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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 01.02.2005
Aktenzeichen: 1 Ss 31/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 206a
StPO § 232
§ 232 Abs. 1 StPO erlaubt die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nur, wenn dieser einer mit dem Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens verbundenen Ladung keine Folge leistet und er Hauptverhandlung schuldhaft fernbleibt.
Beschluss

Strafsache

gegen W.H.

wegen fahrlässiger Körperverletzung

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Detmold vom 15. Oktober 2004 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 01. 02. 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Detmold zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht Detmold den Angeklagten in Abwesenheit wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen in Höhe von je 25,- € verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte beim Abbiegen einen ihm entgegenkommenden Motorradfahrer, den Zeugen W., übersehen, so dass es zum Zusammenstoß kam, wobei der Zeuge erheblich verletzt wurde.

Der Hauptverhandlung war folgendes Geschehen vorausgegangen:

Das Amtsgericht Detmold hatte am 3. Juni 2004 Strafbefehl gegen den Angeklagten erlassen, gegen den dieser mit Schreiben seines Verteidigers vom 18. Juni 2004 Einspruch eingelegt hatte. Das Amtsgericht hatte daraufhin Termin zur Hauptverhandlung bestimmt auf den 6. August 2004. Mit Schreiben vom 16. Juli 2004 hat der Verteidiger mitgeteilt, dass der Angeklagte sich derzeit in einem sehr angegriffenen Gesundheitszustand befinde und ein stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich sei. Nach der Mitteilung des Amtsgerichts, dass eine Terminsverlegung nur in Frage komme, wenn aussagekräftige Unterlagen vorgelegt würden, aus denen sich eine Verhandlungsunfähigkeit ersehen ließe, hat der Verteidiger mit Schreiben vom 28. Juli 2004 das Gericht davon in Kenntnis gesetzt, dass der Angeklagte sich seit dem 23. Juli 2004 im Krankenhaus befinde; eine ärztliche Bescheinigung werde nachgereicht. Nach Einreichung einer ärztlichen Bescheinigung, wonach der Angeklagte sich wegen Verhaltensauffälligkeiten bei beginnender Demenz seit dem 23. Juli 2004 in stationärer Behandlung befinde und diese Behandlung voraussichtlich noch vier bis sechs Wochen andauern werde, hat das Amtsgericht den Termin zur Hauptverhandlung vom 6. August 2004 wegen Verhinderung des Verteidigers auf den 15. Oktober 2004 verlegt. Mit Schriftsatz vom 1. September 2004 hat der Verteidiger das Amtsgericht davon in Kenntnis gesetzt, dass aufgrund der gegebenen zeitlichen und räumlichen Desorientiertheit derzeit geprüft werde, ob eine Betreuung einzurichten sei. Mit Schreiben vom 7. Oktober 2004 hat der Verteidiger mitgeteilt, dass eine Betreuung eingerichtet sei. Darüber hinaus hat er gebeten, mit Rücksicht auf dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten den Termin zur Hauptverhandlung aufzuheben bzw. das Verfahren einzustellen. Mit Telefax vom 12. Oktober 2004 hat der Verteidiger eine nervenärztliche Bescheinigung des Dr. med. P. eingereicht, wonach sich der Angeklagte wegen einer senilen Demenz in ärztlicher Behandlung befindet und aufgrund dieser Erkrankung als ver-handlungsunfähig anzusehen sei, da seine Belastbarkeit sehr gering sei, er in be-lastenden Situationen entsprechend schnell dekompensiere und dann zu verwert-baren Aussagen nicht mehr in der Lage sei. Das Amtsgericht hat daraufhin unter dem 13. Oktober 2004 dem Verteidiger mitgeteilt, dass der Termin aufrechterhalten bleibe, da das Gericht nach § 232 StPO zu verhandeln gedenke. Da der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht erschienen war, hat das Amtsgericht das oben an-gegebene Abwesenheitsurteil gefällt.

Im Hinblick auf die von der Verteidigung geltend gemachte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten hat das Amtsgericht im Urteil ausgeführt:

"Entgegen der Auffassung der Verteidigung ist das Verfahren nicht nach § 206 a StPO einzustellen. Dass der Angeklagte verhandlungsunfähig ist, läßt sich nicht feststellen. Zwar leidet der Angeklagte an einer Demenz des gemischten Types bei ausgeprägter arteriosklerotischer Encephalopathie, jedoch ist dies für sich alleine kein Grund, von einer Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten auszugehen. Um zu einer Einstellung nach § 206 a StPO zu gelangen, hätte das Gericht die dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten feststellen müssen. Dies war dem Gericht nicht möglich, da der Angeklagte trotz mehrfacher Hinweise des Gerichts nicht zu dem Hauptverhandlungstermin erschien. Da der Zweifelssatz nicht auf Verfahrensgrundsätze anzuwenden ist, vermochte das Gericht keine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit im Sinne des § 206 a StPO festzustellen."

Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Er macht insbesondere mit näheren Ausführungen geltend, dass das Amtsgericht unter Verstoß gegen § 232 StPO in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt hat.

II.

Die Revision hat mit der in zulässiger Weise ausgeführten (Verfahrens-)Rüge der Verletzung des § 232 StPO einen zumindest vorläufigen Erfolg.

Zu Recht beanstandet die Revision, dass nicht in Abwesenheit des Angeklagten hätte verhandelt und entschieden werden dürfen, da die Voraussetzungen des § 232 Abs. 1 StPO, auf die das Amtsgericht seine Vorgehensweise gestützt hat, nicht vorgelegen haben, so dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben ist.

§ 232 Abs. 1 StPO ermöglicht eine Vereinfachung des Verfahrens in Strafsachen von geringer Bedeutung. Das Gericht braucht in solchen Fällen die Anwesenheit des Angeklagten nicht zu erzwingen, sondern kann unter den in Absatz 1 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen ohne den ausgebliebenen Angeklagten verhandeln (Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 232 Rdnr. 1). Voraussetzungen des § 232 Abs. 1 StPO erschöpfen sich allerdings nicht darin, dass der Angeklagte einer ordnungsgemäßen, mit dem Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens verbundenen Ladung keine Folge leistet. Über den Wortlaut des § 232 Abs. 1 StPO hinaus ist, der Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten entsprechend, vielmehr weitere Bedingung für ein Verhandeln in Abwesenheit des Angeklagten, dass dieser der Hauptverhandlung schuldhaft fernbleibt (OLG Karlsruhe, NStZ 1990, 505; OLG Frankfurt NJW 1952, 1107; OLG Düsseldorf NJW 1962, 2022; Meyer-Goßner, a.a.O., § 232 Rdnr. 11; KK-Tolksdorf, StPO, 5. Aufl., § 232 Rdnr. 3, der insoweit "eigenmächtiges Verhalten" fordert). Dabei ist es nicht Sache des Angeklagten, den Verdacht der Eigenmächtigkeit auszuräumen, sie muss ihm vielmehr zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden (Meyer-Goßner, a.a.O., § 231 Rdnr. 11 m.w.N.).

Ein schuldhaftes Ausbleiben des Angeklagten hat das Amtsgericht vorliegend jedoch nicht festgestellt.

War der Angeklagte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung tatsächlich verhandlungsunfähig, so kann ihm nicht angelastet werden, dass er der Hauptverhandlung ferngeblieben ist. Der Neurologe Dr. P. hat dem Angeklagten Verhandlungsunfähigkeit attestiert, da seine Belastbarkeit sehr gering sei, er in belastenden Situationen entsprechend schnell dekompensiere und dann zu verwertbaren Aussagen nicht mehr in der Lage sei. Die strafrechtliche Verhandlungsfähigkeit setzt aber voraus, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen. Dabei ist für die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit in der Tatsacheninstanz zu beachten, dass die Einlassung des Angeklagten wesentliches Beweismittel ist und dass der Angeklagte selbst Anträge stellen und Zeugen befragen kann. Der Angeklagte wird vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger angehört. Diese Rechte geben ihm die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von seinen Verteidigern mit zu gestalten und sich so zu verteidigen (BGH NStZ 1996, 242).

Das ärztliche Attest des Dr. P. spricht gegen das Vorliegen einer Verhandlungsfähigkeit in diesem Sinne. Hatte das Amtsgericht gleichwohl insoweit Zweifel, so musste es ein ärztliches Gutachten zu dieser Frage einholen. Nur auf diese Weise konnte zuverlässig festgestellt werden, ob überhaupt Verhandlungsunfähigkeit gegeben war, ob diese nur vorübergehender Natur war oder ob von dauernder Verhandlungsunfähigkeit auszugehen war. Denn das Amtsgericht verfügt nicht über die nötige eigene Sachkunde, um diese Frage allein entscheiden zu können, insbesondere nicht bei dem in dem ärztlichen Attest beschriebenen Krankheitsbild. Schon deswegen rechtfertigt die Begründung des Amtsgerichts, das erkennende Gericht habe sich selbst ein Bild von der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten machen wollen, die eingeschlagene Verfahrensweise nicht. Abgesehen davon setzt die Durchführung einer Hauptverhandlung nach § 232 StPO gerade die vorher zu treffende Entscheidung darüber, ob Verhandlungsunfähigkeit auf Seiten des Angeklagten vorliegt oder nicht, voraus.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Detmold zurückzuverweisen. Das Amtsgericht wird bei Fortführung des Verfahrens entsprechend dem Ergebnis des von ihm einzuholenden ärztlichen Gutachtens zu entscheiden haben, ob der Angeklagte verhandlungsfähig ist und ob dann eine Verfahrensweise nach § 232 StPO in Betracht kommt oder ob das Verfahren nach § 205 StPO oder § 206 a StPO einzustellen ist.

Ende der Entscheidung

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