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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 26.07.2005
Aktenzeichen: 2 Ws 146/05
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen neuer Straffälligkeit setzt grundsätzlich voraus, dass der Verurteilte vor Begehung der neuen Straftat Kenntnis von seiner früheren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe - nicht hingegen notwendig von deren Vollstreckungsaussetzung und vom Lauf der Bewährungszeit - erlangt hat.
Hanseatisches Oberlandesgericht 2. Strafsenat Beschluß

2 Ws 146/05

In der Strafsache

hier betreffend Widerruf der Strafaussetzung

hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 26. Juli 2005 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Harder

den Richter am Oberlandesgericht Dr. Augner

den Richter am Amtsgericht Rußer

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 7, vom 2. Juni 2005 - betreffend den Widerruf der Strafaussetzung - aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die zugehörigen notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek hat mit Strafbefehl vom 26. März 2003 gegen den Verurteilten wegen gemeinschaftlichen besonders schweren Diebstahls auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr erkannt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt; mit zugleich ergangenem Beschluss hat es die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Strafbefehl und Bewährungsbeschluss sind der damaligen Verteidigerin am 17. April 2003 zugestellt worden. Mit Beschluss vom 2. Juni 2005 hat das Landgericht Hamburg, Strafvollstreckungskammer, die Strafaussetzung wegen neuer Straffälligkeiten des Verurteilten widerrufen. Gegen den am 6. Juni 2005 zugestellten Beschluss richtet sich die am 9. Juni 2005 eingegangene sofortige Beschwerde des Verurteilten, mit der insbesondere behauptet wird, dieser habe vor Februar 2005 keine Kenntnis von dem Strafbefehl und der laufenden Bewährung gehabt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat auf Aufhebung des Widerrufsbeschlusses angetragen.

II.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig (§§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO) und begründet. Die Voraussetzungen eines Widerrufes der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f Abs. 1 StGB sind nicht feststellbar.

1. Allerdings hat der Verurteilte in der Bewährungszeit neue Straftaten begangen (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB).

a) Der Verurteilte, ein jugoslawischer bzw. serbischer Staatsangehöriger, ist nach vorangegangener Ausweisung und Abschiebung spätestens Anfang März 2004 in das Bundesgebiet eingereist und hat sich bis zu seiner Festnahme in anderer Sache im Sommer 2004 hier aufgehalten, ohne eine Aufenthaltserlaubnis innezuhaben. Er hat während dieser Zeit im Zusammenwirken mit Mittätern am 4. März 2004, 16. April 2004, 23. April 2004 und 27. Mai 2004 von Kraftfahrzeugunternehmen jeweils unter Vorlage gefälschter Ausweispapiere hochwertige Fahrzeuge zu Probefahrten erlangt, jedoch plangemäß nicht zurückgegeben, sondern die Fahrzeuge durch Export, anderweitigen Weiterverkauf bzw. Demontage und Teileverkauf verwertet. Zudem hat er am 24. Juni 2004 einen hochwertigen Personenkraftwagen aufgebrochen, kurzgeschlossen und für einen Mittäter entwendet.

Deshalb hat ihn das Landgericht Hamburg am 7. Februar 2005 rechtskräftig wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in vier Fällen, wegen Diebstahls und wegen illegaler Einreise in Tateinheit mit illegalem Aufenthalt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren drei Monaten verurteilt. Die schuldhaften Tatbegehungen stehen aufgrund des im Erkenntnisverfahren abgelegten, insoweit glaubhaften Geständnisses, das der Verurteilte im Widerrufs- und Beschwerdeverfahren nicht in Frage gestellt hat, zur Überzeugung auch des Senats fest.

b) Die neuen Taten fallen in den Lauf der verfahrensgegenständlichen Bewährungszeit.

Die durch das Amtsgericht auf drei Jahre bestimmte Bewährungszeit begann mit Rechtskraft des Strafbefehls (§ 65 a Abs. 2 S. 1 StGB) am 1. Mai 2003. Der Strafbefehl war der damaligen Verteidigerin am 17. April 2003 zugestellt worden, ohne dass Einspruch eingelegt worden ist. Diese Zustellung ist wirksam. Sie war am 26. März 2003 richterlich angeordnet worden (§ 36 Abs. 1 S. 1 StPO) und ist am 17. April 2003 ordnungsgemäß bewirkt worden (§§ 37 Abs. 1 StPO, 174 ZPO). Die Zustellung an die Verteidigerin wirkte auch für den Verurteilten; die auf die Verteidigerin lautende Vollmachtsurkunde befand sich seit dem 10. Juli 2002 bei den Akten (§ 145 a Abs. 1 StPO). Ohne Bedeutung für die Wirksamkeit der Zustellung und für das Inlaufsetzen der Bewährungszeit bleibt, ob der Verurteilte Kenntnis von der Zustellung oder von der Verhängung einer Freiheitsstrafe und deren Vollstreckungsaussetzung erlangt hat.

2. Die Unkenntnis des Verurteilten von der Verhängung der Freiheitsstrafe hindert hier gleichwohl den Widerruf der Strafaussetzung wegen neuer Straffälligkeit.

a) Bei einer solchen Unkenntnis fehlt es grundsätzlich an der in § 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB normierten Voraussetzung, dass der Verurteilte durch die neue Straftat gezeigt haben muss, die der Strafaussetzung zugrunde gelegte Erwartung habe sich nicht erfüllt.

aa) Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I, 50) schied eine solche Unkenntnis des Verurteilten in der Praxis nahezu stets aus, da regelmäßig das auf Freiheitsstrafe lautende Urteil in Gegenwart des Angeklagten verkündet worden war. Erst seither ist wegen der Erweiterung des für das Strafbefehlsverfahren bestimmten Rechtsfolgenkatalogs auf Freiheitsstrafen (§ 407 Abs. 2 S. 2 StPO i.d.F. des Artikel 2 Nr. 10 c RPflEntlG) bei Zustellung eines Strafbefehls an den - notwendigen - Verteidiger eine Unkenntnis des Verurteilten bzw. eine Nichtnachweisbarkeit seiner Kenntnis von der Bestrafung praktisch bedeutsam geworden. Demgemäß fehlt es in Schrifttum und veröffentlichter Rechtsprechung bisher an einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dieser Rechtslage.

Eine im Ansatz vergleichbare Frage stellt sich allerdings seit langem für eine Fallgruppe der Verlängerung der Bewährungszeit, bei der der Betroffene zwar seine Verurteilung, aber nicht die Fortdauer der Bewährung kennt. Wenn der Verurteilte nach Ende der ursprünglichen Bewährungszeit und vor der erst späteren Beschlussfassung über deren Verlängerung eine neue Straftat begangen hat, kann ein Widerruf der Strafaussetzung nicht auf diese neue Tat gestützt werden, weil bei ihrer Begehung der Verurteilte keine Kenntnis davon gehabt hat, unter Bewährung zu stehen (so h.M. unabhängig davon, ob der Verlängerung Rückwirkung zugemessen wird; vgl. mit unterschiedlichen Begründungsansätzen OLG Düsseldorf in StV 1994, 382: für den Verurteilten stehe unabhängig davon, ob er Kenntnis vom Verlängerungsantrag habe, nicht fest, ob er sich bewähren müsse; KG in StV 1986, 164: der Verurteilte habe keine Kenntnis von der Bewährung haben können; OLG Schleswig in NStZ 1986, 363: vor der Verlängerungsentscheidung könne der Verurteilte davon ausgehen, nicht unter dem Druck zu stehen, sich bewähren zu müssen; OLG Zweibrücken in NStZ 1993, 510: der Verurteilte dürfe nicht durch einen Widerruf überrascht werden; Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 56 f Rn. 3).

bb) Funktion des auf § 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB gestützten Widerrufes der Strafaussetzung ist nicht eine - zusätzliche - Bestrafung für die Widerrufsanlasstat, sondern eine Korrektur der im Erkenntnisverfahren nach § 56 Abs. 1 StGB getroffenen günstigen Legalprognose, die sich - indiziert durch die Widerrufsanlasstat - als unrichtig erwiesen hat (vgl. OLG Düsseldorf in GA 1993, 511, 512; Horn in SK-StGB, § 56 f Rn. 4; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl., Rn. 190, 192). Die Legalprognose wird nach objektiven Kriterien erstellt; ob die negativen Prognoseumstände verschuldet sind oder nicht, bleibt grundsätzlich ohne Bedeutung (vgl. Schäfer, a.a.O., Rn. 134). Zwar muss, um die Indizwirkung zu erfüllen, die Widerrufsanlasstat schuldhaft verwirklicht sein, doch müssen nach der aufgezeigten Funktion des Widerrufs sich Vorsatz und Schuld des Verurteilten nicht darauf beziehen, dass die neue Straftat gerade in die Bewährungszeit fällt. Folglich ist nach richtiger Auffassung kein Bewusstsein des Verurteilten nötig, dass wegen der neuen Tat der Widerruf der Strafaussetzung droht (vgl. Gribbohm in Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl., § 56 f Rn. 1; Groß in MünchKommStGB, § 56 f Rn. 8), und bleibt ein Irrtum des Verurteilten über die Dauer der Bewährungszeit unbeachtlich (vgl. Horn, a.a.O., Rn. 5). Ein Verurteilter bedarf der Kenntnis von Strafe und Aussetzung nicht als Maßstab für sein künftiges Verhalten, da er neue Straftaten ohnehin nicht begehen darf; insoweit unterscheidet sich die Rechtslage von derjenigen bei Verstoß gegen Bewährungsauflagen und -weisungen, die sich erst aus dem Bewährungsbeschluss ergeben.

cc) Bei Unkenntnis des Verurteilten von der Verhängung der Freiheitsstrafe fehlt es jedoch grundsätzlich an der Widerrufsvoraussetzung, die der Strafaussetzung zugrunde gelegte Erwartung habe sich nicht erfüllt (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB).

Welche Erwartung zugrunde gelegen hat, ergibt sich aus der gesetzlichen Anforderung an eine Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. § 56 Abs. 1 S. 1 StGB fordert die Erwartung, der Verurteilte werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig (auch über die Bewährungszeit hinaus, vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 22) auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen. Die der Strafaussetzung zugrunde gelegte Erwartung, bereits die Verurteilung werde den Verurteilten hinreichend beeindrucken, setzt im allgemeinen die Kenntnis des Verurteilten von der zu seiner Beeindruckung bestimmten Verurteilung voraus. Ob in Ausnahmefällen die Vorstellung des Verurteilten, gegen ihn sei wahrscheinlich auf eine Freiheitsstrafe erkannt worden, vergleichbare Beeindruckungswirkung zu entfalten vermag, kann dahinstehen, da vorliegend auch eine solche Vorstellung nicht feststellbar ist (dazu unten lit. b).

Nicht erforderlich ist nach dem Gesagten eine Kenntnis des Verurteilten von der Strafaussetzung und vom Lauf der Bewährungszeit.

Für die Praxis wird es sich empfehlen, zwecks erleichterter Nachweisbarkeit der Kenntniserlangung von der Verurteilung den auf eine Freiheitsstrafe erkennenden Strafbefehl nicht allein dem Verteidiger, sondern auch dem Angeklagten zuzustellen.

b) Es ist nicht feststellbar, dass der Verurteilte bei Begehung der Widerrufsanlasstaten zwischen März und Sommer 2004 Kenntnis davon hatte oder es auch nur für wahrscheinlich hielt, zu der verfahrensgegenständlichen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein.

Der Verurteilte wusste aufgrund seiner am 28./29. Mai 2002 unmittelbar nach der Tatbegehung erfolgten vorläufigen Festnahme, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Zur Zeit der Anklageerhebung im September 2002 hielt er sich der Mitteilung seiner Verteidigerin zufolge in L./Frankreich auf. Gleichwohl wurde die Anklageschrift ihm am 24. Oktober 2002 unter einer Anschrift in Hamburg ersatzweise durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt; ob seine unter dieser Anschrift aufhältlichen Familienangehörigen die Anklageschrift an ihn weitergeleitet haben, ist unbekannt. Auf Ende Oktober 2002 gegebene Anregung der Verteidigerin, die zugleich erneut auf die Anschrift des Verurteilten in L. hinwies, nahm die Staatsanwaltschaft im März 2003 die Anklage zurück und beantragte den Erlass eines Strafbefehls.

Der auf die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von einem Jahr erkennende Strafbefehl vom 26. März 2003 wurde am 17. April 2003 allein der Verteidigerin zugestellt. Die richterliche Verfügung, den Strafbefehl (gemeint: mittels Einschreibsendung) "mit internationalem Rückschein" auch dem Verurteilten persönlich unter dessen Anschrift in L. bekannt zu machen, ist durch die Geschäftsstelle des Amtsgerichts Hamburg- Wandsbek nicht ausgeführt worden. Die Geschäftsstelle hat statt dessen einen nationalen Rückschein verwendet; folglich war die Sendung rückläufig, ohne dass Anhaltspunkte dafür bestehen, der Verurteilte habe seinerzeit sich nicht in L. aufgehalten.

Dass die damalige Verteidigerin ihrerseits den Verurteilten über den Erlass des Strafbefehls unterrichtet hätte, ist nicht feststellbar. Vielmehr deutet das Schreiben der Verteidigerin vom 28. Mai 2003 darauf hin, keinen aktuellen Kontakt zum Verurteilten zu haben. Die Verteidigerin war auch nicht veranlasst, den Verurteilten über den Erlass des von ihr angeregten Strafbefehls zu unterrichten, da das Amtsgericht ihr bei Zustellung des Strafbefehls den Hinweis erteilt hatte, der Strafbefehl werde formlos an den Verurteilten übermittelt. Es bedarf deshalb nicht der Aufklärung durch Befragung der früheren Verteidigerin, die durch Schriftsatz des bevollmächtigten jetzigen Verteidigers vom 27. April 2005 insoweit von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht entbunden sein dürfte (allerdings bezieht sich die Sentenz, gegebenenfalls möge die Verteidigerin "dazu" gehört werden, auf fehlenden Mandantenkontakt von März bis August 2004; siehe auch schon Verteidigerschriftsatz vom 22. März 2005, wonach der Verurteilte sich im März 2004 im Ausland befunden habe).

Eine Unterrichtung des Verurteilten über die Verfahrensentwicklung, namentlich die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe durch den Strafbefehl, ist auch für spätere Zeitabschnitte bis zur Festnahme nach der Widerrufsanlasstatserie im Sommer 2004 nicht feststellbar. Vom 15. August 2003 (Festnahme in Hamburg) bis zum 17. September 2003 (Sammelrückführung nach Belgrad) befand sich der Verurteilte in Abschiebehaft in der Justizvollzugsanstalt G.. Während dieses Zeitraums übersandte die Staatsanwaltschaft eine Ablichtung des Strafbefehls anforderungsgemäß an die mit einer anderen Sache des Verurteilten befasste Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg, nicht jedoch an die Justizvollzugsanstalt oder den Verurteilten.

c) Die Widerrufsvoraussetzungen müssen positiv feststehen (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 56 f Rn. 2). Daran fehlt es hier, da die der Strafaussetzung zugrunde gelegte Warnung des Verurteilten durch eine Verurteilung zu Freiheitsstrafe nicht feststellbar ist.

Folglich ist der den Widerruf der Strafaussetzung anordnende Beschluss der Strafvollstreckungskammer aufzuheben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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