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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 02.04.2001
Aktenzeichen: 13 U 148/00
Rechtsgebiete: ZPO, BGB, StVO, StVG, PflVG


Vorschriften:

ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 286
ZPO § 287 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
BGB § 847 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 2
BGB § 249 f.
StVO § 1 Abs. 2
StVO § 9 Abs. 5
StVG § 7 Abs. 1
StVG § 18 Abs. 1
PflVG § 3 Nr. 1
PflVG § 2
Leitsatz:

1.)

Die Zurechnung eines psychischen Folgeschadens setzt voraus, daß eine mehr als nur geringfügige Primärverletzung feststeht, es sei denn, die Verletzung trifft gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten; Maßstab für die Beurteilung der Geringfügigkeit sind die Grundsätze, welche hinsichtlich der Versagung eines Schmerzensgeldes bei Bagatellverletzungen Anwendung findet (im Anschluß an BGH NJW 1996, 2425-11998, 810; 2000, 862).

2.)

Einem Unfall sind psychisch vermittelte gesundheitliche Beeinträchtigungen dann nicht mehr zurechenbar, wenn bereits der Unfall selbst als Bagatelle einzustufen ist, weil er nach seinem Ablauf und Auswirkungen keinen verständlichen Anlaß für psychische Reaktionen bietet, die über das Maß dessen hinausgehen, was im Alltagsleben als typische und häufig auch aus anderen Gründen entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens hinzunehmen ist.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

13 U 148/00 OLG Hamm 14 O 38/99 LG Münster

Verkündet am 2. April 2001

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2001 durch die Richter am Oberlandesgericht Zumdick und Walter sowie die Richterin am Landgericht Kirchhoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 18. Mai 2000 verkündete Urteil der 14. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert die Klägerin in Höhe von 15.048,00 DM.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat nicht bewiesen, dass die von ihr geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch den Verkehrsunfall vom 1998 in R verursacht wurden.

I.

Der Klägerin stehen gegen die Beklagten als Gesamtschuldner keine Ansprüche auf Schmerzensgeld und materiellen Schadenersatz aus eigenem und abgetretenem Recht gem. den §§ 847 Abs. 1, 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 Abs. 2, 9 Abs. 5 StVO, 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 249 f. BGB, 3 Nr. 1, 2 PflVG zu.

1.

Die Beklagten haften - was zwischen den Parteien außer Streit steht - dem Grunde nach im vollen Umfang für unfallursächliche Schäden. Denn die Beklagte zu 1) verursachte allein schuldhaft den Verkehrsunfall, indem sie unter Missachtung der Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO rückwärts aus einer Parklücke fuhr und dabei mit dem von der Klägerin geführten Pkw kollidierte.

2.

Streit besteht zwischen den Parteien bezüglich der Unfallursächlichkeit der von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Bezüglich der Frage, ob ein Unfall zu einer Verletzung geführt hat, obliegt dem Anspruchsteller der Vollbeweis gem. § 286 ZPO (BGH VersA 1986, 1121; OLG Hamm, VersA 1999, 990). Nur wenn der erste Verletzungserfolg feststeht, kommt für die Weiterentwicklung des Schadens dem Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 Abs. 1 ZPO zugute, wobei hier eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt (vgl. etwa Senat, OLGA 1995, 258). Im Rahmen des § 286 ZPO ist für die Überzeugungsbildung des Gerichts zwar keine mathematisch oder medizinisch notwendige Sicherheit erforderlich, wohl aber ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, dass sie vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig auszuschließen (BGHZ 53, 245 - 256 -; NJW 1994, 801, 802; Thomas/Putzo, 21. Auflage, Rnr. 2 zu § 286 ZPO; Zöller-Greger, 21. Auflage, Rnr. 19 zu § 286 ZPO).

a)

Die Klägerin hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen, dass der Unfall zu einer Verletzung führte.

aa)

Die Klägerin ist nach ihren eigenen Angaben weder mit dem Kopf noch der Schulter aufgrund des Unfalls im Fahrzeuginneren angestoßen.

bb)

Im unfallanalytisch-technischen Teil der Begutachtung hat der Sachverständige Dipl.-Ing. S umfassend, nachvollziehbar und überzeugend die unfallbedingten Krafteinwirkungen dargestellt. Er hat auf der Grundlage der Lichtbilder über die Schäden an den unfallbeteiligten Kraftfahrzeugen unter Hinzuziehung von Vergleichsmaterial ausgeführt, dass die Kollisionsgeschwindigkeit des unfallgegnerischen VW Golf maximal 7 km/h betragen habe. Hieraus hat er unter Berücksichtigung der Fahrzeugmassen und der Art des Stoßimpulses eine höchst mögliche unfallbedingte Quergeschwindigkeitsänderung der Klägerin von nur 9, 3 km/h errechnet. Der Sachverständige hat auf dieser Grundlage unter Einbeziehung der Körpergröße der Klägerin und der Karosseriestruktur des Pkw, in dem die Klägerin saß, weiterhin überzeugend ausgeführt, dass wegen der geringen unfallbedingten Krafteinwirkung eine Verletzung der Klägerin aus technischer Sicht nicht zu erklären sei.

cc)

Der Senat hält auch das Gutachten der Sachverständigen Dr. M für überzeugend.

Die Sachverständige hat unter Zugrundelegung des Gutachtens des Sachverständigen S ihre Ausführungen auf breiter Tatsachengrundlage erstattet. Ihr lagen die Untersuchungsbefunde der behandelnden Ärzte vor. Sie hat eigene umfassende Untersuchungen durchgeführt. Bei ihren Ausführungen ist sie nicht einseitig vorgegangen, sondern hat den kontroversen Meinungsstand in der Wissenschaft zu der Problematik des HWS-Schleudertraumas wiedergegeben. Die Sachverständige hat zudem bei der Begutachtung die von der Klägerin herausgestellte Kopfposition beachtet. Sie hat dargelegt, dass keinerlei Anhaltspunkte für eine unfallbedingte Verletzung der Halswirbelsäule der Klägerin vorlägen. Die von der Klägerin vorgetragenen Halswirbelsäulenleiden seien nicht typisch für einen Unfall; sie würden häufig, in der Regel jedoch unfallunabhängig, in der orthopädischen Praxis angetroffen. Die abschließende Bewertung der Sachverständigen, wonach mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne, dass die von der Klägerin geltend gemachten Verletzungen und Verletzungsfolgen durch den Unfall verursacht worden seien, wird von den eingehenden, vollständigen und widerspruchsfreien Ausführungen insgesamt überzeugend getragen.

3.

Die Klägerin vermag auch nicht mit ihrer erstmals in der Berufungsinstanz aufgestellten Behauptung durchzudringen, wonach ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen jedenfalls eine "psychosomatische Reaktion" auf das Unfallgeschehen darstellten und deshalb als adäquat kausale Unfallfolge mit Krankheitswert zu werten seien.

a)

Der Kausalzusammenhang besteht nicht unter dem Gesichtspunkt eines psychischen Folgeschadens.

Denn die Zurechnung eines psychischen Folgeschadens setzt voraus, dass eine mehr als nur geringfügige Primärverletzung feststeht, es sei denn, die Verletzung trifft gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten; Maßstab für die Beurteilung der Geringfügigkeit sind die Grundsätze, welche hinsichtlich der Versagung eines Schmerzensgeldes bei Bagatellverletzungen Anwendung finden (zum Vorstehenden: BGH NJW 1996, 2425, 2426; 1998, 810, 811; 2000, 862, 863). Danach kann bei geringfügigen Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung und ohne Dauerfolgen eine Entschädigung versagt werden, wenn es sich nur um vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens handelt. Damit sind also Beeinträchtigungen gemeint, die sowohl von der Intensität als auch der Art der Primärverletzung her nur ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewohnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein (BGH NJW 1992, 1043; NJW 1998 a.a.O.).

Wie vorangehend unter 2. dargelegt, hat die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen, dass sie aufgrund des Unfalls überhaupt eine Primärverletzung erlitt; im Gegenteil spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Unfall zu keinem Körperschaden führte. Es fehlt also an einer mehr als geringfügigen Verletzung als Anknüpfungspunkt für psychische Folgeschäden.

b)

Es besteht auch kein Anlass, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob die geltend gemachten Beschwerden die Folge einer psychisch vermittelten Einwirkung auf den Körper der Klägerin darstellen.

Es ist allgemein anerkannt, dass eine Gesundheitsbeschädigung i.S. des § 823 Abs. 1 BGB keine physische Einwirkung auf den Körper des Verletzten voraussetzt, vielmehr auch psychisch vermittelt werden kann (z.B. BGH VersR 1971, 905; VersR 1986, 240; NJW 1996, 2425, 2426; Geigel-Rixecker, 23. Auflage, Kap. 1, Rnr. 11, 12; Palandt-Heinrichs, 60. Auflage, Rnr. 69 f. zu Vorbem. v. § 249 BGB). Typisch hierfür ist der Schockschaden, den jemand auf den Tod oder die Verletzung eines anderen erleidet (vgl. hierzu Palandt-Heinrichs, Rnr. 71 zu Vorbem. v. § 249 BGB).

Um eine uferlose Ausweitung der Haftung zu vermeiden, finden jedoch eingrenzende Kriterien Anwendung. So muss etwa bei Schockschäden der Schock im Hinblick auf den Anlass verständlich (adäquat) sein, was zu einer Eingrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten führt (vgl. BGH VersR 1971, 905; Palandt-Heinrichs a.a.O.). Die geltend gemachten Beeinträchtigungen müssen darüber hinaus selbst einen Krankheitswert aufweisen, also eine Gesundheitsbeschädigung i.S. des § 823 Abs. 1 BGB darstellen (z.B. BGH NJW 1996, 2425, 2426).

Es kann dahingestellt bleiben, ob den von der Klägerin behaupteten Beschwerden ein Krankheitswert im oben genannten Sinne zukommt. Denn gesundheitliche Beeinträchtigungen mit Krankheitswert wären dem Schadensereignis jedenfalls deshalb nicht zurechenbar, weil ein Bagatellunfall vorliegt.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat - wie vorangehend unter a) dargelegt - im Rahmen der Problematik des psychischen Folgeschadens die Bagatellverletzung als zurechnungsunterbrechendes Kriterium anerkannt. Nach Auffassung des Senats ist dieser Ansatz auch für die Zurechnung der psychisch vermittelten Gesundheitsverletzung ein angemessenes Abgrenzungskriterium; danach sind einem Unfall psychisch vermittelte gesundheitliche Beeinträchtigungen dann nicht mehr zurechenbar, wenn bereits der Unfall selbst als Bagatelle einzustufen ist, weil er nach seinem Ablauf und Auswirkungen keinen verständlichen Anlass für psychische Reaktionen bietet, die über das Maß dessen hinausgehen, was im Alltagsleben als typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens hinzunehmen ist.

Bei dem in Rede stehenden Unfallereignis handelt es um einen Parkplatzunfall, wie er nach seinem Ablauf und Auswirkungen alltäglich vorkommt. Nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen S lag die Geschwindigkeit der unfallbeteiligten Kraftfahrzeuge bei höchstens 7 km/h. Die Kollision führte bei dem von der Klägerin geführten Kfz nur zu Einbeulungen der beiden Türen (Fahrerseite) um die B-Säule und einer Kontaktspur am hinteren linken Radausschnitt. Die durch den Unfall herbeigeführte Geschwindigkeitsänderung der Klägerin lag im Höchstfalle - wie vorangehend bereits ausgeführt - bei nur 4, 3 km/h. Die Sachverständige Dr. M hat hierzu im Senatstermin ausgeführt, dass eine derartig niedrige Geschwindigkeitsänderung nur eine geringe, im Alltag auch sonst vorkommende Belastung der Halswirbelsäule hervorrufe. Die Klägerin hat auch nicht Tatsachen dargetan, die begründen könnten, dass das Schadensereignis speziell auf eine besondere Schadensanlage getroffen ist; ihr diesbezügliches Vorbringen erschöpft sich lediglich in der pauschalen Behauptung, dass es unfallursächlich zu psychosomatischen Reaktionen mit Krankheitswert gekommen sei.

II.

Mangels bewiesener Kausalität ist der Feststellungsantrag ebenfalls unbegründet.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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