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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 14.06.2005
Aktenzeichen: 1 Ss 171/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140
StPO § 338
Die Schwere der Tat im Sinne des § 140 StPO beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung.
Beschluss

wegen Diebstahls

Auf die (Sprung-)Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 24. November 2004 und auf ihren Antrag vom 3. Februar 2005 auf Bestellung von Rechtsanwalt S. in Köln zu ihrem Pflichtverteidiger hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 14. 06. 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Antrag auf Bestellung von Rechtsanwalt S. in Köln zum Pflichtverteidiger der Angeklagten wird zurückgewiesen, soweit er sich auf das Revisionsverfahren bezieht (Entscheidung des Vorsitzenden).

2. Das angefochtene Urteil wird mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung (Strafrichter) des Amtsgerichts Kamen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Kamen hat die in Serbien geborene und inzwischen in ihren Heimatstaat Bosnien-Herzegowina abgeschobene Angeklagte mit Urteil vom 24. November 2004 wegen Diebstahls, begangen am 22. August 2003, zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5,- € verurteilt. Die zugrunde liegenden Feststellungen hat das Amtsgericht auf die geständige Einlassung der Angeklagten und die damit übereinstimmende Aussage der zeugenschaftlich vernommenen Geschädigten gestützt. Ein Verteidiger hat an der unter Mitwirkung einer Dolmetscherin durchgeführten Hauptverhandlung nicht teilgenommen. Der von der Angeklagten mit schriftlicher Erklärung vom 20. Oktober 2004 beauftragte (Wahl-)Verteidiger Rechtsanwalt S. in Köln hatte dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 23. November 2004 mitgeteilt, dass er an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen werde, nachdem sein Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger mit Beschluss des Amtsgerichts Kamen vom 10. November 2004 zurückgewiesen und die dagegen gerichtete Beschwerde erfolglos geblieben war.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 24. November 2004 richtet sich die (Sprung-)Revision der Angeklagten, mit der sie mit näheren Ausführungen die (Verfahrens-)Rüge der Verletzung der §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO sowie die Rüge der Verletzung materiellen Rechts erhebt.

II.

Die Revision der Angeklagten hat mit der ordnungsgemäß erhobenen (Verfahrens-)Rüge der Verletzung der §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO einen zumindest vorläufigen Erfolg. Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht hat ohne Verteidiger stattgefunden, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig war. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers war vorliegend bereits wegen der Schwere der Tat nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO gebotenDie Schwere der Tat beurteilt sich nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach heute überwiegender und vom Senat geteilter Auffassung wird jedenfalls bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung die Mitwirkung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat für notwendig erachtet (vgl. hierzu OLG Hamm StV 2004, 586; NStZ-RR 2001, 107; StV 1993, 180; OLG Düsseldorf VRS 89, 367; OLG Frankfurt StV 1995, 628; BayObLG NJW 1995, 2738; KG StV 1989, 412; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 140 Rdnr. 23). Darüber hinaus sind neben der eigentlichen Straferwartung auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu erwarten hat, zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., m.w.N.). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lag hier ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Zwar ist die Angeklagte durch das angefochtene Urteil lediglich zu einer Geldstrafe, nämlich einer solchen in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 5,- €, verurteilt worden, wobei der Tatrichter ausweislich der Urteilsgründe insbesondere im Hinblick auf die in der Zeit vom 7. Oktober bis zum Tag der Hauptverhandlung erlittene Untersuchungshaft eine Geldstrafe für ausreichend erachtete. Allerdings kam unter Berücksichtigung weiterer, in der Zeit zwischen Dezember 2003 und Oktober 2004 erfolgter Verurteilungen, die in dem in der Hauptverhandlung verlesenen - zeitlich überholten - Bundeszentralregisterauszug vom 31. Oktober 2003 und demgemäß in dem Urteil des Amtsgerichts Kamen nicht erwähnt sind, jedoch in der Revisionsrechtfertigungsschrift und dem darin wiedergegebenen Urteil des Amtsgerichts Siegburg vom 20. Oktober 2004 (204 Ds 221/04 - 330 Js 55/04 -) mitgeteilt worden, die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber - ohne Strafaussetzung zur Bewährung - durchaus in Betracht. So war die Angeklagte vom Amtsgericht Köln am 4. Dezember 2003, rechtskräftig seit dem 12. Dezember 2003, wegen versuchten Diebstahls und Erschleichens von Leistungen, begangen am 3. März 2003, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde (42 Js 284/03 - 525 Ds 328/03 -). Ferner hatte das Amtsgericht Siegen die Angeklagte am 11. Dezember 2003, rechtskräftig seit dem 13. April 2004, wegen gemeinschaftlichen Diebstahls, begangen am 8. November 2003, zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5,- € verurteilt (213 Js 649/03 - 40 Ds K 131/03 -). In der Revisionsbegründung wird ferner auf das Verfahren 23 Ds 658/03 AG Solingen hingewiesen, in dem gegen die Angeklagte wegen eines am 15. September 2003 begangenen Diebstahls eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 5,- € verhängt worden war. Ob diese Entscheidung, deren Erlasszeitpunkt nicht mitgeteilt wird, rechtskräftig geworden ist, bleibt nach der Revisionsrechtfertigung unklar. Gleiches gilt für das darin vollständig wiedergegebene Urteil des Amtsgerichts Siegburg vom 20. Oktober 2004 (204 Ds 121/04 - 330 Js 55/04 -), mit dem die Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Computerbetruges und wegen gemeinschaftlichen Diebstahls, begangen am 21. Oktober 2003 und am 4. November 2003, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist. Sämtliche der den genannten, vom Amtsgericht Kamen nicht berücksichtigten Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten wurden, ebenso wie die vom Amtsgericht Kamen in dem angefochtenen Urteil abgeurteilte Tat vom 22. August 2003, vor der Verurteilung durch das Amtsgericht Köln am 4. Dezember 2003 begangen. Demnach hätte das Amtsgericht Kamen die Strafen aus den Entscheidungen des Amtsgerichts Köln vom 4. Dezember 2003 und des Amtsgerichts Siegen vom 11. Dezember 2003 (die dort verhängte Geldstrafe war am 24. November 2004, wie sich aus der VG 10 vom 23. November 2004 Bl. 121 d.A. ergibt, im Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht vollständig erledigt) sowie ggf. die vom Amtsgericht Solingen im Verfahren 23 Ds 658/03 verhängte Geldstrafe von 50 Tagessätzen (im Falle der Rechtskraft und der Nichterledigung) und (für den Fall der Rechtskraft) auch die vom Amtsgericht Siegburg mit Urteil vom 20. Oktober 2004 verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten bzw. die zugrunde liegenden Einzelstrafen von zwei Monaten und fünf Monaten Freiheitsstrafe nach Maßgabe der §§ 53, 54 und 55 StGB einbeziehen und aus ihnen eine neue Gesamtstrafe - ggf. unter Anwendung des § 53 Abs. 2 S. 2 StGB - bilden müssen. Die Angeklagte musste im vorliegenden Verfahren bei objektiver Betrachtungsweise unter Berücksichtigung dieser jüngeren Verurteilungen durchaus mit einer erheblich über einem Jahr liegenden Gesamtfreiheitsstrafe rechnen. Im Hinblick auf die dann einschlägige Regelung des § 56 Abs. 2 StGB, nach der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr nur unter besonderen Umständen zur Bewährung ausgesetzt werden kann, sowie angesichts der weiteren Einschränkung der Möglichkeit der Strafaussetzung, wie sie § 56 Abs. 3 StGB für Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten vorsieht, drohte der Angeklagten bei der gebotenen Berücksichtigung der jüngsten, jedenfalls zum Teil einzubeziehenden Verurteilungen eine deutlich über einem Jahr liegende, nicht zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe. Bereits aus diesem Grund war die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat notwendig.

Zudem war die Rechtslage, objektiv betrachtet, wegen der Notwendigkeit einer Prüfung, welche der in der Zeit von Dezember 2003 bis Oktober 2004 durch Entscheidungen anderer Gerichte verhängten Strafen nach den §§ 53, 54, 55 StGB einzubeziehen waren, sowie wegen der in diesem Zusammenhang eventuell aufgeworfenen Frage eines etwaigen Härteausgleichs bei zwischenzeitlicher Erledigung (zu vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 55 Rdnr. 17, 21 ff.), durchaus schwierig, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorlag.

Schließlich durfte auch die verminderte Verteidigungsfähigkeit der Angeklagten, die der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung zusätzliches Gewicht verlieh, bei der Frage nach der Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO nicht unberücksichtigt bleiben. Die Fähigkeit zur Selbstverteidigung der auf strafrechtlichem Gebiet nicht unerfahrenen Angeklagten war vorliegend deshalb eingeschränkt, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig und - nach dem unwiderlegten Vorbringen ihres Verteidigers - Analphabetin ist.

Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände, zu denen auch die in der Zeit vom 7. Oktober 2004 bis zum Hauptverhandlungstag vollzogene Untersuchungshaft zählt, war die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung notwendig. Da der damit festzustellende Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO darstellt, war das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung (Strafrichter) des Amtsgerichts Kamen zurückzuverweisen.

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers für das Revisionsverfahren kam nicht in Betracht, da keine Revisionshauptverhandlung stattfindet (vgl. § 350 Abs. 3 StPO). Soweit die Angeklagte (erneut) die Beiordnung ihres Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger im - neuen - Hauptverfahren begehrt, hat über diesen Antrag der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zu befinden.

Ende der Entscheidung

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