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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 15.05.2000
Aktenzeichen: 13 U 183/99
Rechtsgebiete: StVG, PflVG, BGB, StVO, StVZO, ZPO


Vorschriften:

StVG § 7
StVG § 17
StVG § 18
StVG § 17 Abs. 1
PflVG § 3 Abs. 1 Nr. 1
PflVG § 3 Abs. 1 Nr. 2
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 2
BGB § 847
BGB § 421
BGB § 249 ff.
StVO § 9 Abs. 1 S. 4
StVO § 3 Abs. 3 Nr. 1
StVO § 45 Abs. 6
StVO § 45 Abs. 1 Nr. 3
StVO § 1 Abs. 2
StVO § 2 Abs. 2
StVO § 9 Abs. 1
StVZO § 56
ZPO § 256
ZPO § 91. Abs. 1
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 546 Abs. 2
Leitsatz:

18.000,- DM Schmerzensgeld bei 1/3 Mitverschulden und folgenden Verletzungen:

Tiefe Wunden an Fuß und Knie sowie Defekt an Zehenstrecker und Fußwurzelknochen, Hauttransplantationen, Sensibilitätsstörungen, dauerhafte Bewegungseinschränkungen, Krallenzehen, weitere operative Eingriffe zu erwarten, Tennis- und Fußballspielen nicht mehr möglich.


ODERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

13 U 183/99 OLG Hamm 8 O 137/99 LG Bielefeld

Verkündet am 15. Mai 2000

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 15. Mai 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Brück, den Richter am Oberlandesgericht Zumdick und den Richter am Landgericht Lopez Ramos

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Anschlussberufung der Beklagten gegen das am 19. August 1999 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen - das genannte Urteil abgeändert. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger unter Einbeziehung der landgerichtlichen Verurteilung 965,86 DM nebst 4 % Zinsen seit denn 26. Juni 1997 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiter verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger unter Einbeziehung der landgerichtlichen Verurteilung ein Schmerzensgeld von insgesamt 18.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 26. Juni 1997 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 2/3 des zukünftigen materiellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom 1997 in P sowie den zukünftigen immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 1/3 zu ersetzen; den materiellen Schaden nur insoweit, als Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des ersten Rechtszuges tragen der Kläger 47 %, und die Beklagten 53 %.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 30 % und die Beklagten 70 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert die Beklagten in Höhe von 21.049,20 DM und den Kläger um 8.106,03 DM.

Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 1997 um 15.35 Uhr in P an der Einmündung H Strasse/P ereignete, auf Schmerzensgeld, Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige materielle und immaterielle Schäden in Anspruch.

Der am 1980 geborene Kläger befuhr an diesem Tage mit einem von seiner Mutter gehaltenen Leichtkraftrad Yamaha in P, Ortsteil H die H Straße in Fahrtrichtung I. Vor ihm fuhr in gleicher Richtung der Beklagte zu 1) mit einem bei der Beklagten zu 2) versicherten Ackerschlepper, an dem ein Pflanzenspritzgerät angebaut war. Der Trecker hatte eine Breite von 2,05 m, das Pflanzenspritzgerät eine Breite von 2,90 m. Am Schlepper waren (serienmäßige) Außenspiegel angebracht. In der Höhe schloss das Anbaugerät mit der Fahrerkabine ab. Es war hinten an beiden Seiten mit rotweißen Warntafeln versehen, auf welchen Fahrtrichtungsanzeiger angebracht waren.

Der Kläger und der Beklagte zu 1) fuhren zunächst unter einer Eisenbahnbrücke her. Dort war die Geschwindigkeit wegen Bauarbeiten an der Bahnstrecke auf 30 km/h beschränkt. Die rechte Fahrspur war gesperrt, so dass die Verkehrsteilnehmer die linke Fahrspur benutzen mussten. Ob sich der Kläger nach dem Durchfahren der Baustelle wieder nach rechts einordnete, ist streitig. Hinter der Brücke setzte der Kläger zum Überholen des Beklagten zu 1) an. Als der Kläger im Begriff war, an dem Ackerschlepper vorbeizufahren, bog der Beklagte zu 1) in die Straße "P" ab. Der Kläger prallte aus streitiger Ursache mit dem Krad gegen das vordere linke Rad des Schleppers.

Ob auch an der Unfallstelle die Geschwindigkeit (noch) auf 30 Km/h beschränkt war, ist streitig.

Durch die Kollision wurde das Krad mit dem Kläger in den (in Fahrtrichtung des Klägers gesehen) linken Straßengraben geschleudert. Der Kläger wurde am rechten Bein einschließlich des Fußes erheblich verletzt. Auch gegenwärtig leidet der Kläger noch unter den Folgen der Verletzungen (Krallenzehenbildung).

Er hält ein Schmerzensgeld in Höhe von (zumindest) 35.000,00 DM für angemessen.

Der unfallbedingte Sachschaden des Klägers beträgt unstreitig 2.897,60 DM. Hiervon hat die Beklagte zu 2) vorprozessual ein Drittel (= 965,86 DM) erstattet.

Der Kläger behauptet, er selbst sei an der Unfallstelle mit etwa 45 km/h gefahren. Die zulässige Geschwindigkeit sei dort nicht mehr auf 30 Km/h beschränkt gewesen. Nach dem Durchfahren der Baustelle habe er sich wieder nach rechts eingeordnet und erst danach den Überholvorgang begonnen. Der Beklagte zu 1) habe vor der Unfallsstelle weder geblinkt noch sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet. Dieser habe auch keine signifikante Geschwindigkeitsreduzierung vorgenommen. Offensichtlich habe er nicht der doppelten Rückschaupflicht Rechnung getragen. Durch das angebaute Pflanzenspritzgerät sei eine Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs durch Blick in den Außenspiegel auch gar nicht möglich gewesen. Der Beklagte zu 1) habe daher die Pflicht gehabt, den Schlepper anzuhalten und sich durch einen Blick aus der Fahrerkabine Gewissheit über G rückwärtigen Verkehr zu verschaffen.

Die eingetretene Krallenzehenbildung könne nur durch eine tiefgreifende und großflächige Gewebetransplantation aus einem der Unterarme oder durch eine dauerhafte Durchtrennung der Sehnen behoben werden.

Demgegenüber behaupten die Beklagten, der Kläger sei etwa 95 % bis 100 Km/h schnell gefahren. An der Unfallstelle sei wegen der Baustelle eine Geschwindigkeit von lediglich 30 km/h erlaubt gewesen. Der Beklagte zu 1) habe geblinkt und vor dem Abbiegemanöver seinen Abstand zum rechten Fahrbahnrand erkennbar vergrößert. Vor dem Abbiegen habe er in den Außenspiegel geschaut, den Kläger jedoch nicht wahrgenommen. Dies habe jedoch nicht darauf beruht, dass die Aufbauten eine Sicht nach hinten nicht zuließen. Die Sichtmöglichkeiten nach hinten seien durch das aufgebaute Spritzgerät nicht beeinträchtigt gewesen. Vielmehr sei der Kläger zum Zeitpunkt der zweiten Rückschau noch so weit entfernt gewesen, dass er sich außerhalb seines Sichtbereiches befunden habe.

Das Landgericht hat nach uneidlicher Vernehmung des Zeugen A die Beklagten auf der Basis einer Haftungsquote von 40:60 zum Nachteil des Klägers zur Zahlung materieller Schäden in Höhe von 193,17 DM und von Schmerzensgeld in Höhe von 12.000,- DM verurteilt. Ferner hat es unter Berücksichtigung der Quote die begehrte Feststellung ausgesprochen. Der Beklagte zu 1) habe sich unmittelbar vor dem Abbiegen nicht nach hinten umgeschaut. Der Kläger habe trotz unklarer Verkehrslage überholt, da der Beklagte vor dem Überholen geblinkt habe.

Hiergegen richten sich die Berufung des Klägers, mit der er seine Ansprüche auf der Basis einer Quote von 75:25 zu seinen Gunsten weiterverfolgt sowie die (unselbständige) Anschlussberufung der Beklagten, mit der sie eine Abänderung des landgerichtlichen Urteils auf der Basis einer Quote von 25:75 allein aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr zum Nachteil des Klägers begehren.

Die Parteien wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 1) persönlich angehört und zum Unfallhergang Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A und M sowie durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. G. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Beide Berufungen sind zulässig. Die Anschlussberufung der Beklagten ist unbegründet. Die Berufung des Klägers hat zum Teil Erfolg. Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfange begründet.

Die Beklagten sind gemäß §§ 7, 17, 18 StVG, 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 PflVG, 823 Abs. 1 und Abs. 2, 847, 421, 249 ff. BGB verpflichtet, dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls vom 1997 2/3 seines materiellen Schadens zu ersetzen (I.). Des weiteren steht dem Kläger (unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 1/3) ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe 18.000,-- DM zu (II.). Schließlich ist auch der Feststellungsantrag unter Berücksichtigung dieser Mithaftungsquote begründet. (III.).

I.

Der Unfall vom 15.04.1997 an der Einmündung H Strasse/ P in P ist durch unfallursächliches schuldhaftes Verhalten sowohl des Beklagtem zu 1) als auch des Klägers verursacht worden. Die gemäß § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile führt zum Ergebnis, daß der Unfall überwiegend von dem Beklagten zu 1) verursacht worden ist. Dies führt zu einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zum Nachteil der Beklagten.

1.) Dem Beklagten zu 1) ist ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO (Rückschaupflicht) anzulasten.

a) Der abbiegende Verkehrsteilnehmer ist unmittelbar vor dem Abbiegen gehalten, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Nur dann, wenn eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist, was vorliegend bereits aufgrund der Konstruktion des Treckers und den Gegebenheiten an der Unfallörtlichkeit zu verneinen ist, entfällt diese Verpflichtung. Bestehen aufgrund konstruktionsbedingter Besonderheiten des Fahrzeuges (z. B. Aufbauten etc.) Sichtbehinderungen ist der Abbiegende wegen der einem Abbiegevorgang immanenten Gefährlichkeit sogar verpflichtet, anzuhalten, um sich Gewissheit über den rückwärtigen Verkehr zu verschaffen (vgl. Jagusch/Hentschel, 35. Auflage zu § 56 StVZO, Rdnr. 2; OLG Köln VRS 93, 277). Der Abbiegende muss durch eine geeignete Rückschau sicherstellen, dass er beim Abbiegevorgang keine ihn überholenden Verkehrsteilnehmer übersieht und dadurch gefährdet. Jeder Verkehrsteilnehmer muss die Sichtverhältnisse aus seinem Fahrzeug (z. B. den sog. "toten Winkel") kennen und berücksichtigen (OLG Kö1n NZV 1995, 74; KG VM 1995, 51).

b) Nach dem Ergebnis der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Beklagte zu 1) diesen Sorgfaltspflichten nicht hinreichend nachgekommen ist. Der Beklagte zu 1) gibt an, lediglich in den Außenspiegel geschaut zu haben. Den Kläger habe er erst gesehen, als dieser gegen das Vorderrad gefahren sei. Im Hinblick auf das am Ackerschlepper montierte Pflanzenspritzgerät und die damit verbundenen Sichtbehinderungen reichten diese Handlungen jedoch nicht aus, um von hinten kommende und evtl. überholende Fahrzeuge wahrzunehmen und ggfls. den Abbiegevorgang zurückzustellen.

Dies folgt aus den überzeugenden und nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. G denen der Senat folgt.

aa) Der Sachverständige gelangt nach Durchführung einer auf die Unfallspuren und die Beschädigungsbilder der beteiligten Fahrzeuge beruhende ausführlichen Kollisionsanalyse u. a. zu dem Ergebnis, dass der mit einer Geschwindigkeit zwischen 15 und 20 Km/h fahrende Beklagte zu 1) 2,2 s vor der Kollision den Entschluss fasste, von der H Str. in die Strasse "P" abzubiegen; mit dem Abbiegen begann er 1,2 s vor der Kollision. Zu diesen Zeitpunkten befand sich der Kläger 15 m bzw. 7 m hinter dem Trecker. Zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Beklagte zu 1) nach eigenen Angaben geblinkt haben will (auf Höhe der Einmündung "Am B"), befand sich das Krad zwischen 59 m und 76 m vom Kollisionsort entfernt.

bb) Des weiteren hat der Sachverständige die für den Beklagten zu 1) maßgeblichen Sichtmöglichkeiten - unter Berücksichtigung des aufgebauten Pflanzenspritzgerätes - untersucht. Nach seinen Ausführungen, die durch die Lichtbilder der Anlagen A 17 bis A 24 unterstützt werden, bestanden für den Beklagten zu 1) im Nahbereich, den der Sachverständige auf eine Entfernung von 15 m und weniger hinter dem Trecker eingrenzt, bei Benutzung der Außenspiegel kritische Sichtmöglichkeiten. Je weiter sich der Kläger links (auf der linken Fahrspur) bewegte, desto größere Schwierigkeiten hätten für den Beklagten zu 1) bestanden, den Kläger wahrzunehmen. Eine sichere Wahrnehmung des rückwärtigen Verkehrs - so der Sachverständige - war für den Beklagten zu 1) wegen der Aufbauten ab einer Entfernung voll 30 m nicht mehr möglich.

cc) Aufgrund dieser Feststellungen ist festzuhalten, dass der Beklagte zu 1) entweder nicht hinreichend aufmerksam gefahren ist und/oder nicht die im Sinne der obigen Ausführungen erforderlichen Handlungen vorgenommen hat. Der Beklagte zu 1) hätte zum Zeitpunkt als er - nach eigenen Angaben - den Abbiegevorgang auf der Höhe der Einmündung "Am", durch Blinken ankündigte und sich zur Mitte einordnete, den Kläger zu 1) durch einen Blick in den Außenspiegel wahrnehmen können und müssen. Denn der Kläger befand sich zu diesem Zeitpunkt zwischen 35 m und 45 m hinter ihm. In dieser Position war der Kläger ausweislich der Lichtbilder gemäß Anlagen B 2 und B 3 sowie der Ausführungen des Sachverständigen zu den Sichtmöglichkeiten sichtbar.

Dessen ungeachtet, hätte der Beklagte bei Einhaltung der zweiten Rückschaupflicht unmittelbar vor dem Abbiegen feststellen können und müssen, dass ihm aufgrund der Aufbauten sichere Möglichkeiten, den rückwärtigen unmittelbaren Verkehr wahrzunehmen, allein durch Benutzung des Außenspiegels nicht zur Verfügung standen. Dies geht in aller Deutlichkeit aus den Lichtbildern der Anlage A 24 hervor. Er wäre daher gehalten gewesen, seinen Trecker auf der Höhe der, Einmündung "P", bis zum Stillstand abzubremsen, um den rückwärtigen Verkehr über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Er durfte erst dann, abbiegen, nach dem er sich vergewissert hatte, dass sich hinter ihm überhaupt kein anderes Fahrzeug befinden konnte. Es gereicht dem Beklagten zu 1) zum Vorwurf, dass er diese gebotenen, erforderlichen und zumutbaren Handlungen nicht vorgenommen hat.

2.) Aber auch der Kläger hat den Unfall schuldhaft mitverursacht.

a) Entgegen den Darlegungen der Beklagten ist dem Kläger jedoch nicht vorzuwerfen, die zulässige Geschwindigkeit überschritten zu haben.

aa) An der - innerörtlichen - Unfallstelle betrug die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 Km/h (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO). Die für den Baustellenbereich geltende Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 Km/h war für den Unfallbereich nicht mehr maßgeblich. Dies haben sowohl die beteiligten Fahrer als auch die Zeugen M und A im Ergebnis übereinstimmend erklärt. Zwar haben sie sich nicht daran erinnern können, dass nach dem Baustellenbereich ein Verkehrsschild aufgestellt gewesen wäre, mit welchem die 30-Km/h-Beschränkung aufgehoben wurde. Alle Beteiligten haben jedoch die Auffassung vertreten, dass aufgrund der äußeren Umstände sich die Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h erkennbar nur auf den unmittelbaren Baustellenbereich bezog. Hierzu gehörte die rd. 70 m von der Baustelle entfernt liegende Unfallstelle nicht mehr.

Dessen ungeachtet geht der Senat davon aus, dass die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 Km/h unbeachtlich war. Vorliegend handelte es sich um eine Beschränkung des Verkehrs gemäß § 45 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 StVO (Baustellenregelung). Dabei holen die Unternehmer, die Arbeiten ausführen, die sich auf den Straßenverkehr auswirken, von der zuständigen Behörde Anordnungen ein. Der Unternehmer muss diese Anordnungen gemäß § 45 Abs. 6 StVO befolgen. Er darf die Anordnungen nur ausführen und darf nicht davon abweichen. Weicht er gleichwohl davon ab, so sind die von ihm aufgestellten Vorschriftszeichen nichtig (Jagusch/Hentschel zu § 45 StVO, Rdnr. 45 m. w. N.).

Die verkehrsrechtliche Anordnung der Stadt P von 04.04.1997 (Bl. 54 d. A) enthält jedoch keine Beschränkung der Geschwindigkeit. Im Umkehrschluss ist daher zu folgern, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung (soweit sie auch noch an der Unfallstelle gegolten haben sollte) eigenmächtig vom Bauunternehmer angeordnet wurde und somit nichtig und unbeachtlich war.

bb) Der Kläger ist mit einer - zulässigen - Geschwindigkeit zwischen 45 und 50 Km/h gefahren. Hiervon geht der Senat aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen, denen der Senat folgt, aus. Der Sachverständige hat der Ermittlung der Ausgangsgeschwindigkeit die vom Kläger zurückgelegte Rutschweite von 6,5 m unter Berücksichtigung durchgeführter Rutschversuche zugrunde gelegt. Soweit sich die Beklagten zur Darlegung einer höheren Geschwindigkeit auf das aus Bl. 150 d. A. ersichtliche Diagramm berufen, sind diese Darlegungen nicht maßgeblich. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass das Diagramm eine Kollisionssituation wiedergibt, bei welcher der Motorradfahrer sofort nach der Kollision vom Motorrad "abhebt". Vorliegend ist der Kläger jedoch zunächst mit dem Motorrad gekippt und erst dann gerutscht.

b)Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Kläger versucht hat, bei unklarer Verkehrslage zu überholen (§ 5 Abs. § Nr. 1 StVO).

aa) Eine unklare Verkehrslage ist u. a. dann gegeben, wenn sich der Vorausfahrende unklar verhält, er in seiner Fahrweise unsicher erscheint oder wenn es den Anschein hat, er wolle abbiegen, ohne dass dies deutlich wird (Jagusch/Hentschel zu § 5, Rdnr. 34 m.w.N.).

bb) Demzufolge hätte für den Kläger eine unklare Verkehrslage nur dann bestanden, wenn es für ihn zum Zeitpunkt, als er sich zum Überholen entschloss, in irgend einer Art und Weise erkennbar war, dass der Beklagte zu 1) abbiegen werde, z. B. durch rechtzeitiges Blinken und/oder Einordnen zur Mitte oder durch eine spürbare Reduzierung der Geschwindigkeit (Vgl. hierzu BayObLG VRS 70,40).

cc) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Beklagte zu 1) sich in diesem Sinne verhalten hat. Der Zeuge A hat nicht bestätigt, dass sich der Beklagte zu 1) zur Mitte hin eingeordnet und/oder seine Geschwindigkeit spürbar reduziert hat. Soweit der Zeuge bekundet hat, er habe beobachtet, dass der Trecker geblinkt habe, führt dies nicht dazu, das Vorliegen einer unklaren Verkehrslage zum maßgeblichen Zeitpunkt, als sich der Kläger zum Überholen entschloss, zu bejahen. Denn der Zeuge hat nicht angeben können, wann der Beklagte zu 1) dem Blinker eingeschaltet hat. Der Zeuge hat sich an Einzelheiten des Blinkvorganges nicht erinnern können.

c) Der Kläger hat jedoch gegen die sich aus der Generalnorm des § 1 Abs. 2 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten verstoßen. Er hat eine vermeidbare Gefährdung und Behinderung des Beklagten zu 1) herbeigeführt, als er nach dem Durchfahren der Baustelle auf der linken Fahrspur verblieb, anstatt sich wieder nach rechts einzuordnen.

aa) Gemäß § 1 Abs. 2 StVO muss sich jeder Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder nach den Umständen unvermeidbar behindert wird. Hierzu gehört auch die Verpflichtung, seine Fahrweise so zu gestalten, dass die eigene Erkennbarkeit durch andere Verkehrsteilnehmer nicht ohne zwingenden Grund beeinträchtigt wird.

bb) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger - entgegen seiner Einlassung - nach dem Durchfahren der Baustelle auf der linken Fahrspur weiterfuhr und sich nicht wieder nach rechts einordnete. Dies folgt aus der Aussage des Zeugen A der entsprechendes bekundet hat. Der Senat hat keine Veranlassung, die Richtigkeit der Bekundungen des Zeugen in Zweifel, zu ziehen. Der Zeuge hat die konkrete Fahrweise des Klägers genau beobachtet, da er auf den Kläger bereits innerhalb des Baustellenbereiches aufmerksam geworden ist. Der Zeuge hat auch keine Belastungstendenzen erkennen lassen.

cc) Unter den gegebenen Umständen war diese Fahrweise objektiv und subjektiv sorgfaltswidrig. Wie der Sachverständige nachvollziehbar dargelegt hat und aus den Lichtbildern gemäß Anlagen A 20 ff. deutlich wird, trug der Kläger durch diese Fahrweise dazu bei, dass sich die für den Beklagten zu 1) ohnehin eingeschränkten Sichtmöglichkeiten weiter verschlechterten.

Eine Wahrnehmbarkeit des Klägers allein unter Zuhilfenahme des Außenspiegels war für den Beklagten zu 1) dadurch nicht mehr gewährleistet. Dies hätte der Kläger erkennen können und müssen. Insoweit konnten ihm die durch die Aufbauten bedingten Sichtbehinderungen des Beklagten zu 1) nicht verborgen geblieben sein. Für den Kläger bestand auch keine zwingende Veranlassung, nach dem Passieren der Baustelle links zu bleiben. Er hätte sich, genauso wie der Beklagte zu 1), ohne weiteres - und wie es auch § 2 Abs. 2 StVO vorschreibt - nach rechts einordnen können (und müssen).

3.) Die gemäß § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile, bei der nur unstreitige oder erwiesene Umstände Berücksichtigung finden dürfen, führt zu dem Ergebnis, daß der Unfall primär auf das schuldhafte Verhalten des Beklagten zu 1) und die dadurch erhöhte Betriebsgefahr seines Treckers zurückzuführen ist. Insoweit war zu berücksichtigen, daß der Beklagte zu 1) in erheblichem Maße gegen die Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 1 StVO verstoßen hat. Er hat einen Abbiegevorgang durchgeführt, obwohl er ohne weiteres das herannahende Fahrzeug des Beklagten zu 1) hätte wahrnehmen und sein Vorhaben zurückstellen können. Demnach hält es der Senat nicht für gerechtfertigt, von gleichwertigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen auszugehen. Einen doppelt so holten Beitrag des Beklagten zu 1) und demnach eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten erscheinen dem Senat angemessen.

4.) Der materielle Schaden des Klägers beträgt unstreitig 2.897,60 DM. Hierauf hat die Beklagte zu 2) vorprozessual 965,86 DM (1/3) gezahlt. Bei Berücksichtigung der Haftungsquote steht dem Kläger daher noch ein Anspruch in Höhe eines weiteren Drittels, mithin von 965,86 DM, zu. Der in gesetzlicher Höhe geltendgemachte Zinsanspruch ist nicht im Streit.

II.

Dem Kläger steht im Hinblick auf die schuldhafte Verursachung des Unfalls durch den Beklagten zu 1) gemäß §§ 823, 847 BGB auch ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes wegen der beim Unfall erlittenen Verletzungen zu. Unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote des Klägers von 1/3 hält der Senat die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 18.000,00 DM für gerechtfertigt. Hierbei hat der Senat insb. folgende Umstände berücksichtigt:

Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine tiefe Wunde mit freiliegenden Sehnen am rechten Fuß, zwei tiefe Wunden ober- und unterhalb des rechten Kniegelenks sowie einen Defekt der Zehenstrecker und des lateralen Fußwurzelknochens. Er befand sich vom 15.4. bis zum 20.5.1997 in stationärer Behandlung im Klinikum M. Das rechte Sprunggelenk war bis zum 23.05.1997 mit einem Fixateur externe versehen. Es musste eine Hauttransplantation vom Oberschenkel vorgenommen werden. Diese Maßnahme hat zu einem 23 cm langem und 3 cm breitem Narbenstreifen am rechten Oberschenkel geführt. Bis zum 37.7.1997 war der Kläger zu 100 % arbeitsunfähig. Anschließend bestand zunächst eine 40%-ige Arbeitsunfähigkeit. Dauerhaft leidet der Kläger an einer Sensibilitätsstörung am rechten Knie und Fußrücken, einer Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenks am Verlust der Streckfähigkeit der Zehen 3 bis 5 des rechten Fußes. Die MdE beträgt dauerhaft 20 %.

Zwischenzeitlich haben sich (unfallbedingt) im Bereich der Zehen 2-4 des rechten Fußes sog. Krallenzehen gebildet. Diese sind durch Schrumpfungsvorgänge im Narbenbereich des rechten Vorfußes entstanden. Die Strecksehnen sind mit der plastisch gedeckten Haut verwachsen. Deshalb sind weitere operative Eingriffe zu erwarten.

Der Kläger war Mitglied eines Tennisclubs und hatte den Sport regelmäßig betrieben. Sowohl Tennis- als auch Fußballspielen kann er aufgrund des Unfalls nicht mehr.

III.

Auch der Feststellungsantrag ist - unter Berücksichtigung der Mithaftungsquote des Klägers - zulässig und begründet.

Der Kläger hat ein rechtliches Interesse gemäß § 256 ZPO an der Feststellung der weiteren Ersatzpflicht der Beklagten bezüglich zukünftiger materieller und immaterieller Schäden.

Im Hinblick auf den möglichen Eintritt der Verjährung sind am Bestehen des erforderlichen Feststellungsinteresses nur maßvolle Anforderungen zu stellen. Es genügt, wenn eine nicht eben entfernt liegende Möglichkeit künftiger Verwirklichung der Schadensersatzpflicht durch Auftreten bisher noch nicht erkennbarer voraussehbarer Leiden bestellt (BGH NJW-RR 1989, 1367; NJW-RR 1991, 917).

Die unfallbedingten Verletzungen sind noch nicht ausgeheilt. Es sind Komplikationen aufgetreten, die weitere operative Eingriffe erwarten lassen (Krallenzehenbildung).

Der Eintritt weiterer, zur Zeit nicht voraussehbarer Unfallfolgen und das Entstehen von materiellen und materiellen Zukunftsschäden ist demnach nicht fernliegend.

IV.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91. Abs. 1, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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