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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 11.09.2000
Aktenzeichen: 13 U 83/00
Rechtsgebiete: HPflG, BGB, ZPO


Vorschriften:

HPflG § 1
HPflG § 2
HPflG § 4
BGB § 254
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Ziff. 10
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen, unter denen die Haftung des Bahnbetriebsunternehmers aus § 1 HPflG wegen mitwirkenden Verschuldens des Geschädigten völlig zurücktritt, wenn ein 13 Jahre alter Junge beim Klettern auf das Dach eines abgestellten Eisenbahnwaggons durch einen Stromschlag aus der Oberleitung verletzt wird.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

13 U 83/00 OLG Hamm 12 O 363/99 LG Essen

Verkündet am 11. September 2000

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgericht Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Brück und die Richter am Oberlandesgericht Zumdick und Pauge

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 25. Januar 2000 verkündete Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert den Kläger in Höhe von 10.000,00 DM.

Tatbestand:

Der damals 13-jährige Kläger kletterte am 25. August 1991 auf einen Eisenbahnwaggon, der auf dem Gelände einer von der Beklagten betriebenen Kokerei in (ehemalige Zeche "P") abgestellt war. Dabei erlitt er durch einen Stromüberschlag von der Oberleitung schwere Verletzungen. Er hat die Beklagte auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 200.000 DM in Anspruch genommen und die Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich sämtlicher materieller und immaterieller Schäden begehrt. Das Landgericht hat den Kläger persönlich gehört und Beweis erhoben durch uneidlich Vernehmung der Zeugen M G und K und die Klage mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er das Feststellungsbegehren (nur) hinsichtlich materieller Schäden mit einer Quote von 1/3 weiterverfolgt. Er meint, sein eigenes Verschulden wiege nicht so schwer, daß dahinter die von der Beklagten nach dein Haftpflichtgesetz zu verantwortende Betriebsgefahr völlig zurückzutreten habe. Der Kläger, der einräumt, die an dein Waggon angebrachten Piktogramme gesehen und die Warnung vor Stromschlägen verstanden zu haben, trägt vor, er habe angenommen, die Leitung führe keinen Strom, weil Sonntag gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen Schäden aus dem Unfall vom 25. August 1991 zu 1/3 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und macht geltend, der Kläger sei von seinem Freund M unmittelbar vor dem Besteigen des Waggons darauf hingewiesen worden, daß dies verboten sei.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Akten Js/9 StA E lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist (auch) in dem eingeschränkten Umfang, der Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, nicht begründet.

I.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 1, 2 HPflG.

1.

Die Beklagte hat als Betreiberin der Bahn (§ 1 Abs. 1 HPflG) oder Inhaberin der elektrischen Anlage (§ 2 Abs. 1 S. 1 HPflG) für materielle Schäden einzustehen, soweit ihre Haftung nicht gem. § 4 HPflG i.V.m. § 254 BGB wegen mitwirkenden Verschuldens des Geschädigten ausgeschlossen ist. Im Streitfall wiegt das Mitverschulden des Klägers so schwer, daß die von der Beklagten zu verantwortende Betriebsgefahr dahinter völlig zurücktritt.

2.

Der Verursachungsanteil der Beklagten wird geprägt durch die Gefahr, die der Eisenbahnbetrieb - hierzu gehört auch das Abstellen vorübergehend nicht benötigter Waggons auf einem Abstellgleis - in Verbindung mit der 15.000-Volt-Spannung der Oberleitung mit sich bringt. Diese nach dem Haftpflichtgesetz zu verantwortende Betriebsgefahr ist erheblich. Sie realisiert sich immer wieder darin, daß Kinder, und zwar zumeist Jungen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren, beim Spielen auf abgestellte Güterwaggons klettern, wo sie entweder durch direkte Berührung mit der Oberleitung oder aber durch einen überspringenden elektrischen Funken schwerste Verletzungen erleiden oder gar zu Tode kommen (vgl. OLG Hamm, NZV 1996, 30 m.w.N.).

3.

In Fällen dieser Art ist bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile zu prüfen, ob die geschädigte jugendliche Person die erforderliche Einsicht hatte und auch schuldhaft gehandelt hat (Filthaut, Haftpflichtgesetz, 5. Aufl., § 4 Rdn. 74). Der Kläger stellt nicht in Abrede, daß er als 13jähriger damals die geistige Reife hatte, um das Gefährliche seines Tuns zu erkennen. Er räumt auch ein, daß zu dem Unfall ein überwiegendes eigenes Verschulden beigetragen hat. Entgegen seiner Auffassung wiegt sein Mitverschulden indessen so schwer, daß dahinter die nach dem Haftpflichtgesetz zu verantwortende Betriebsgefahr völlig zurücktritt. Dem Kläger kann der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht erspart werden. Diese liegt vor, wenn ein leichtsinniges, die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzendes Verhalten gegeben ist, bei dem schon einfachste und ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, denn der Kläger hat die im eigenen Interesse gebotene Vorsicht in elementarer Weise völlig außer acht gelassen. Das zeigen folgende Umstände:

a)

Das Klettern auf den abgestellten Eisenbahnwaggon erfolgte hier im Unterschied zu dem Sachverhalt, welcher der Entscheidung des 6. Senats vom 19. Juni 1995 zugrunde lag (OLG Hamm, 6 U 55/94, a.a.O.), gezielt. Dort hatten sich Jugendliche beim Spielen gegenseitig einen Schlüsselbund zugeworfen. Als dieser nach einem unkontrollierten Wurf auf dem Dach eines Waggons gelandet war, kletterte der Geschädigte hoch, um den Schlüsselbund wiederzuholen. Daß ein Junge im Alter von 14 bis 15 Jahren in einer solchen Situation versuchen wird, das Dach zu erklettern, um wieder an seinen Schlüsselbund zu gelangen, ist nachvollziehbar und - wie es in dem Urteil zutreffend heißt - durchaus jugendtypisch. Während in jenem Fall das Hochklettern eine spontane Reaktion auf den Verlust des Schlüsselbundes war, hat der Kläger den Eisenbahnwaggon - in Kenntnis der damit verbundenen Gefahren - aus freien Stücken bestiegen.

b)

Bei dem Eisenbahnwaggon handelte es sich im Streitfall um einen sogenannten FAL-Waggon, der u.a. für dem Kohletransport eingesetzt wird. Wie die bei den Ermittlungsakten befindlichen Fotos verdeutlichen, haben solche Waggons kein Trittbrett und keine bis oben durchgehende Leiter, die bei Güterwaggons anderer Bauart oftmals zum Hinaufklettern geradezu einlädt (vgl. Urt. des 6. Senats v. 19. Februar 1990, 6 U 144/89, u. v. 20. Dezember 1993, 6 U 237/92, zitiert in NZV 1996, 30), sondern lediglich eingelassene Trittstufen und im oberen Bereich sogar nur Trittmulden. Das Besteigen eines solchen Waggons fällt nicht leicht, zumal die Außenwände glattflächig sind und zudem nach oben seitlich leicht auskragen.

c)

An dem Waggon waren Warntafeln angebracht, über die sich der Kläger leichtfertig hinweggesetzt hat. Im Unterschied zu anderen von der Rechtsprechung bisher entschiedenen Fällen (vgl. OLG Hamm, a.a.O., OLG Köln, NJW-RR 12000, 692 und Filthaut, a.a.O., Rdn. 75 a und b) waren die Waggons im Streitfall zur Warnung vor der elektrischen Oberleitung nicht nur mit den früher üblichen Blitz-Symbolen gekennzeichnet. Vielmehr waren hier direkt neben den Trittstufen gut sichtbare, farbige Warnhinweise angebracht, und zwar in Form von piktographischen Darstellungen, wie sie die neuere Rechtsprechung fordert vgl. BGH NJW 1995, 672 = VersR 1995, 672). Das untere Piktogramm macht mit der gebotenen Deutlichkeit klar, daß das Besteigen des so gekennzeichneten Waggons verboten ist. Es ist in der Art eines runden, rot umrandeten Verbotsschildes gestaltet und zeigt - entweder in den Farben schwarz/gelb oder aber schwarz/weiß - schematisch dargestellt eine Person, die ein Begriff ist, an einer Leiter auf einen Güterwaggon zu klettern. Diese Abbildung ist durch einen roten, diagonal von links oben nach rechts unten verlaufenden Balken durchgestrichen. Das obere Piktogramm warnt vor der Elektrizität der Oberleitung. Es ist ein dreieckiges gelb-schwarzes Schild in der Art eines Achtungszeichens. Es zeigt schematisch dargestellt eine Person, die von einem von einer Oberleitung ausgehenden Blitz getroffen und dadurch zu Boden geworfen wird. Damit warnt das Schild mit der gebotenen Klarheit vor der Gefahr eines von der Oberleitung ausgehenden Stromschlages. Zugleich macht es deutlich, daß diese Gefahr nicht erst bei einem Berühren der Oberleitung besteht, sondern vielmehr schon dann, wenn ein Mensch in deren Nähe kommt. Diese eindringlichen Warnungen hat der Kläger wahrgenommen und verstanden, aber mißachtet.

d)

Seine Behauptung angenommen zu haben, die Leitung führe an diesem Tag - einem Sonntag - keinen Strom, kann ihn nicht entlasten, zumal es zweifelhaft erscheint, ob sich der Kläger beim Spielen überhaupt der Tatsache bewußt war, daß gerade Sonntag war. Hinzu kommt, daß sich der Kläger sogar noch über die Warnung seines Freundes M hinweggesetzt hat. Zwar hat der Kläger - ebenso wie M selbst - gegenüber dem Landgericht angegeben, sich daran nicht erinnern zu können, doch hat sein Freund am Unfalltag eine solche Warnung gegenüber der Polizei ausdrücklich bestätigt, wie der von dem Landgericht als Zeuge vernommene Polizeibeamte glaubhaft bekundet hat.

e)

Wie leichtsinnig der Kläger war, zeigt auch sein Verhalten vor dem Unfall. Die betreffenden Waggons waren nämlich nicht etwa auf einem frei zugänglichen Gelände abgestellt, sondern standen auf einem weiträumigen, mit vielen Bahngleisen durchzogenen Betriebsgelände, welches im wesentlichen - mit Ausnahme einer Lkw-Zufahrt - eingezäunt ist. Der Kläger und sein Freund haben sich Zutritt zu diesem Gelände verschafft, indem sie über eine hohe Rohrbrücke kletterten, die sowohl die Grundstücksgrenze als auch die Bahngleise mitsamt elektrischer Oberleitung überspannt. Sodann haben die beiden Jungen die Oberleitungen auf den Rohren balancierend überquert. Wie gefährlich dieses Unterfangen war, kann ihnen dabei nicht verborgen geblieben sein. Wer sich so verhält und sich auf diese Weise offenkundigen Lebensgefahren aussetzt, läßt ein erschreckend hohes Maß an Risikobereitschaft erkennen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Ziff. 10 ZPO.

Ende der Entscheidung

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