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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 06.02.2004
Aktenzeichen: II-112/03
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 3 Abs. 1
AuslG § 55 Abs. 2
AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1
Die Verurteilung eines vollziehbar ausreisepflichten Ausländers, der keine Duldung innehat, wegen unerlaubten Aufenthaltes im Bundesgebiet erfordert keine Feststellungen zum Fehlen der materiellen Voraussetzungen zur Erteilung einer Duldung, wenn der Ausländerbehörde der Aufenthalt des Ausländers unbekannt ist, insbesondere er sich verborgen hält.
Hanseatisches Oberlandesgericht 2. Strafsenat Beschluss

II-112/03

In der Strafsache

hier betreffend Revision des Angeklagten gegen das Urteil der Abteilung 182 des Amtsgerichts Hamburg vom 8. Juli 2003

hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 6. Februar 2004 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Harder die Richterin am Oberlandesgericht Schlage die Richterin am Landgericht Woitas

einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Revision des Angeklagten wird verworfen.

Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Hamburg hat den Angeklagten am 8. Juli 2003 wegen illegalen Aufenthaltes - begangen zwischen 1. März 2001 und 11. Juni 2003 - zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Dagegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Sprungrevision des Angeklagten, deren Verwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO die Generalstaatsanwaltschaft beantragt hat.

Die zulässige Revision des Angeklagten ist unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen tragenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

II.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass auf der Grundlage der Feststellungen der Angeklagte sich nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar gemacht hat. Entgegen der Auffassung der Revision war das Amtsgericht auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (in NStZ 2003, 488) nicht veranlasst, Feststellungen dazu zu treffen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG vorlagen.

1. Nach den Feststellungen zur Vorgeschichte war der Angeklagte als chinesischer Staatsangehöriger unter Aliaspersonalien nach erfolglosem Asylverfahren im April 2000 aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschoben worden, war entgegen damit einhergehender Wiedereinreisesperre im Dezember 2000 nach Deutschland zurückgekehrt, hatte sich anschließend im Inland aufgehalten, war am 5. Januar 2001 in Haft genommen und am 1. März 2001 durch das Amtsgericht Hamburg "wegen illegaler Einreise in Tateinheit mit illegalem Aufenthalt jeweils nach erfolgter Abschiebung und wegen Diebstahls" zu vier Monaten zwei Wochen Gesamtfreiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden (UA S. 2 unten/3 oben; nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe auf eigener Überzeugung des Amtsgerichts beruhende Feststellungen zum Vorverhalten des Angeklagten statt Feststellung allein des dem Vorstrafurteil vom 1. März 2001 zugrunde gelegten Sachverhalts; zu dieser Unterscheidung vgl. BGHSt 43, 106, 107 f und zuletzt BayObLG in NZV 2004, 48).

Der vorliegende Schuldspruch ist darauf gestützt, dass der Angeklagte nach seiner Entlassung aus Untersuchungshaft vom 1. März 2001 untertauchte (UA S. 4, 6) und sich bis zu seiner erneuten Festnahme am 11. Juni 2003 ohne Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung in Deutschland, vornehmlich Hamburg, aufhielt. Aus Furcht vor einer neuerlichen Abschiebung meldete er sich weder bei der Ausländerbehörde in Hamburg noch bemühte er sich in sonstiger Weise um eine ausländerrechtliche Legitimation seines Aufenthaltes. Monate vor dem 10. Juni 2003 verlor er seinen Reisepass; am 10. Juni 2003 beantragte er bei dem chinesischen Konsulat in Hamburg die Ausstellung eines neuen Reisepasses, um zu seiner Familie und seinem erkrankten Vater in sein Heimatland zurückzukehren.

2. Damit hat der Angeklagte jedenfalls in der Zeit von Anfang März 2001 bis Anfang 2003 rechtswidrig, vorsätzlich und schuldhaft den Straftatbestand des unerlaubten Aufenthaltes nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG verwirklicht.

a) Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 S. 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt. Der Angeklagte als chinesischer Staatsangehöriger bedurfte gemäß § 3 Abs. 1 AuslG einer Aufenthaltsgenehmigung. Eine solche hatte er ebenso wenig wie eine Duldung inne.

Abweichend vom Wortlaut des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG hat das Bundesverfassungsgericht diesen Straftatbestand von Verfassungs wegen dahin einschränkend ausgelegt, dass ihm ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer nicht unterfällt, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben sind (BVerfG in NStZ 2003, 488; dem folgend OLG Frankfurt/Main in NStZ-RR 2003, 308; HansOLG Hamburg, 1. Strafsenat, Beschluss vom 18. Juni 2003, Az.: I - 83/03; a.A. vor der Entscheidung des BVerfG die obergerichtliche Fachrechtsprechung, so KG in NStZ-RR 2002, 220; OLG Frankfurt/Main in NStZ-RR 2001, 57). Dem liegt zugrunde, dass gemäß § 55 Abs. 2 AuslG ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält, jedoch das Gesetz keine tatsächliche Hinnahme des Aufenthaltes außerhalb der Duldung vorsieht, wenn nicht die Vollstreckung der Ausreisepflicht verzögerungsfrei betrieben wird (BVerwGE 111, 62, 65, 67). Die Duldung ist grundsätzlich von Amts wegen zu erteilen; ob die Unmöglichkeit der Abschiebung auf vom Ausländer zu vertretenden Umständen - z.B. ungeklärter Identität - beruht, bleibt nach verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rechtsprechung ohne Belang (BVerfG, a.a.O.; BVerwG, a.a.O., 64, 66).

Vorliegend war der Angeklagte vollziehbar ausreisepflichtig (§ 42 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AuslG). Seine Abschiebung (§ 49 Abs. 1 AuslG) ist nicht betrieben worden. Dennoch war die Ausländerbehörde nicht verpflichtet, ihm gemäß § 55 Abs. 2 AuslG eine Duldung zu erteilen:

Ist nämlich der Aufenthalt eines Ausländers im Inland der Ausländerbehörde unbekannt bzw. hält er sich im Inland verborgen, ist die Behörde nicht veranlasst, ihm eine Duldung zu erteilen (vgl. Renner, Ausländerrecht in Deutschland, Rnd. 731; im Ergebnis ebenso Mosbacher, Anm. zu BVerfG, in NStZ 2003, 489, 490). Eine Entscheidung über Abschiebung oder Duldung ist in dieser Situation von Amts wegen nicht geboten. Dass einem Ausländer, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet unbekannt ist, keine Duldung erteilt wird, bestimmt nicht allein die Verwaltungsvorschrift der Nr. 55.1.5 AuslG-VV, sondern findet eine gesetzliche Grundlage in §§ 67 Abs. 1, 70 Abs. 1 AuslG. Gemäß § 67 Abs. 1 S. 1, 2 AuslG wird über den Aufenthalt von Ausländern auf der Grundlage der im Bundesgebiet bekannten Umstände und zugänglichen Erkenntnisse entschieden; gemäß Satz 2 dieser Vorschrift entscheidet die Ausländerbehörde über das Vorliegen von in § 53 AuslG bezeichneten Abschiebungshindernissen gleichfalls auf einer solchen Grundlage und, soweit im Einzelfall erforderlich, anhand der den Bundesbehörden außerhalb des Bundesgebietes zugänglichen Erkenntnisse. Nach § 70 Abs. 1 AuslG trifft den Ausländer für seine Belange und ihn günstige Umstände eine Darlegungs- und Nachweisobliegenheit. Ist der Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet schon dem Grunde nach unbekannt, fehlt es an im Sinne des § 67 Abs. 1 AuslG bekannten Umständen und zugänglichen Erkenntnissen, die eine amtswegige Entscheidungspflicht auslösen könnten. Ist der Ausländer untergetaucht und verfügt die Ausländerbehörde über keine Informationen zu seinen tatsächlichen Verhältnissen, fehlt es an einer Grundlage für die Entscheidung, ob die Abschiebungs- oder Duldungsvoraussetzungen gegeben sind.

Die Annahme einer Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG auf der Grundlage der hier festgestellten Tatsachen steht nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.). In dem dort entschiedenen Fall war die dem Ausländer erteilte Aufenthaltsgestattung am 1. Juli 2000 abgelaufen und verblieb er mit Kenntnis der Ausländerbehörde im Inland, ohne dass die Behörde über längere Zeit seine Abschiebung betrieb oder eine Duldung erteilte; erst am 28. März 2001 wurde die Duldung bewilligt. Diese zwischenzeitliche Entscheidungsabstinenz hat das Bundesverfassungsgericht als willkürlich bewertet und beanstandet, bei Tatbestandsmäßigkeit allein schon des Nichtvorliegens einer Duldung werde es in das Ermessen der Ausländerbehörde gestellt, durch gesetzwidriges Zuwarten mit der Entscheidung zu bestimmen, ob und in welchem Umfang der Ausländer sich strafbar mache. Vorliegend hingegen war die Ausländerbehörde gesetzlich nicht zur Entscheidung verpflichtet; folglich hat sie nicht gesetzwidrig steuern können, ob und wann eine Strafbarkeit des Angeklagten eintrat. Damit übereinstimmend nehmen Teile des Schrifttums und der Praxis, die auf das Fehlen eines Duldungsanspruches abstellen, bei nicht erteilter Duldung eine Strafbarkeit für diejenigen Fälle an, in denen der Ausländer oder dessen Aufenthalt der Ausländerbehörde unbekannt sind (vgl. nur Mosbacher, a.a.O.; siehe auch AG Tiergarten in StV 1999, 260, 261).

Entgegen der mit der Revision vertretenen Auffassung ist das Amtsgericht auch nicht von der Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg abgewichen. Den Gründen des Beschlusses vom 18. Juni 2003 (Az.: I - 83/03) zufolge war der dortige Angeklagte bis 1998 geduldet worden und hatte sodann keine Anträge auf Verlängerung der Duldung mehr gestellt; für eine Unkenntnis der Ausländerbehörde vom andauernden Aufenthalt des Ausländers ist nichts ersichtlich.

b) Dem Angeklagten war die Ausreise aus dem Bundesgebiet jedenfalls von Anfang März 2001 bis Anfang 2003 möglich und zumutbar.

Den Feststellungen zufolge hatte der Angeklagte Monate vor der Antragstellung beim chinesischen Konsulat am 10. Juni 2003 seinen Reisepass verloren. Die Urteilsgründe verhalten sich nicht dazu, ob er auch ohne Pass hätte ausreisen können bzw. ob und wann nach sofortiger Beantragung eines neuen Passes dieser ausgestellt worden wäre. Ob damit für die Zeit nach Passverlust eine Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise nicht ausgeschlossen werden kann und ob diesen Kriterien in der vorliegenden Fallgestaltung strafrechtliche Relevanz wegen einer Unterlassungstäterschaft zukommt (str., ob positives Tun durch Verbleiben - so OLG Frankfurt/Main in NStZ-RR 2001, 57, 58 f - oder Unterlassen durch Nichtausreise - so KG in NStZ-RR 2002, 220, 221; allgemein zur normativen Betrachtung bei der Abgrenzung von Handeln und Unterlassen zuletzt BGH in NStZ 2003, 657), kann dahinstehen. Der Schuldspruch bleibt unberührt. Es kann auch sicher ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht bei Zugrundelegung eines verkürzten Tatzeitraums von knapp zwei Jahren statt zwei Jahren drei Monaten auf eine geringere Rechtsfolge als die verhängten sechs Monate Freiheitsstrafe erkannt hätte. Strafschärfend hat es nicht allein die Dauer des unerlaubten Aufenthaltes, sondern wesentlich auch die Tatbegehung unmittelbar nach der Verurteilung u.a. wegen gleichartigen Deliktes zu einer Freiheitsstrafe (während laufender Bewährung) und nach Entlassung aus der (fast zwei Monate vollzogenen) Untersuchungshaft herangezogen.

Ende der Entscheidung

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