. Zur Begründung hat die Staatsanwaltschaft ausgeführt, der Verurteilte sei kein Erstverbüßer. Dagegen hat sich die Verteidigerin mit ihrem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gewandt. Diesen hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Darmstadt mit Beschluss vom 16.7.2001 zurückgewiesen. Sie hat die Ansicht vertreten, dass es nicht auf die Entscheidung ankomme, ob die Unterbrechung nach § 89 a JGG oder § 454 b StPO vorzunehmen sei; jedenfalls werde die Jugendstrafe vollstreckt, nachdem ein Widerruf der Strafaussetzung vorangegangen sei. Deshalb komme es allein auf eine Ermessensentscheidung nach § 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. § 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO an. Dem stehe auch nicht die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in NStZ-RR 2000, 282 entgegen, wonach bei Erstverbüßern eine Halbstrafenentlassung in Betracht kommen könne, denn die Verbüßung nach Bewährungswiderruf falle grundsätzlich nicht unter die Erstverbüßerregelung. Es sei unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu beanstanden, wenn die Staatsanwaltschaft eine Unterbrechung zum Halbstrafenzeitpunkt bei dem nunmehr mehrfach einschlägig vorbestraften und auch von der Strafaussetzung nicht beeindruckten Verurteilten zum Halbstrafenzeitpunkt abgelehnt habe.

Gegen den am 20.7.2001 zugestellten Beschluss hat die Verteidigerin mit am 24.7.2001 bei Gericht eingegangen Schriftsatz sofortige Beschwerde eingelegt.

Die nach §§ 462 a Abs. 1, 462 Abs. und 3, 458 Abs. 2 StPO statthafte (vgl. BGH NJW 91, 2030, 2031; LG Heilbronn, NStZ 89, 291, 292; Wendisch, NStZ 89, 293 und in Löwe-Rosenberg, 25. Auflage, Rdnr. 16 zu § 458) sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere rechtzeitig eingereicht. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Auf die Frage, ob die Staatsanwaltschaft ermessensfehlerfrei die Voraussetzungen der §§ 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. § 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO angenommen hat, kommt es nicht an, weil sich die Entscheidung, wann vorliegend zu unterbrechen ist, nicht nach diesen Vorschriften richtet. Beide Normen haben nur den Fall im Auge, dass nach bereits einmal erfolgter bedingter Entlassung nach §§ 88 JGG bzw. 57 StGB und anschließendem Widerruf bei einer Anschlussvollstreckung zunächst dieser widerrufene Strafrest grundsätzlich zu Ende vollstreckt werden soll, bevor mit der Vollsteckung der weiteren notierten Strafen begonnen wird (vgl. Eisenberg JGG, 8. Auflage, 2000, Rdnr. 5 zu § 89 a; Brunner, JGG, 10. Auflage, 1996, Rdnr. 15 zu § 89 a; Wendisch in Löwe-Rosenberg, 25. Auflage, 1997, Rdnr. 32, 34 zu § 454 b). Dem liegt der zutreffende Gedanke zugrunde, dass derjenige, der bereits die Vollstreckung von Strafhaft erlebt hat, in aller Regel ausreichend beeindruckt sein sollte, um ihn von der Begehung weiterer Taten abzuhalten. Wird er gleichwohl nach der bedingten Entlassung erneut straffällig, hat der erste Freiheitsentzug offenkundig keine nachhaltige Wirkung erzielt, sodass im Grundsatz der Strafrest zunächst vollständig zu verbüßen ist, bevor hinsichtlich der Anschlussvollstreckungen und deren Unterbrechungen wieder nach §§ 89 a Abs. 1 Satz 2, 454 b Abs. 2 Satz 1 StPO verfahren wird. Diese Argumentation greift jedoch dann nicht, wenn - wie hier - die Strafaussetzung zur Bewährung bereits im Erkenntnisverfahren mit Urteilsfindung erfolgte (§§ 21 JGG bzw. 56 StGB) und sie später wegen neuer Straftaten zu widerrufen war. In diesem Falle kann die nach Anrechung der Untersuchungshaft verbleibende Reststrafe nicht als "Strafrest" im Sinne der §§ 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. § 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO angesehen werden. Dafür sprechen mehrere Gesichtspunkte:

Zum einen wird im Erkenntnisverfahren nach §§ 21 Abs. 3 JGG bzw. 56 Abs. 4 StGB die gesamte verhängte Jugend- bzw. Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt; schon dem Begriff nach handelt es sich hier - auch wenn der Verurteilung Untersuchungshaft vorausgegangen ist -nicht um die Aussetzung eines Strafrestes (vgl. BGHSt 5, 377; 6, 391; Gribbohm in Leipziger Kommentar, 11. Auflage, 1993, Rdnr. 5 f zu § 56, Brunner, JGG, 9. Auflage, Rdnr. 12 zu § 21; Eisenberg, JGG, 6. Auflage, Rdnr. 8, 11 zu § 21). Es ist im Erkenntnisverfahren nicht möglich, eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn erst nach Anrechung der Untersuchungshaft ein zu vollstreckender Rest von höchstens zwei Jahren bleibt (BGHSt 5, 377; Eisenberg, a.a.O.).

Zum anderen sind Strafhaft einerseits und Untersuchungshaft andererseits vom Vollstreckungsablauf nicht miteinander zu vergleichen. Vor einer bedingten Entlassung sind bei Jugendstrafe mindestens 6 Monate, im Erwachsenenvollzug mindestens 2 Monate zu verbüßen. Für die inhaltliche Ausgestaltung des Vollzuges gibt es zahlreiche Vorschriften (z.B. die des StVollzG sowie §§ 91, 92,115 Abs. 2 JGG), die das Erreichen des Vollzugszieles sicherstellen sollen. Das verhält sich bei der Untersuchungshaft anders. Während ihres Vollzuges wird bei Erwachsenen regelmäßig nicht auf ein Vollzugsziel hingearbeitet; bei Jugendlichen soll die Untersuchungshaft zwar nach § 93 Abs. 2 JGG erzieherisch ausgestaltet werden, jedoch wird dies nur dann zu realisieren sein, wenn entsprechend § 93 Abs. 1 JGG die Untersuchungshaft des Jugendlichen tatsächlich in einer besonderen Anstalt, oder wenigstens in einer besonderen Abteilung der Haftanstalt oder in einer Jugendarrestanstalt vollzogen werden kann. Einen nennenswerten Erfolg beim Erreichen des Vollzugszieles wird die Untersuchungshaft bei Jugendlichen auch nur dann haben können, wenn sie - wie sich aus der Untergrenze für Jugendstrafen nach § 18 Abs. 1 JGG ergibt - eine gewisse Mindestzeit gedauert hat. Nur dann wäre auch die Annahme gerechtfertigt, dass die Haft einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, aufgrund dessen erwartet werden kann, der Inhaftierte werde sich zukünftig straffrei verhalten. Angesichts dessen ist es nicht vertretbar, die Vollstrekkung von Untersuchungshaft mit der Vollstreckung von Strafhaft im Sinne zur Begründung des in den §§ 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO verwandten Begriffes des Strafrestes" gleichzusetzen.

Hat sonach die verbüßte Untersuchungshaft als Teilvollstreckung im Sinne der 89 a Abs. 1 Satz 4 JGG bzw. § 454 b Abs. 2 Satz 2 StPO auszuscheiden, ist die Unterbrechung nach den Regeln der §§ 89 a Abs. 1 Satz 2 JGG bzw. 454 b Abs. 2 Satz 1StPO vorzunehmen, was zu der beantragten Unterbrechung zum Halbstrafenzeitpunkt führt. Dabei kann dahinstehen, welche der beiden Normen vorliegend zur Anwendung kommt. Nach Jugendrecht, wozu der Senat angesichts dessen neigt, dass sich auch im Falle der Abgabe nach § 85 Abs. 6 JGG die Aussetzungsvoraussetzungen materiell-rechtlich nach §§ 88 JGG und nicht nach § 57 StGB richten (vgl. Senat, Beschluss vom 12.12.1998 - 3 Ws 1070/98; Bauer, Rpfleger 1992, 145, 147), wäre ohnehin zum beantragten Halbstrafenzeitpunkt zu unterbrechen, weil bis dahin mindestens 6 Monate verbüßt sind. Aber auch nach § 454 b Abs. 2 Satz 1 StPO (wie vom Hamann, Rpfleger 1991, 406, 408; 1992, 147 vertreten) gilt nichts anderes, denn nach Ziffer 1 dieser Bestimmung ist bei dem Verurteilten eine bedingte Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt nach § 57 Abs. 2 Ziffer 1 StGB nicht ausgeschlossen. Der Verurteilte ist Erstverbüßer; die erlittene Untersuchungshaft steht dieser Einordnung nicht entgegen (vgl. Senat, Beschluss vom 12.10.2001 - 3 Ws 1001-1002/01; OLG Stuttgart, NStZ 90, 103; Tröndle-Fischer, StGB, 50. Auflage, Rdnr. 24 zu § 57). Ebenso wenig hindert die Tatsache, dass alle ausgeworfenen Strafen in der Summe zwei Jahre übersteigen, die Anwendung des § 57 Abs. 2 Ziffer 1 StGB. Maßgebend ist die Höhe der vollstreckungsrechtlich selbständigen konkreten Strafe, hier Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, denn der Gesetzgeber wollte mit § 57 Abs. 2 Ziffer 1 StGB nur die schwere Kriminalität von der Möglichkeit der Halbstrafenentlassung herausnehmen (st. Rspr. d. Senats, vgl. Beschluss vom 14.12.1998 - 3 Ws 1093-1094/98 m.w.N.; OLG Oldenburg, MDR 87, 602; Tröndle-Fischer, a.a.O., Rdnr. 26).

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO.

Ende der Entscheidung

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