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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 02.06.2008
Aktenzeichen: 2 Ss 190/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 206a
Sofern in einem Verfahren in einer niedrigeren Instanz ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, haben die nachfolgenden Instanzen von einem von Amts wegen zu beachtenden Prozesshindernis auszugehen.

Zur Frage, wie mit diesem Verfahrenshindernis in der Revision umzugehen ist, wenn es vom Tatgericht nicht beachtet worden ist.


Beschluss

Strafsache

gegen H.B

wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, (hier: Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO).

Auf den Antrag des Angeklagten vom 17. April 2008 auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 03. April 2008 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 02. 06. 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss des Landgerichts Bochum vom 03. April 2008 sowie das Urteil des Landgerichts Bochum vom 21. Februar 2008 werden aufgehoben.

Das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 18. Dezember 2007 ist rechtskräftig.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Strafbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 23. Oktober 2007 wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt worden. Seinen hiergegen fristgerecht eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht Bochum durch Urteil vom 18. Dezember 2007 verworfen, nachdem der Angeklagte zu dem Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht erschienen war. Gegen dieses Urteil, das ihm am 29. Dezember 2007 zustellt worden ist, hat er mit Schreiben vom 09. Januar 2008, beim Amtsgericht Bochum eingegangen am 11. Januar 2008, Berufung eingelegt, die das Landgericht Bochum durch Urteil vom 21. Februar 2008 verworfen hat, nachdem der Angeklagte zur Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen war. Gegen dieses Urteil, das ihm am 01. März 2008 zugestellt worden ist, hat der Angeklagte sodann mit Schreiben vom 03. März 2008, beim Landgericht Bochum eingegangen am 04. März 2008, Revision eingelegt. Das Landgericht Bochum hat die Revision durch den angefochtenen Beschluss vom 03. April 2008 als unzulässig verworfen, da die Revision zwar frist- und formgerecht eingelegt, nicht aber in der nach § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist begründet worden ist.

Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel des Angeklagten.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie vom Senat erkannt worden ist.

II.

Der innerhalb der Wochenfrist des § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO gestellte Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts ist zulässig und führt zur Aufhebung sowohl des Berufungsurteils des Landgerichts Bochum vom 21. Februar 2008 als auch des angefochtenen Beschlusses des Landgerichts Bochum vom 03. April 2008.

1. Das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 18. Dezember 2007 ist in Rechtskraft erwachsen, da der Angeklagte verspätet Berufung eingelegt hat.

Das Urteil ist dem Angeklagten am 29. Dezember 2007 zugestellt worden, so dass die einwöchige Frist zur Einlegung der Berufung am 07. Januar 2008 ablief. Der Angeklagte hat aber erst am 11. Januar 2008 und damit verspätet Berufung eingelegt.

Die Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils hat aber zur Folge, dass das Urteil des Landgerichts Bochum entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft aufzuheben war. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 07. Mai 2008 zutreffend ausgeführt hat, kann in einem Verfahren nur eine Entscheidung ergehen, da nach § 449 StPO unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verbotes der Doppelbestrafung nach Art. 103 Abs. 3 GG nur ein Urteil Grundlage für die Vollstreckung sein kann. Der Verurteilte ist hierdurch auch nicht beschwert, da das amtsgerichtliche Urteil bereits in Rechtskraft erwachsen war und die von ihm verspätet eingelegte Berufung daher in Leere ging.

2.

Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts hat letztlich zur Folge, dass sowohl das Berufungsurteils des Landgerichts Bochum vom 21. Februar 2008 als auch der angefochtene Beschlusses des Landgerichts Bochum vom 03. April 2008 aufzuheben waren.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 07. Mai 2008 u.a. Folgendes ausgeführt:

"2. ...

"a)

Der Verurteilte hat gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 21.02.2008 zwar rechtzeitig Revision eingelegt. Er hat diese jedoch nicht entsprechend den Formerfordernissen des § 345 Abs. 2 StPO begründet, da die Begründung weder durch eine von einem Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift, noch zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgt ist. Grundsätzlich ist damit nach § 346 Abs. 1 StPO die revisionsrechtliche Überprüfung des Urteils verwehrt.

Das Gericht hat jedoch in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob ein Verfahrenshindernis besteht. Hierzu gehört auch die von Amts wegen - auch ohne entsprechende Rüge - von dem Revisionsgericht vorzunehmende Prüfung, ob gegen das erstinstanzliche Urteil wirksam das Rechtsmittel der Berufung eingelegt wurde. Sofern in einem Verfahren in einer niedrigeren Instanz - wie in dem vorliegenden Verfahren - ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, haben die nachfolgenden Instanzen von einem von Amts wegen zu beachtenden Prozesshindernis auszugehen (BayObLG, NStZ 1994, 48 f.; Meyer-Goßner, StPO; 50. Auflage; Einl., Rdnr. 145 a.E.). Bei den Prozesshindernissen sind "Befassungsverbote" und "Bestrafungsverbote" zu unterscheiden. Befassungsverbote sind solche Hindernisse, die es einem Gericht verbieten, sich überhaupt sachlich mit dem Vorwurf zu befassen (wie z.B. das Fehlen einer wirksamen Anklage oder eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses u.a.). Bestrafungsverbote hingegen stehen einer Befassung mit der Sache nicht entgegen, sondern verhindern, dass ein Angeklagter bestraft werden kann, wie z.B. ein fehlender Sachantrag, Verjährung, Verhandlungsunfähigkeit u.a.. Die entgegenstehende Rechtskraft ist ein Befassungsverbot, d.h. das Gericht darf sich sachlich mit dem Vorwurf nicht befassen (Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 143). Liegt ein Prozesshindernis vor, wird nach überwiegender Rechtsauffassung bei einer nicht wirksamen oder fehlenden Revision differenziert. Ist das Prozesshindernis nach dem Erlass des angefochtenen Urteils ergangen, wird es auch dann berücksichtigt, wenn die Revision nicht, verspätet oder nicht in der erforderlichen Form begründet wurde (Meyer-Goßner, a.a.O., § 346, Rdnr. 11). Anders verhält es sich, wenn das Prozesshindernis vor dem Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten ist. Grundsätzlich wird hierzu seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 17.07.1968 (BGHSt 22, 213, 215 ff.) einhellig die Auffassung vertreten (Meyer-Goßner, a.a.O.), dass Verfahrensmängel, die vor dem Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten sind, nicht mehr angreifbar sind.

Danach wäre der Antrag des Verurteilten auf Entscheidung des Revisionsgerichts vom 17.03.2008 (Bl. 72 d.A.) grundsätzlich gemäß § 346 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Diese Auffassung erscheint gut vertretbar, bei den "herkömmlich" auftretenden Verfahrenshindernissen, die dazu führen, dass ein Urteil, das "so" wie es ergangen ist, "eigentlich" nicht hätte ergehen dürfen, aber dennoch als wirksam angesehen werden soll. Sämtliche bei dieser Auffassung berücksichtigten Verfahrenshindernisse sind zwar zum Teil recht gravierend (Mängel der Anklage, zwischenzeitlich eingetretene Verjährung u.a.), sind jedoch im Ausmaß nicht derart schwerwiegend, dass der Bestand eines Urteils insgesamt in Zweifel gezogen werden muss.

Anders verhält es sich bei der vorliegenden Konstellation, bei der ein bereits in Rechtskraft erwachsenes Urteil des Amtsgerichts Gegenstand eines Berufungsverfahrens war. Wie die Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, hat eine solche Konstellation kaum praktische Bedeutung. Grundlegende Entscheidungen zu der Frage der Behandlung von Verfahrenshindernissen im Zusammenhang mit der Rechtskraft von Entscheidungen sind in den letzten Jahrzehnten nur vereinzelt ergangen und veröffentlicht worden und stammen überwiegend aus den 50er bis zu den 90er Jahren. Sie befassen sich ganz überwiegend mit sonstigen Prozesshindernissen und nicht mit der Wirksamkeit eines nach Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils ergangenen Berufungsurteils (BGHSt 22, 213, 214 ff., m.w.N.; BayObLG, NStZ 1994, 48, wie hier auch: Löwe-Rosenberg-Rieß, StPO, 25. Aufl., Eil., Rdnr. 130, insbesondere in der Fn. 411). Könnte ein nach der Rechtskraft der ersten Entscheidung im Rahmen eines unwirksam durchgeführten Rechtsmittelverfahrens ergangenes weiteres Urteil in demselben Verfahren ebenfalls Rechtskraft erlangen, würde dies zu der paradoxen Situation führen, dass in demselben Verfahren zwei Entscheidungen vorliegen würden. Wenn diese Entscheidungen - was nach Abschluss eines Rechtsmittelverfahrens - durchaus möglich erscheint, einen unterschiedlichen Schuldspruch und/oder Rechtsfolgenausspruch hätten, würde sich die Frage stellen, welches dieser Urteile überhaupt vollstreckbar wäre. Im Zweifel wäre eine Vollstreckung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, da der Vollstreckung jedes Urteils die Rechtskraft des jeweils anderen Urteils entgegenstünde. Gleiches hat zu gelten, wenn - wie vorliegend - das Rechtsmittel des Angeklagten verworfen und damit das Urteil des Amtsgerichts durch das Berufungsurteil bestätigt werden würde, da nur ein Urteil die Grundlage für die Vollstreckung sein kann.

Auch kommt eine Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO wegen des Verfahrenshindernisses der Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung nicht in Betracht.

Nach § 206a StPO ist ein Verfahren zwar dann einzustellen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht. Diese Vorschrift kommt aber nur dann zur Anwendung, wenn das Verfahren im Hinblick auf einen Tatvorwurf ganz oder teilweise wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen ist, d.h. wenn das Verfahren in diesem Umfang insgesamt eingestellt werden muss (Meyer-Goßner, a.a.O., § 206a, Rdnr. 3 f.). Vorliegend geht es aber nicht darum, das Verfahren insgesamt durch eine Einstellung zu beenden, da bereits eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt, die auch vollstreckt werden muss, sondern darum, wie in der Revisionsinstanz mit dem zu Unrecht ergangenen Urteil des Berufungsgerichts, d.h. mit der ins Leere laufenden Annexentscheidung zu der bereits rechtskräftigen Entscheidung in diesem Verfahren zu verfahren ist. Eine Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO kommt daher nicht in Betracht.

b)

Der Anschein einer wirksamen Entscheidung des Landgerichts in vorliegender Sache ist zu beseitigen. Zu Recht wird daher die Auffassung vertreten, dass das Revisionsgericht das Berufungsurteil wegen der verspäteten Berufung aufzuheben und die Berufung als unzulässig zu verwerfen hat, wenn die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils übersehen wurde (OLG München, NJW 2008, 1331, 1332, mit Nam. Meyer-Goßner, 1332; Löwe-Rosenberg-Hanack, a.a.O., § 337, Rdnr. 53). Dabei ist - zur Klarstellung - auch festzustellen, dass das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig ist (OLG Hamm, VRS 43, 112, 113; OLG München, NJW 2008, 1331, 1332, mit Anm. Meyer-Goßner, 1332; Löwe-Rosenberg-Hanack, a.a.O.).

Es erscheint nach alledem geboten, das Urteil des Landgerichts Bochum vom 21.02.2008 und den die Revision des Verurteilten als unzulässig verwerfenden Beschluss des Landgerichts Bochum vom 03.04.2008 aufzuheben. Jedenfalls bei einem derart schwerwiegenden Verstoß (trotz entgegenstehender Rechtskraft getroffene Entscheidung) ist von dem Grundsatz, dass Verfahrenshindernisse, die vor Urteilserlass des angefochtenen Urteils eingetreten sind, durch das Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen sind, abzuweichen, um Rechtsklarheit zu schaffen."

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung.

Die vorliegende Entscheidung unterscheidet sich von dem Fall, über den das OLG München (abgedruckt in NJW 2008, 1331 ff.; vgl. hierzu auch die Anmerkung von Meyer-Goßner im Anschluss, der sich kritisch mit dieser Entscheidung auseinandersetzt und die Rechtskraft als vorrangig gegenüber dem Verschlechterungsverbot bewertet) zu befinden hatte. In jenem Fall hatte das Amtsgericht auf einen verspätet eingelegten Einspruch gegen einen Strafbefehl versehentlich die Hauptverhandlung durchgeführt und durch Urteil auf eine mildere Strafe erkannt als diejenige, die mit dem Strafbefehl verhängt worden war. Auf die Revision des Angeklagten hatte das OLG München das angefochtenen Urteil aufgehoben und den Einspruch unter Beachtung des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2 StPO) als unzulässig verworfen. Es verbleib bei der durch Urteil des Amtsgerichts verhängten niedrigeren Geldstrafe. Begründet hat das OLG München seine Entscheidung damit, dass die §§ 331, 358 Abs. 2 StPO den Angeklagten bei der Überlegung, ob er ein Rechtsmittel einlegen soll, von der Befürchtung befreien sollen, er könne vielleicht in nächsten Rechtszug schwerere bestraft werden. Den vorgenannten Vorschriften liege aber auch der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass ein Urteil auf ein Rechtsmittel hin im Strafausspruch nur zu Gunsten des Beschwerdeführers geändert werden dürfe.

Im vorliegenden Fall kommt jedoch das Verschlechterungsverbot nicht zum Tragen, da die im vorliegenden Fall ergangenen Entscheidungen identische Rechtsfolgen aussprechen.

III.

Eine Kostenentscheidung ergeht bei einer Entscheidung des Senats nach § 346 Abs. 2 StPO nicht, da das KVGKG dafür keine Gebühr vorsieht und Auslagen nicht entstehen. Der Senat gibt jedoch zu bedenken, dass angesichts des Umstandes, dass die Durchführung des Berufungsverfahrens auf einer fehlerhaften Sachbehandlung durch die Justiz beruhte, der Angeklagte mit diesen Kosten nicht belastet werden sollte.

Ende der Entscheidung

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