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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 17.05.2004
Aktenzeichen: 2 OBL 36/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 122
Ein Zeitraum von fast sechs Wochen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf richterliche Vernehmung eines Zeugen und der Durchführung dieser richterlichen ist in einer Haftsache bei weitem zu lang und nicht hinnehmbar.
Beschluss

Strafsache

gegen T.R.

wegen schwerer räuberischer Erpressung (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten zur Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 17. 05. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 12. November 2003 - 64 Gs 11595/03 - wird aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 11. November 2003 seit dem 12. November 2003 in Untersuchungshaft. Grundlage des Vollzugs der Untersuchungshaft ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 12. November 2003 (64 Gs 11595/03). Dem Angeklagten wird in diesem Haftbefehl eine am 11. November 2003 zum Nachteil seiner damaligen Lebensgefährtin B.R. begangene schwere räuberische Erpressung zur Last gelegt. Der Angeklagte, der Polizeibeamter ist, soll die Zeugin unter Einsatz seiner Dienstwaffe gezwungen haben, von ihrem Konto unter Einsatz der EC-Karte 400 € abzuheben und ihm auszuhändigen, damit er mit diesem Geld seine Spielsucht finanzieren konnte. Diese Tat ist auch Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 3. März 2004. In dieser wird dem Angeklagten zusätzlich eine Straßenverkehrsgefährdung nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 2 d StGB zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen des dem Angeklagten im Einzelnen zur Last gelegten Tatgeschehens, wird auf den Inhalt des genannten Haftbefehls vom 12. November 2003 und auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 3. März 2004 Bezug genommen.

Nach den dem Senat vorliegenden Haftprüfungsakten ist der Haftbefehl noch nicht an den Inhalt der Anklage vom 3. März 2004 angepasst. Damit ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. u.a. Senat in StV 1995, 200) für das Haftprüfungsverfahren nur vom Vorwurf des Haftbefehls auszugehen.

Das Landgericht hat die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich angesehen und die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft Bochum und der Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß den §§ 121, 122 StPO vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat Fortdauer der Untersuchungshaft beantragt.

II.

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 12. November 2003 war aufzuheben. Die nach § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus erforderlichen Voraussetzungen sind nicht gegeben.

1. Gegen den geständigen Angeklagten besteht zwar "dringender Tatverdacht" im Sinne von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Tat. In Anbetracht des Tatvorwurfs dürfte, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Angeklagte bereits einen Fluchtversuch aus dem Polizeigewahrsam unternommen hat, auch Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO anzunehmen sein. Zudem wird der bestehende Fluchtanreiz nicht durch andere Umstände gemildert wird (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., 2004, § 112 Rn. 17; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1700 ff.).

2. Dies kann indes letztlich dahinstehen. Denn jedenfalls war der Haftbefehl deshalb aufzuheben, weil das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.

Nach § 121 Abs. 1 StPO kommt - solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil vorliegt - die Fortdauer von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur dann in Betracht, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zugelassen haben. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat, dass den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv der sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebende Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten entgegenzuhalten ist und das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307; 53, 152, 158 f. mit weiteren Nachweisen). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu. Bei der insoweit erforderlichen Prüfung des Verfahrens(fort)gangs sind die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO grundsätzlich auch eng auszulegen (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264, 271 mit weiteren Nachweisen; siehe auch BVerfG NJW 1980; 1448; 1992, 1749 f. = StV 1991, 565; vgl. die weiteren Rechtsprechungsnachweise bei Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. § 121 StPO Rn. 18 ff.; zu allem auch Burhoff StraFo 2000, 109, 114, 116 sowie zuletzt Senat in wistra 2002, 236 = StV 2002, 318 mit Anmerkung Deckers StV 2002, 319 = NStZ 2003, 386 mit Anmerkung Lange NStZ 2003, 348 und Senat in StraFo 2002, 367 = NStZ-RR 2002, 348 = StV 2003, 172) Die Fortdauer der Untersuchungshaft kommt danach u.a., dann nicht in Betracht, wenn ihre Dauer dadurch verursacht worden ist und wird, dass die Strafverfolgungsbehörden und/oder Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen haben.

Vorliegend wird der nach den Akten festzustellende Verfahrensgang diesen von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen an die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens gegen einen inhaftierten Angeklagten nicht gerecht. Weder die Schwierigkeit der Ermittlungen noch deren besonderer Umfang noch sonstige Gründe rechtfertigen den bisherigen Gang des Verfahrens.

Der Angeklagte wurde am 11. November 2003 alsbald nach Begehung der ihm vorgeworfenen schweren räuberischen Erpressung vorläufig festgenommen. Seine Vorführung erfolgte am 12. November 2002. Es wurde Haftbefehl erlassen. Der von ihm beauftragte damalige Verteidiger beantragte unter dem 17. November 2003 die Begutachtung durch einen Sachverständigen, da der Angeklagte unter Spiel- und Alkoholsucht leide. Nach einigen kriminaltechnischen Untersuchungen beantragte die Staatsanwaltschaft Bochum unter dem 26. November 2003 die richterliche Vernehmung der bis dahin noch nicht vernommenen Zeugin R., bei der es sich um die ehemalige Ehefrau des Bruders des Angeklagten handelt. Dieser Antrag ging am 8. Dezember 2003 beim Amtsgericht Bochum ein. Das Amtsgericht hat dann unter dem 10. Dezember 2003 beschlossen, den Angeklagten gemäß § 168 c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit bei der Vernehmung der Zeugin R. auszuschließen. Den Termin für die richterliche Vernehmung der Zeugin hat es (erst) auf den 6. Januar 2004 angesetzt. Nach Vernehmung der Zeugin R. hat die Staatsanwaltschaft dann unter dem 19. Januar 2004 den Sachverständigen Dr. L. mit der Begutachtung des Angeklagten beauftragt. Dieser hat den Angeklagten am 14. und 21. Februar 2004 exploriert: Das schriftliche Gutachten des Sachverständigen ist am 27. Februar 2004 bei der Staatsanwaltschaft eingegangen, die anschließend unter dem 3. März 2004 Anklage erhoben hat.

Wann diese Anklage beim Landgericht eingegangen ist, lässt sich den dem Senat vorliegenden Akten nicht entnehmen. Die Anklage ist dem damaligen Pflichtverteidiger des Angeklagten - es hatte zwischenzeitlich ein Verteidigerwechsel stattgefunden - am 17. März 2004 zugestellt worden. Das Landgericht hat einen Termin zur Anhörung des Angeklagten auf den 1. April 2004 festgesetzt, um in diesem die vom Angeklagten geltend gemachte Schwierigkeiten und Spannungen mit dem damaligen (zweiten) Pflichtverteidiger zu klären. Dieser ist sodann entpflichtet und mit Beschluss vom 3. Mai 2004 ist der derzeitige Pflichtverteidiger zum Verteidiger bestellt worden. Diesem wurde Akteneinsicht gewährt.

Die Strafkammer hat das Hauptverfahren inzwischen eröffnet. Der Beginn der Hauptverhandlung ist, wie eine Anfrage des Senats bei der Geschäftsstelle der Strafkammer ergeben hat, für den 14. Juli 2004 terminiert.

Nach diesem Verfahrensablauf ist das Verfahren gegen den inhaftierten Angeklagten nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Dabei kann dahinstehen, ob schon zu beanstanden ist, dass die Strafkammer Termin zur Hauptverhandlung erst mehr als vier Monate nach Eingang der Anklageschrift anberaumt hat (vgl. dazu Senat in StV 2000, 90 = StraFo 2000, 69 und in NStZ-RR 2001, 61 = wistra 2001, 77 = StV 2001, 303 = StraFo 2001, 32) oder ob dies ggf. wegen des Vorrangs anderer Haftsachen gerechtfertigt ist (vgl. dazu Senat, a.a.O.). Den dem Senat vorliegenden Haftprüfungsakten lässt sich dazu nichts entnehmen. Der Senat brauchte dieser Frage aber nicht weiter nach zu gehen, da der Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum schon aus anderen Gründen keinen Bestand haben konnte. Denn bereits das Ermittlungsverfahren ist nicht mit der für Haftsachen erforderlichen Beschleunigung betrieben worden. Der Zeitraum vom Erlass der Verfügung der Staatsanwaltschaft Bochum am 26. November 2003, mit der zutreffend die richterliche Vernehmung der Zeugin R. beantragt worden ist, bis zur Durchführung dieser richterlichen Vernehmung am 6. Januar 2004 durch das Amtsgericht Bochum hat, fast sechs Wochen betragen. Dieser Zeitraum ist für eine Haftsache bei weitem zu lang und nicht hinnehmbar. Es kann dahinstehen, ob das bereits allein daraus folgt, dass vom Erlass der Verfügung am 26. November 2003 bis zum Eingang des Antrags auf Durchführung der richterlichen Vernehmung beim Amtsgericht Bochum am 8. Dezember 2003 schon fast zwei Wochen vergangen sind, ohne dass ein Grund für diese lange Zeitspanne ersichtlich ist. Jedenfalls ist es nicht hinnehmbar, dass das Amtsgericht dann die richterliche Vernehmung der Zeugin erst auf den 6. Januar 2004 terminiert hat, ohne dass auch hier für diesen langen Zeitraum ein nachvollziehbarer Grund erkennbar wäre. Dieser kann nach Auffassung des Senats nicht in den Weihnachtsfeiertagen und dem Jahreswechsel gesehen werden. Denn vom Eingang des Antrags am 8. Dezember 2003 haben bis zum 24. Dezember 2004 noch mehr als zwei Wochen zur Verfügung gestanden, in denen die richterliche Vernehmung der Zeugin ohne weiteres hätte durchgeführt werden können.

Der damit insgesamt ohne Verfahrensförderung verstrichene Zeitraum von fast sechs Wochen, der allein schon zur Aufhebung des Haftbefehls geführt hätte, hat vorliegend zu weiterer Verfahrensverzögerung geführt. Das Ergebnis der Angaben der Zeugin war nämlich als Grundlage für das beantragte Sachverständigengutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten unbedingt erforderlich, so dass sich durch die zu späte richterliche Vernehmung der Zeugin die Begutachtung des Angeklagten und damit der weitere Verfahrensablauf durch die dadurch bedingte spätere Gutachtenerstattung noch weiter verzögerte.

Unter diesen Umständen kann nach allem ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO nicht (mehr) bejaht werden. Vielmehr erfordert angesichts der verstrichenen Zeit der Freiheitsanspruch (Art 2 Abs. 2 GG) des noch nicht verurteilten Angeklagten die Aufhebung des Haftbefehls.

Ende der Entscheidung

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