Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 08.05.2007
Aktenzeichen: 8 U 138/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 407 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Wegen des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 03.05.2006 verwiesen (Blatt 400 - 407 d. A.). Sie werden lediglich zur besseren Verständlichkeit des Berufungsurteils wie folgt zusammengefasst:

Der Kläger verlangt von den Beklagten Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen einer vermeintlich unzureichenden neurologischen Befunderhebung und Behandlung im Jahr 1991 bzw. 1994. Er befand sich zunächst von Juli bis September 1991 wegen akuter Lähmungserscheinungen in ambulanter neurologischer Behandlung des Beklagten zu 1). Der Beklagte zu 1) führte mehrere Untersuchungen durch, gelangte aber nicht zu einer abschließenden Diagnose. Am 16. 9. 1991 überwies er den Kläger zur stationären Behandlung in die Universitätsklinik O1 (Beklagte zu 2), wo er von dem dortigen Chefarzt (Beklagter zu 3) und einer neurologischen Fachärztin (Beklagte zu 4) behandelt wurde. Auch dort konnte man keine klare Ursache für die Beschwerden finden und man schloss deswegen einen psychogenen Hintergrund nicht aus. Im Jahr 1994 wandte sich der Kläger erneut wegen Beschwerden an den Beklagten zu 1), der ihn kernspintomographisch untersuchen ließ.

Nach einer Paraparese mit Blasenstörung im Jahr 1995 wurde der Kläger von den Ärzten der neurologischen Klinik O2 stationär behandelt. Sie fanden heraus, dass der Kläger an multipler Sklerose erkrankt war. Der Kläger wirft den Beklagten vor, dass sie sein Krankheitsbild nur unzureichend differenzialdiagnostisch erfasst und es versäumt hätten, die multiple Sklerose als Ursache für die schon im Jahr 1991 aufgetretenen Lähmungserscheinungen in ihre Beurteilung mit einzubeziehen.

Das Landgericht hat den Direktor der neurologischen Klinik des Universitätsklinikums O3, Herrn Prof. Dr. SV1 mit der Begutachtung der vom Kläger erhobenen Vorwürfe beauftragt. Er ist dort von dem Assistenzarzt Dr. A und von dem Oberarzt Prof. Dr. B körperlich und anamnestisch untersucht worden. Das unter dem Briefkopf "Gutachtenabteilung - Klinik für Neurologie - ...-Universität O3" erstattete schriftliche Gutachten ist außerdem von Herrn Prof. Dr. SV1 mit dem Zusatz "aufgrund eigener Urteilsbildung" unterzeichnet (Bl. 277/319 d. A.).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dem Beklagten zu 1) sei kein Befunderhebungsfehler unterlaufen. Er habe zwar weitere Untersuchungen zur Diagnosesicherung einer möglichen Rückenmarksschädigung anordnen sollen, aber nicht müssen. Die Beklagten zu 3) und 4) hätten eine Multiple Sklerose in Betracht ziehen und weiterreichende Untersuchungen veranlassen müssen. Ob sie sämtliche Untersuchungsmöglichkeiten ausgeschöpft hätten, könne mangels der Original - Krankenakte nicht beurteilt werden. Dies spiele auch keine Rolle, weil sich die Therapie ohnehin nicht geändert hätte. Eine Cortisontherapie bzw. eine Interferonbehandlung oder krankengymnastische Übungen oder sonstige Maßnahmen zur Umstellung der Lebensverhältnisse seien nicht indiziert gewesen.

Der Kläger hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Ziel weiter verfolgt. Das oben genannte Gutachten sei nicht verwertbar, denn der Sachverständige Prof. Dr. SV1 habe seinen Auftrag nicht persönlich erfüllt, sondern ihn auf seine Mitarbeiter Dr. B und Dr. A übertragen (§ 407 a Abs. 2 Satz 1 ZPO). Er habe den Kläger noch nicht einmal gesehen. Das Gutachten enthalte inhaltliche Widersprüche, die bereits erstinstanzlich vom Kläger herausgearbeitet worden seien. Dessen Antrag auf ergänzende schriftliche bzw. mündliche Anhörung sei das Landgericht verfahrensfehlerhaft nicht nachgekommen.

Der Kläger beantragt,

dass erstinstanzliche Urteil abzuändern und

1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts (mindestens 100.000,- €) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus, mindestens jedoch 8 % Zinsen seit dem 17.10.1997 zu zahlen, sowie

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche künftigen immateriellen sowie alle weiteren vergangenen und künftigen materiellen Ansprüche, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung ab dem 16.10.1997 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger bzw. Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Beklagte zu 1) weist darauf hin, dass ihm die Gutachter bescheinigt hätten, das Krankheitsbild des Klägers ätiologisch umfassend erfasst und lebensbedrohliche Erkrankungen des Gehirns ausgeschlossen zu haben, so dass ein früherer Krankenhausaufenthalt nicht zwingend notwendig gewesen sei. Auch vor der zweiten Konsultation des Beklagten zu 1) im Jahr 1994 hätte keine Veranlassung für eine Interferonbehandlung bestanden.

Die Beklagten zu 2) - 4) verteidigen das angefochtene Urteil mit ihrem erstinstanzlichen Vorbringen und verweisen auf die zwischenzeitlich vorgelegte vollständige Krankenakte, der man entnehmen könne, dass alle relevanten Befunde erhoben worden seien. Sie halten das Gutachten uneingeschränkt für verwertbar.

Der Sachverständige Prof. Dr. SV1 ist zur Erläuterung des Gutachtens geladen worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17. 4. 2007 (Blatt 521 - 525 d. A.) verwiesen.

II.

Das Rechtsmittel ist nicht begründet. Dem Kläger stehen aus einer positiven Vertragsverletzung des Behandlungsvertrags bzw. aus §§ 823, 831, 847 BGB a. F. keine Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten zu, weil er nicht nachgewiesen hat, dass ihnen ein Behandlungsfehler unterlaufen ist. Der Senat folgt dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. SV1, das von ihm überzeugend in der mündlichen Verhandlung vom 17. 4. 2007 erläutert worden ist.

Der Senat hat den Gutachter angehört und damit dem Hilfsantrag des Klägers aus seinem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 10. 10. 2005 entsprochen. Das Landgericht hatte verfahrensfehlerhaft diese Anhörung unterlassen (vgl. dazu Zöller - Greger, ZPO, 25. Aufl., Rn 5 a zu § 411 ZPO). Nach Erhalt des schriftlichen Gutachtens hatte der Kläger nämlich berechtigterweise die Frage aufgeworfen, ob der vom Landgericht bestellte Sachverständige seinen Gutachtenauftrag unzulässigerweise auf seine Mitarbeiter Prof. Dr. B und Dr. A übertragen hatte (§ 407 Abs. 2 Satz 1 ZPO) (§ 407 Abs. 2 Satz 1 ZPO berichtigt durch Beschluss vom 09.05.2007 nach § 407a Abs. 2 Satz 1 ZPO; die Red.). Diese Frage konnte erst verneint werden, nachdem der Sachverständigen Prof. Dr. SV1 seine schriftlichen Äußerungen vor dem Senat stichhaltig erläutert und vor allem erklärt hat, wie er zu seiner eigenen Urteilsbildung gekommen ist und warum die vorbereitenden Arbeiten, vor allem die Anamnese und die Untersuchung des Klägers auf Herrn Prof. Dr. B bzw. Herrn Dr. A übertragen worden sind (vgl. zu dieser Problematik OLG Frankfurt vom 16. 12. 1992 - 13 U 223/89 = VersR 1994, 610; OLG Zweibrücken vom 22. 6. 1999 - 5 U 32/98 = VersR 2000, 605).

Im Ergebnis lag hier ein gerade noch zulässiger Grenzfall im Sinne von § 407 Abs. 2 Satz 2 ZPO vor, denn die umfangreichen Vorarbeiten des zum Krankheitsbild Multiple Sklerose spezialisierten und deshalb besonders fachkundigen Oberarztes Prof. Dr. B und des ebenfalls erfahrenen Assistenzarztes Dr. A sind eigentlich keine Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung gewesen. Der Sachverständige Prof. Dr. SV1 hat aber den Senat davon überzeugt, dass er die Leitung des Gutachtenauftrags übernommen, dass eine eigene körperliche und anamnestische Untersuchung des Klägers durch ihn wegen des hier eindeutigen Krankheitsbildes der Multiplen Sklerose nicht erforderlich war und dass er die Schlussredaktion des schriftlichen Gutachtens mit seinen auf das Krankheitsbild spezialisierten Fachärzten abgestimmt hat, um aus einem "geweiteten Blickwinkel" die Tätigkeit der Beklagten beurteilen zu können.

Der Gutachter hat keine kausalen Behandlungsfehler der Beklagten feststellen können:

a) Er hat dem Beklagten zu 1) attestiert, dass seine diagnostischen Maßnahmen für die Akutsituation Ende Juli 1991 im ambulanten Bereich vollkommen ausreichend waren. Der Beklagte zu 1) hat im Juli 1991 eine offensichtliche und unzweifelhaft objektivierbare Halbseitensymptomatik diagnostiziert, ohne seine Befunde einem klinischen Syndrom zuzuordnen. Er ist von einer Durchblutungsstörung als Ursache der Beschwerden ausgegangen und hat in erster Linie lebensbedrohliche Erkrankungen, wie z. B. einen Schlaganfall ausschließen wollen. Dies ergibt sich aus seiner Anmeldung zur Computertomographie, um den Verdacht auf linkshirnige Ischämie ausschließen zu können. Da die neurologische Symptomatik ursprünglich nicht zwingend auf eine multiple Sklerose hindeutete, hat der Gutachter dieses Vorgehen als fachgerecht bezeichnet. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Beklagte zu 1) den weiteren Verlauf abgewartet und erst vier Wochen später die Frage nach einer "ED", d. h. einer Encephalomyelitis disseminata (Synonym für multiple Sklerose) gestellt und durch ein Kernspintomogramm des Schädels (mit Kontrastmittel) hat untersuchen lassen, das allerdings unauffällig geblieben ist. Es war ebenfalls sachgerecht, den Kläger erst ca. sechs Wochen nach der Erstbehandlung stationär zu der Beklagten zu 2) zu überwiesen, da keine drängenden klinischen Anzeichen für eine multiple Sklerose vorlagen, sich die neurologischen Symptome gebessert hatten und differenzialdiagnostisch eine lebensbedrohliche Situation ausgeschlossen werden konnte.

b) Die Beklagten zu 3) und 4) haben den Kläger im Herbst 1991 fachgerecht behandelt und die multiple Sklerose in ihre differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen. Der Kläger ist den zu dieser Verdachtsdiagnose üblichen Untersuchungen unterzogen worden (S. 17 und 32 des schriftlichen Gutachtens - Blatt 293, 308 d. A.) Der Gutachter hat klargestellt, dass zur Diagnose der Multiplen Sklerose drei Kriterien zu beachten sind, die der amerikanische Arzt Dr. C entwickelt hat (Seite 25 des Gutachtens - Blatt 301 d. A.). Zwei davon hätten im Herbst 1991 beim Kläger vorgelegen, nämlich zum einen zwei zeitlich und klinisch getrennte sog. "Schübe" sowie eine evidente Halbseitensymptomatik, also eine klinisch nachweisbare Läsion des Zentralen Nervensystems. Die pathologische Eiweißerhöhung im Liquor auf 51 mg/l war nicht spezifisch für eine neurologische Erkrankung. In Anbetracht der beiden für eine multiple Sklerose sprechenden Kriterien wäre die entsprechende Diagnose unumgänglich gewesen, wenn außerdem ein signifikanter Befund, nämlich der Nachweis sogenannter oligoklonaler Banden und/oder eine Erhöhung des Immunglobulin (IgG) im Hirnliquor vorgelegen hätte. Der Sachverständige hat aber anhand eines in der Original-Krankenakte befindlichen Laborberichts erläutert, dass der Liquorbefund nicht pathologisch war, sondern dass dort nicht auffällige monoklonale Banden bescheinigt wurden. Dementsprechend hätten die Beklagten zu 3) und 4) auch nicht zwingend die Diagnose Multiple Sklerose stellen und angesichts der damals in der medizinischen Praxis vorherrschenden Zurückhaltung bei der Unterrichtung der Patienten den Kläger auch nicht über bestehende Verdachtsmomente aufklären müssen.

Unabhängig davon hätte eine entsprechende Diagnose damals keine therapeutischen Konsequenzen gehabt. Mangels akuten Schubs unmittelbar vor oder während der stationären Behandlung hat keine Indikation für eine Cortikosteroidtherapie bestanden. Der Gutachter hat erläutert, dass von einem Schub nur ausgegangen werden kann, wenn eine mindestens 24 Stunden anhaltende Störung vorliegt, die sich auf den Krankheitsherd bezieht (Seite 34 des Gutachtens). Er hat anhand der Krankenakte der Beklagten zu 2) dafür keinen Beleg gefunden, die o. g. Schübe vom Mai bzw. Juli 1991 waren abgeschlossen.

Der Sachverständige hat ferner klargestellt, dass auch nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine langzeittherapeutische Wirkung der Cortikostereoidtherapie nicht nachgewiesen ist. Die Präparate würden nur verabreicht, um eine Linderung der während eines Schubs auftretenden Beschwerden herbeizuführen. Die Gabe von Cortikosteroide hätte deshalb auch den zweiten Schub im Jahr 1994 nicht verhindert (S. 37 des Gutachtens - Bl. 313 d. A.). Bis heute lägen auch keine ernsthaften wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Einfluss von Krankengymnastik oder eine Änderung der Lebensführung auf das Fortschreiten der multiplen Sklerose vor.

c) Zuletzt hat der Sachverständige auch nicht zweifelsfrei feststellen können, dass dem Beklagten zu 1) bei seiner Behandlung des Klägers im Sommer 1994 ein Behandlungsfehler unterlaufen ist. Zwar habe aufgrund des klinischen Bildes die multiple Sklerose im Vordergrund gestanden, weil mehrere Krankheitsherde im zentralen Nervensystem aufgefunden worden seien (Seite 12 des Gutachtens - Blatt 288 d. A.). Bei dieser Ausgangslage hätte an sich eine Liquoruntersuchung veranlasst werden müssen. Der Gutachter hat angenommen, dass dies im Hinblick auf die im Schreiben des Beklagten zu 1) vom 27. 3. 1998 dokumentierte Verweigerung des Klägers zu weiteren neurologischen Untersuchungen unterblieben ist (Anlage K 32 - Blatt 66 d. A.).

Im Übrigen lässt sich auch nicht feststellen, dass die unterbliebene Befunderhebung therapeutische Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Der Sachverständige hat klargestellt, dass er dem Kläger im Fall eines pathologischen Liquorbefunds ein Cortisonpräparat empfohlen hätte, um mögliche akute Beschwerden zu lindern, dass eine langzeittherapeutische Wirkung der Cortisontherapie aber nicht eingetreten wäre. Das ist oben schon näher erläutert worden. Interferon war damals noch nicht zugelassen, der Kläger hätte auch nicht die Voraussetzungen erfüllt, um in ein Studienprogramm aufgenommen zu werden. Unter den dargelegten Umständen lässt sich deshalb auch nicht feststellen, dass dem Beklagten zu 1) im Sommer 1994 ein für die Gesundheitsschäden des Klägers kausaler Behandlungsfehler unterlaufen wäre.

Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. SV1 werden hier wie an allen anderen Stellen untermauert durch die gleichgerichteten Feststellungen in dem Privatgutachten des Sachverständigen Dr. SV2 (Anlage B2 - Blatt 124 ff.). Prof. Dr. SV1 hat die von dem Kläger aufgeworfenen Fragen erschöpfend beantwortet und vermeintliche Widersprüche in den schriftlichen Äußerungen aufklären können. Der Senat folgt daher uneingeschränkt den Feststellungen des Gutachters.

Da das Rechtsmittel ohne Erfolg bleibt, hat der Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO). Die Entscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

Zurück