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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 27.06.2003
Aktenzeichen: 2 Ws 174/03
Rechtsgebiete: StPO, ZPO, ZustRG


Vorschriften:

StPO § 37 Abs. 1
ZPO § 189 n.F.
ZustRG Art. 4
Die Zustellungsfiktion des § 189 ZPO n.F gilt nicht für vor dem 1. Juli 2002 abgeschlossene Sachverhalte, auch wenn über diese erst nach Inkrafttreten des Zustellungsreformgesetzes gerichtlich entschieden wird.
Hanseatisches Oberlandesgericht 2. Strafsenat Beschluss

2 Ws 174/03

In der Strafsache gegen

hier betreffend Widerruf der Strafaussetzung

hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 27. Juni 2003 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht den Richter am Oberlandesgericht den Richter am Landgericht

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 13, vom 2. Juni 2003 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Landgericht Hamburg hat mit rechtskräftigem Urteil vom 20. November 1992 gegen den Verurteilten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren neun Monaten erkannt. Am 26. Januar 1998 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts beschlossen, die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB per 1. Februar 1998 bis zum 31. Januar 2001 zur Bewährung auszusetzen; der Rechtskraftbescheinigung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zufolge soll der Beschluss mit Ablauf des 3. Februar 1998 rechtskräftig geworden sein. Mit Beschluss vom 14. April 2000 hat die Strafvollstreckungskammer die Bewährungszeit wegen einer neu begangenen Körperverletzung bis zum 31. Januar 2002 verlängert; dieser Beschluss ist dem Verurteilten am 19. April 2000 zugestellt worden. Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 2. Juni 2003 hat die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Freiheitsstrafe gemäß §§ 57 Abs. 3, 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB widerrufen, weil der Verurteilte am 15. Juli 2001 in seinem Körper 230 g Kokain aus Kolumbien nach Frankreich eingeführt hat, weshalb ihn ein französisches Gericht nach in zweiter Instanz abgelegtem Geständnis rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren neun Monaten verurteilt hat. Gegen diesen dem Verteidiger am 10. Juni 2003 zugestellten Beschluss richtet sich die am selben Tag eingegangene sofortige Beschwerde des Verurteilten, deren Verwerfung als unbegründet die Generalstaatsanwaltschaft beantragt hat.

II.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig (§§ 454 Abs. 4 S. 1, 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO). In der Sache ist ihr aus formellen Gründen der Erfolg nicht zu versagen.

Ein Widerruf der Vollstreckungsaussetzung gemäß §§ 57 Abs. 3 S. 1, 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB scheidet aus, weil es an einer Strafaussetzung zur Bewährung fehlt. Der Beschluss vom 26. Januar 1998, mit dem die Strafvollstreckungskammer die Reststrafenaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB angeordnet hatte, ist entgegen der durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle fehlerhaft erteilten Rechtskraftbescheinigung nicht in Rechtskraft erwachsen. Zwar kann gemäß § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB ein Widerruf auch auf eine zwischen Aussetzungsentscheidung und Rechtskrafteintritt begangene Straftat gestützt werden, doch setzt ein Widerruf auch insoweit die - spätere - Rechtskraft voraus.

1. Die Frist zur Einlegung der gemäß § 454 Abs. 2 S. 1 a.F., Abs. 3 S. 1 n.F. StPO statt haften sofortigen Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss ist nicht in Lauf gesetzt worden, weil es an einer wirksamen Zustellung des Beschlusses an den Verurteilten fehlt. Die Zustellung war für den Eintritt der Rechtskraft vorgreiflich. Die Zulässigkeit einer sofortigen Beschwerde war nämlich nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Verurteilte durch die Aussetzung der Vollstreckung nicht beschwert wäre.

Die sofortige Beschwerde eines Verurteilten ist jedenfalls dann zulässig, wenn er die Einlegung des Rechtsmittels mit dem Widerruf der Einwilligung im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB verbindet (vgl. OLG Koblenz in MDR 1981, 425; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454 Rdn. 44 m.w.N.).

2. Der Wirksamkeit der Zustellung steht ein wesentlicher Mangel bei ihrer Ausführung entgegen.

Die am 26. Januar 1998 richterlich verfügte (§ 36 Abs. 1 S. 1 StPO) Zustellung des Aussetzungsbeschlusses ist in der Weise ausgeführt worden, dass der Zustellungsauftrag am 27. Januar 1998 in der Justizvollzugsanstalt A. H. eingegangen ist (Eingangsstempelabdruck im Feld "Kurze Bezeichnung des Schriftstücks", Bl. 51 StVK-Heft) und dass ein Bediensteter dieser Anstalt als Gerichtswachtmeister eine Zustellungsurkunde unterzeichnet hat, derzufolge die (den Beschluss enthaltende) Briefsendung in der Anstalt an den dort einsitzenden Verurteilten selbst übergeben worden ist. Die Zustellungsurkunde enthält keine Angaben über das Datum, zu welchem die Übergabe an den Zustellungsadressaten erfolgt ist; sie ist ausweislich des Eingangsstempels am 28. oder 29. Januar 1998 an das Landgericht zurückgelangt.

Nach dem zur Zeit dieser Zustellung geltenden alten Recht (zu dessen Anwendbarkeit für vor dem 1. Juli 2002 liegende Zustellungsakte nach den Grundsätzen des intertemporalen Verfahrensrechtes vgl. näher Senat in NStZ-RR 2003, 46) bestimmte § 191 Nr. 1 ZPO a.F. - hier in Verbindung mit § 37 Abs. 1 StPO, §§ 190, 195 Abs. 2 S. 1, 208, 211 Abs. 1 S. 1, 212 Abs. 1 ZPO a.F. -, dass in der über die Zustellung aufzunehmenden Urkunde u.a. die Zeit, nämlich der Zustellungstag, anzugeben war, und führte die Nichtangabe des Datums in der Zustellungsurkunde zur Unwirksamkeit der Zustellung (h.M., vgl. Senatsbeschluss vom 26. Februar 1992, Gesch.-Nr. 2 Ws 56/92, insoweit nicht mit abgedruckt in NStZ 1992, 301; OLG Hamm in OLGSt, StPO § 37 Nr. 2; Wenzel in MünchKommZPO, 2. Aufl., § 191 Rdn. 2; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., § 191 Rdn. 5; Wendisch in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 37 Rdn. 69; Maul in KK-StPO, 4. Aufl., § 37 Rdn. 25; zur fehlenden Datumsangabe auf der zugestellten Sendung siehe GemSenOGB in NJW 1977, 621; anders zu § 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO n.F. Putzo in Thomas/Putzo, ZPO, 25. Aufl., § 182 Rdn. 2; Zimmermann, ZPO, 6. Aufl., § 182 Rdn. 1).

3. Der aufgezeigte Zustellungsmangel ist nicht dadurch geheilt worden, dass die zuzustellende Ausfertigung des Aussetzungsbeschlusses dem Verurteilten ausweislich seiner bei der in der Justizvollzugsanstalt erfolgten Belehrung (§§ 268 a Abs. 3, 454 Abs. 3 a.F., Abs. 4 n.F. StPO) am 30. Januar 1998 abgegebenen Formularerklärung spätestens an diesem Tag tatsächlich zugegangen ist (Bl. 84 V-Heft: "Eine Ausfertigung der Entscheidung habe ich im übrigen erhalten").

a) Nach dem bis zum 30. Juni 2002 und damit zu den Zeiten des Zustellungsversuches sowie des tatsächlichen Zuganges der Beschlussausfertigung geltenden § 187 ZPO a.F. war eine Heilung des Zustellungsmangels ausgeschlossen, weil durch die Zustellung eine Notfrist im Sinne des § 187 S. 2 ZPO a.F., nämlich die Frist der sofortigen Beschwerde gemäß §§ 454 Abs. 3 a.F., Abs. 3 S. 1 n.F., 311 Abs. 2 StPO in Gang gesetzt werden sollte.

Der die Heilungsmöglichkeit auch auf eine Notfrist in Lauf setzen sollende Zustellungen erweiternde § 189 ZPO in der Fassung des am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Zustellungsreformgesetzes vom 25. Juni 2001 (BGB1 I, 1206, 1209, 1213) findet auf das Zustellungsgeschehen vom Januar 1998 keine Anwendung. In Ermangelung abweichender Übergangsvorschriften sowie wegen des nicht entgegenstehenden Sinnes und Zweckes der Neuregelung finden die geänderten prozessualen Vorschriften nur in denjenigen Verfahrensabschnitten, die in der Zeit ab Inkrafttreten liegen, Anwendung (vgl. näher Senat in NStZ-RR 2003, 46).

b) Eine Heilung des Zustellungsmangels folgt auch nicht aus einem etwaigen Verständnis des die Zustellung nunmehr fingierenden § 189 ZPO n.F. als nicht (allein) auf den Prozessabschnitt des früheren Zustellungsversuches bzw. des früheren tatsächlichen Zuganges gerichtete, sondern (auch) die gegenwärtige, nach dem 1. Juli 2002 liegende prozessuale Bearbeitung im Sinne einer Handlungsanweisung erfassende Verfahrensvorschrift (siehe Wolst in Musielak, ZPO, 3. Aufl., § 189 Rdn. 4: Gericht hat im nächsten Beschluss, in welchem die Wirksamkeit der Zustellung als Vorfrage von Bedeutung ist, von einer geheilten Zustellung auszugehen).

Dem steht das Gebot der Rechtssicherheit entgegen, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herleitet (hierzu vgl. Sachs, GG, 2. Aufl., Art. 20 Rdn. 122 m.w.N.). Die Heilungsmöglichkeiten nach §§ 187 a.F., 189 n.F. ZPO sind Ausdruck einer gesetzlichen Abwägung zwischen den Grundsätzen der Prozesswirtschaftlichkeit und der Rechtssicherheit (vgl. Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 61. Aufl., § 189 Rdn. 2). Zur Vermeidung von Förmeleien, die zum Schutz der Beteiligten sachlich nicht geboten sind, ist eine großzügige Handhabung der Heilungsvorschriften veranlasst (vgl. zum alten Recht BGH in NJW 1989, 1154, 1155; Wenzel, a.a.O., § 187 Rdn. 1). Diese Handhabung findet ihre Grenze dort, wo die Wirksamkeit der Zustellung aus Gründen der Rechtssicherheit nicht von späteren Entwicklungen abhängen darf (siehe zu dem ein gerichtliches Ermessen einräumenden § 187 ZPO a.F. Wenzel, a.a.O.; demgegenüber tritt nach § 189 ZPO n.F. eine Heilung kraft Gesetzes ein, vgl. Wolst, a.a.O.). Wegen des Gebotes der Rechtssicherheit ist § 189 ZPO n.F. auf vor dem 1. Juli 2002 abgeschlossene Sachverhalte nicht anzuwenden (im Ergebnis ebenso BGH in NJW 2003, 1192, 1193).

So verhält es sich hier. Der dem Aussetzungswiderruf zugrunde liegende Sachverhalt war vor dem 1. Juli 2002 abgeschlossen. Die Beteiligten, insbesondere der Verurteilte haben ihr Verhalten nicht an der erst späteren Rechtslage ausrichten müssen. Der Aussetzungsbeschluss, der Zustellungsversuch und der tatsächliche Zugang des Beschlusses lagen im Januar 1998; die Bewährungszeit war nicht, wie es § 56 a Abs. 2 S. 1 StGB entsprochen hätte, nach einer - erst mit Rechtskraft der Entscheidung in Lauf gesetzten - Zeiteinheit, sondern kalendarisch bis zum 31. Januar 2001 bestimmt und am 14. April 2000 bis zum 31. Januar 2002 verlängert worden; die Anlasstat für den jetzt angefochtenen Aussetzungswiderruf lag im Juli 2001 und ist am 28. Januar 2002 sowie 26. Juni 2002 durch die französischen Gerichte abgeurteilt worden; zum deshalb erwogenen Widerruf ist der Verurteilte erstmals im Januar 2003 gehört worden. Nach allem würde eine Fiktion der Zustellung auf den 30. Januar 1998 durch den am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen § 189 ZPO n.F. gleichsam retroaktiv wirken und mit der Rechtssicherheit unvereinbar sein (allgemein zur vom Rechtsstaatsprinzip umfassten Beständigkeit staatlicher Regelungen und zur grundsätzlichen Unzulässigkeit, abgeschlossene Rechtsbeziehungen nachträglich veränderten Regelungen zu unterwerfen, vgl. Sachs, a.a.O., Rdn. 131 ff. mit Nachweisen zur BVerfG-Rspr.).

4. Der dem Verurteilten am 19. April 2000 - wirksam - zugestellte Beschluss vom 14. April 2000 über die Verlängerung der Bewährungszeit enthielt keine Anordnung der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung, sondern setzte eine schon früher getroffene Anordnung voraus. Schon deshalb vermochte die Zustellung des Verlängerungsbeschlusses die Zustellung des Aussetzungsbeschlusses nicht zu ersetzen.

Entsprechendes gilt für den - dem Verurteilten am 17. Februar 1998 wirksam zugestellten - Beschluss vom 12. Februar 1998 über die Bestellung des Bewährungshelfers Kölzow.

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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