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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 27.07.2005
Aktenzeichen: 2 Ws 166/05
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 68 f
1. Bei in Betracht kommendem Eintritt der Führungsaufsicht von Gesetzes wegen ist die Entscheidung zur Ausnahme gemäß § 68 Abs. 2 StGB und zur Ausgestaltung der Maßregel gemäß §§ 68 a ff. StGB gehindert, wenn offen ist, ob und wann die vollständige Vollstreckung der Freiheitsstrafe eintreten wird (hier: wenige Tage Strafrest, aber Untertauchen des Verurteilten nach Nichtrückkehr vom Ausgang).

2. Gleiches gilt, wenn zwar die den gesetzlichen Eintritt der Führungsaufsicht veranlassende Freiheitsstrafe vollständig vollstreckt ist, aber der Verurteilte während der Anschlussvollstreckung einer weiteren Freiheitsstrafe vom Ausgang nicht zurückgekehrt und anschließend untergetaucht ist.


Hanseatisches Oberlandesgericht 2. Strafsenat Beschluss

2 Ws 165/05 2 Ws 166/05

In der Strafsache

hier betreffend Führungsaufsicht gemäß § 68 f StGB

hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 27. Juli 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Harder den Richter am Oberlandesgericht Dr. Augner den Richter am Amtsgericht Rußer

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 13, vom 20. Mai 2005 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Hamburg hat gegen den Verurteilten am 25. November 1994 wegen Untreue in zwei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren (Einzelfreiheitsstrafen ein Jahr zehn Monate und zehn Monate) erkannt; die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung ist durch Beschluss vom 20. Januar 1997 widerrufen worden. Mit Urteil vom 11. Juni 1997 hat das Amtsgericht Hamburg wegen Untreue in acht Fällen und Urkundenfälschung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren drei Monaten (Einzelfreiheitsstrafen drei Monate bis ein Jahr zehn Monate) gegen den Verurteilten verhängt. Nach Teilverbüßungen ist die Vollstreckung der Reste beider Gesamtfreiheitsstrafen durch Beschluss des Landgerichts Hamburg, Strafvollstreckungskammer, vom 20. August 1999 gemäß § 57 Abs. 1, Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden. Diese Strafaussetzung hat das Landgericht am 29. November 2002 widerrufen. Der Verurteilte hat die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 11. Juni 1997 (vollständig) bis zum 29. April 2003 verbüßt. Das Strafende für die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 25. November 1994 war auf den 17. Juni 2005 notiert; am 12. Juni 2005 ist der Verurteilte von einem Ausgang nicht zurückgekehrt.

Durch Beschluss vom 20. Mai 2005 hat das Landgericht Hamburg die für beide Vollstreckungssachen nach § 68 f Abs. 1 StGB eintretende Führungsaufsicht ausgestaltet und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 68 f Abs. 2 StGB seien nicht erfüllt. Gegen diesen ihm am 26. Mai 2005 zugestellten Beschluss richtet sich die am 30. Mai 2005 eingegangene sofortige Beschwerde des Verurteilten, auf deren Verwerfung die Generalstaatsanwaltschaft angetragen hat.

II.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig (§§ 463 Abs. 3 S. 1, 454 Abs. 3 S. 1, 311 Abs. 2 StPO) und hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Eine Entscheidung über die Frage des Entfalls der Führungsaufsicht nach § 68 f Abs. 2 StGB und über die Ausgestaltung dieser gemäß § 68 f Abs. 1 StGB kraft Gesetzes eintretenden Maßregel ist noch nicht veranlasst, weil gegenwärtig und auf unabsehbare Dauer offen ist, ob hinsichtlich der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 25. November 1994 eine vollständige Vollstreckung eintreten wird, und weil es wegen des Untertauchens des Verurteilten an einer Entlassung aus dem Strafvollzug fehlt, weshalb auch hinsichtlich der vollständig vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 11. Juni 1997 von einer Entscheidung gegenwärtig Abstand zu nehmen ist.

1. Allerdings sind die Voraussetzungen des gesetzlichen Eintrittes der Führungsaufsicht nach § 68 f Abs. 1 StGB insoweit erfüllt, als Vollstreckungsgegenstand beider Sachen Freiheitsstrafen von jeweils mindestens zwei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten sind. Hierzu reicht es aus, dass die Gesamtfreiheitsstrafen jeweils mindestens zwei Jahre erreichen, auch wenn die zu Grunde liegenden Einzelfreiheitsstrafen darunter liegen (ständige Rspr. des HansOLG Hamburg; str., vgl. Übersicht über Meinungsstand bei Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 68 f Rdn. 3).

2. Nur die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 11. Juni 1997, nicht jedoch diejenige aus dem Urteil vom 25. November 1994 ist vollständig vollstreckt.

a) In der erstgenannten Sache hat der Verurteilte vom 20. September 1996 bis zum 27. Februar 1997 in gemäß § 51 Abs. 1 StGB anrechenbarer Untersuchungshaft sowie vom 28. Februar 1998 bis zum 27. August 1999 und vom 7. Januar bis zum 29. April 2003 in Strafhaft eingesessen. Damit ist die Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren drei Monaten vollständig verbüßt.

b) Hingegen ist die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren aus dem Urteil vom 25. November 1994 noch offen. Diese Strafe ist bisher vom 28. Februar 1997 bis zum 27. Februar 1998, vom 30. April bis 27. August 2003 und vom 16. Oktober 2004 bis zum 12. Juni 2005 vollstreckt worden.

Zwar können die zu § 68 f Abs. 2, §§ 68 a bis 68 c StGB gebotenen Entscheidungen auch schon vor der vollständigen Vollstreckung ergehen, wie durch die Verwaltungsvorschrift des § 54 a StVollstrO bestätigt wird, wonach bei in Betracht kommender Führungsaufsicht die Vollstreckungsbehörde die Akten drei Monate vor der Entlassung dem Gericht vorlegt. Auf diese Weise soll gesichert werden, dass der - indiziert durch das Erfordernis vollständiger Verbüßung - gefährliche und gefährdete Verurteilte verzögerungsfrei ab Entlassung mit den Mitteln der Führungsaufsicht überwacht und unterstützt werden kann. Das gilt jedoch nicht, wenn unabsehbar ist, ob und wann die in § 68 f Abs. 1 StGB vorausgesetzte vollständige Vollstreckung eintreten wird. Die nach § 68 f Abs. 2 StGB anzustellende Legalprognose kann sich bei einer solchen zeitlichen Distanz bis zum Eintritt der Führungsaufsicht noch wesentlich ändern (vgl. OLG Düsseldorf in VRS 88, 187, 188). Auch ist die Ausgestaltung der Führungsaufsicht nach §§ 68 a bis 68 c StGB von den jeweiligen Lebensumständen abhängig, die nicht für eine unbestimmte Zukunft vorhersehbar sind.

So verhält es sich hier. Der Verurteilte ist nach der Nichtrückkehr vom Ausgang am 12. Juni 2005 untergetaucht. Er ist zur - von der Staatsanwaltschaft mit einem geringen Strafrest von wenigen Tagen begründet - bloßen Aufenthaltsfahndung ausgeschrieben. Es ist nicht absehbar, ob und wann sein Aufenthalt ermittelt werden wird sowie ob und wann er im Erfolgsfall einer Ladung zum Strafantritt Folge leisten wird.

Damit scheidet eine Entscheidung zu § 68 f StGB für die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 25. November 1994 gegenwärtig aus.

3. Das Untertauchen des Verurteilten zieht nach sich, dass die Entscheidungsvoraussetzungen nach § 68 f StGB auch für die vollständig vollstreckte Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren drei Monaten aus dem Urteil vom 11. Juni 1997 gegenwärtig nicht erfüllt sind.

a) § 68 f Abs. 1 S. 1 StGB lässt für den von Gesetzes wegen erfolgenden Eintritt der Führungsaufsicht die vollständige Vollstreckung nicht ausreichen, sondern fordert zusätzlich die "Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug". Im Falle einer Anschlussvollstreckung bedeutet Entlassung aus dem Strafvollzug die endgültige Entlassung des Verurteilten in die Freiheit, nicht schon die voraufgegangene vollständige Vollstreckung der die Führungsaufsicht veranlassenden Strafe (h.M., vgl. OLG München in NStZ-RR 1998, 125; KG in JR 1984, 213, 214; OLG Bremen in MDR 1980, 512; OLG Hamm in OLGSt -alt- § 68 f StGB S. 11; OLG Düsseldorf, a.a.O.; Groß in MünchKommStGB, § 68 f Rdn. 10; Hanack in Leipziger Kommentar, 11. Aufl., § 68 f Rdn. 21; Stree in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 68 f Rdn. 6; Horn in SK-StGB, § 68 f Rdn. 6; a.A. Lackner in Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl., § 68 f Rdn. 2). Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Norm als auch aus der Erwägung, dass der Verurteilte während des fortdauernden Aufenthaltes im Behandlungsvollzug der Justizvollzugsanstalt nicht der stützenden und überwachenden Mittel der Führungsaufsicht bedarf.

b) Vorliegend ist der Verurteilte nicht aus dem Strafvollzug entlassen worden, sondern ist vom Ausgang eigenmächtig nicht in die Justizvollzugsanstalt zurückgekehrt. Jedenfalls in Verbindung mit seinem seitherigen Untertauchen ist damit die durch § 68 f Abs. 1 S. 1 StGB neben der vollständigen Vollstreckung geforderte weitere Voraussetzung nicht erfüllt.

Dem Wortlaut nach fehlt es an einer "Entlassung" aus dem Strafvollzug, nämlich einer durch Vollstreckungsbehörde, Vollzugsbehörde oder Gericht veranlassten Freilassung.

Jedoch könnte teleologisch der Beginn der Führungsaufsicht veranlasst sein. Befindet sich ein Verurteilter, dessen Gefährlichkeit und Gefährdung durch die Erfüllung der übrigen Voraussetzungen des § 68 f Abs. 1 StGB indiziert sind, tatsächlich in Freiheit, bedarf er der Aufsicht und Leitung durch die Führungsaufsicht und durch den - gemäß § 68 a Abs. 1 StGB notwendigen - Bewährungshelfer unabhängig davon, ob er rechtmäßig in Freiheit gelangt ist. Bei einem eigenmächtigen Aufenthalt in der Freiheit erhöht sich die Gefahr der Verstrickung in illegale Strukturen zusätzlich.

Diesen Erwägungen steht der systematische Vergleich mit anderen die Führungs-aufsicht betreffenden Rechtsvorschriften entgegen. Gemäß § 68 c Abs. 3 S. 2 StGB wird in die Dauer der Führungsaufsicht nicht diejenige Zeit eingerechnet, in welcher der Verurteilte flüchtig ist, sich verborgen hält oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. Dieser Katalog der Nichtanwendungstatbestände verdeutlicht die gesetzliche Wertung, dass Vollzug in der Anstalt und Flucht bzw. Untertauchen funktional für die Frage der Entbehrlichkeit von Führungsaufsicht gleichgestellt werden (siehe auch Groß, a.a.O., § 68 f Rdn. 10), und erhärtet die Annahme, eine eigenmächtige Entfernung aus dem Strafvollzug heraus in die Flucht bzw. das Sichverbergen hinein bedeute keine Entlassung im Sinne des § 68 f Abs. 1 S. 1 StGB. Wesentliche Bedeutung kommt dem Geltungsgrund des § 68 c Abs. 3 S. 2 StGB zu. Der Vorschrift liegt zu Grunde, dass während der Flucht und dem Sichverbergen die mit den Mitteln der Führungsaufsicht bezweckte Überwachung und Hilfe nicht wirksam zu werden vermögen (vgl. Groß, a.a.O., § 68 c Rdn. 18; Stree, a.a.O., § 68 c Rdn. 5; Horn, a.a.O., § 68 c Rdn. 10; Hanack, a.a.O., § 68 c Rdn. 16 mit Nachweisen aus den Gesetzesmaterialien). Werden aus diesem Grund die Zeiten von Flucht und Sichverbergen nicht auf die Dauer der Führungsaufsicht angerechnet, liegt es nahe, wegen der aufgezeigten Dysfunktionalität die Führungsaufsicht gar nicht erst eintreten zu lassen, sondern den Eintritt einem späteren Zeitpunkt vorzubehalten.

c) Da der Zeitpunkt künftiger Erreichbarkeit des Verurteilten mit den Mitteln der Führungsaufsicht gegenwärtig nicht absehbar ist und die Entscheidungen nach §§ 68 f Abs. 2, 68 a bis 68 c StGB nicht auf einen unbestimmt späteren Zustand projiziert werden können (siehe oben Ziff. 2. b)), ist eine Entscheidung zu § 68 f StGB auch für die vollständig vollstreckte Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 11. Juni 1997 gegenwärtig ausgeschlossen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO. Trotz der Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses und dem - vorläufigen - Nichteintritt der Führungsaufsicht hat der Verurteilte keinen kostenrechtlichen Erfolg oder Teilerfolg erzielt.

Beruht die Änderung des Ausspruches auf Tatsachen, die erst nach der erstinstanzlichen Entscheidung eingetreten sind und die zwar das Beschwerdegericht berücksichtigen musste, die Vorinstanz aber noch nicht berücksichtigen konnte, liegt kein Erfolg vor, weil der Vorinstanz kein Fehler unterlaufen ist und auch das Beschwerdegericht dieselben Tatsachen, die der Vorinstanz bereits bekannt waren oder hätten bekannt sein können, nicht anders gewürdigt hat (vgl. HansOLG Hamburg in MDR 1977, 72 und Senatsbeschluss vom 19. Dezember 2001, Az.: 2 Ws 262/01; OLG Düsseldorf in NStZ 1985, 380 mit näherer Begründung; OLG Zweibrücken in NStZ 1991, 602; Franke in KK-StPO, 5. Aufl., § 473 Rdn. 4; a.A. Paulus in KMR, StPO, § 473 Rdn. 21 mit Überblick zum Meinungsstand; siehe auch HansOLG Hamburg, 1. Strafsenat, Beschluss vom 13. Januar 2003, Az.: 1 Ws 268/02). Diese im Wesentlichen zur Veränderung der - für die Bestimmung der Tagessatzhöhe maßgeblichen - wirtschaftlichen Verhältnisse im Berufungsverfahren entwickelte Ausklammerung von durch Zeitablauf nach dem erstinstanzlichen Urteil verursachten Änderungen aus dem kostenrechtlichen Erfolgsbegriff ist aus denselben dogmatischen Grundlegungen heraus auch auf Fälle, in denen die nachträgliche Änderung bzw. der Eintritt sonstiger Tatsachen zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung geführt haben, anwendbar (Senat, a.a.O.). Nach verbreiteter Auffassung genügt es, dass die nachträgliche Tatsachenentwicklung für die Änderung der Entscheidung mit ursächlich geworden ist (vgl. OLG Zweibrücken, a.a.O.).

So verhält es sich hier. Zur Zeit des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 20. Mai 2005 standen vollständige Vollstreckung und Entlassung aus dem Strafvollzug zeitnah rund einen Monat später bevor. Erst danach hat der Verurteilte die Tatsachenlage durch seine Nichtrückkehr vom 12. Juni 2005 dahingehend umgestaltet, dass nunmehr die Voraussetzungen der Führungsaufsicht auf unbestimmte Dauer entfallen sind.

Ende der Entscheidung

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