Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 16.09.2002
Aktenzeichen: 2 Ss 741/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 297
StPO § 335
Zur Auslegung der (missverständlichen) Erklärung des Angeklagten, der sich gegen ein gegen ihn ergangenes Urteil wendet.
Beschluss Strafsache gegen M.T., wegen Diebstahls u. a. (hier: Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts).

Auf den Antrag des Angeklagten vom 24. Juni 2002 auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 3. Juni 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Hamm am 16. 09. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als Berufung zu behandeln.

Gründe:

I. Der Angeklagte, der algerischer Staatsangehöriger und der deutschen Sprache kaum mächtig ist, ist durch Urteil des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 26. Februar 2002 wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hat der Pflichtverteidiger des Angeklagten am 27. Februar 2002 Berufung eingelegt. Am 4. März 2002 ging sodann beim Amtsgericht Lüdenscheid ein Schreiben des Angeklagten vom 28. Februar 2002 ein, in dem es heißt: "Hiermit lege ich rewision ein Bezugnehmend auf die Verhandlung am 26-02-002 beim Amtsgericht ludenscheid."

Das Rechtsmittel ist nicht begründet worden. Das Amtsgericht hat das Rechtsmittel als Revision angesehen und im angefochtenen Beschluss als unzulässig verworfen, weil entgegen § 345 StPO eine fristgerechte Revisionsbegründung nicht erfolgt sei. Von den nach Ansicht des Amtsgericht sich widersprechende Rechtsmittelerklärungen des Verteidigers und des Angeklagten hat das Amtsgericht diejenige des Angeklagten als maßgebend angesehen.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit Schriftsatz seines jetzigen Verteidigers vom 24. Juni 2002, mit dem er "sofortige Beschwerde" gegen den Verwerfungs-Beschluss des Amtsgerichts erhoben hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag als unbegründet zu verwerfen.

II.

Der Antrag des Angeklagten vom 24. Juni 2002 ist auf Überprüfung des Verwerfungsbeschlusses des Amtsgerichts gerichtet und damit gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO auszulegen.

Dieser Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Nach § 346 Abs. 1 StPO kann das Tatgericht, dessen Urteil angefochten worden ist, eine gegen seine Entscheidung eingelegte Revision verwerfen, wenn diese verspätet eingelegt oder die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form angebracht worden sind. Der Angeklagte hat hier zwar hinsichtlich des von ihm eingelegten Rechtsmittels weder einen Revisionsantrag angebracht noch das Rechtsmittel in der Form des § 345 Abs. 2 StPO begründet. Gleichwohl berechtigte dies das Amtsgericht nicht zur Verwerfung des Rechtsmittels. Bei diesem handelt es sich nämlich nicht um eine nach § 335 Abs. 1 StPO grundsätzlich statthafte (Sprung-)Revision gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 26. Februar 2002, sondern um eine Berufung.

Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass das Revisionsgericht seiner Verpflichtung, aufgrund eines Antrags nach § 346 Abs. 2 StPO die Frage der Zulässigkeit der Revision nach allen Richtungen und ohne die dem Tatgericht in § 346 Abs. 1 StPO auferlegten Grenzen zu überprüfen, nur genügen kann, wenn es zuvor die vorrangige Frage klärt, ob überhaupt eine (Sprung-)Revision im Sinne von § 335 Abs. 1 StPO vorliegt. Nur wenn dies der Fall ist, kann das Revisionsgericht, wenn es hinsichtlich der amtsgerichtlichen Entscheidung der Auffassung ist, dass die Voraussetzungen für eine Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO nicht vorgelegen haben, diese Entscheidung aufheben und gegebenenfalls zur Überprüfung des angefochtenen Urteils selbst schreiten. Anderenfalls wäre dem Revisionsgericht diese Überprüfung verwehrt (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Januar 1997 in 2 Ss 1518/96 = StraFo 1997, 210, 211 = VRS 93, 113; so auch OLG Hamm NJW 1969, 1821; NJW 1956, 1168; Hanack, in: Löwe/Rosenberg, Großkommentar zur StPO, 25. Aufl., § 346 Rn. 26; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 4. Aufl., § 346 Rn. 21; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 346 Rn. 10). Mit einer solchen Entscheidung greift das Revisionsgericht auch nicht unzulässigerweise in die Zuständigkeit des Berufungsgerichts ein. Es bringt - falls es das Rechtsmittel als Berufung auslegt - lediglich zum Ausdruck, dass eine Revision nicht eingelegt worden ist und diese daher auch nicht als unzulässig verworfen werden durfte. Die dem Berufungsgericht vorbehaltene Entscheidung, ob das Rechtsmittel als Berufung zulässig ist, bleibt hiervon unberührt.

Die demnach vom Senat vorzunehmende Auslegung des Rechtsmittels des Angeklagten vom 4. März 2002 führt dazu, dass es sich dabei - entgegen der Ansicht des Angeklagten - nicht um eine (Sprung-)Revision, sondern um eine Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 26. Februar 2002 handelt.

Hierbei verkennt der Senat nicht, dass grundsätzlich entsprechend § 297 StPO bei Widersprüchen zwischen Rechtsmittelerklärungen von Angeklagtem und Verteidiger der Wille des Angeklagten maßgebend ist, da Angeklagter und Verteidiger im Sinne von § 335 Abs. 3 StPO als derselbe Beteiligte gelten (vgl. BayObLGSt 1977, 102; OLG Koblenz MDR 1975, 424; Hanack, a. a. O., § 335 Rn. 22; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a. a. O., § 335 Rn. 16). Nach Auffassung des Senats bestehen aber erhebliche Zweifel, ob der erklärte Wille des Angeklagten in seinem Schreiben vom 28. Februar 2002 der Rechtsmittelwahl seines damaligen Verteidigers entgegenstand. Zunächst lässt sich schon nicht feststellen, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Anfechtungserklärung überhaupt Kenntnis von dem Rechtsmittel seines Verteidigers hatte. Die Erklärung des Angeklagten lässt deshalb nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass er mit ihr der Rechtsmittelerklärung seines Verteidigers widersprechen und die Überprüfung des angefochtenen Urteils auf Rechtsfehler beschränkt wissen wollte. Der Angeklagte ist - wie sein Schreiben an das Amtsgericht belegt - der deutschen Gerichtssprache nicht hinreichend mächtig. Deshalb ist un-gewiss, ob der Angeklagte den grundsätzlichen Unterschied zwischen Berufung und Revision auch nur annähernd nachzuvollziehen vermochte. Im Hinblick darauf kommt auch der Bezeichnung des Rechtsmittels als "rewision" allenfalls ungeordnete Bedeutung bei der Beurteilung des Inhalts der Erklärung des Angeklagten zu. Wenn aber der Inhalt einer Erklärung, mit der der Angeklagte Revision statt Berufung wählen wollte, Zweifel hinterlässt, die auch durch eine Auslegung nicht behoben werden können, so hat es bei der Berufung zu verbleiben, da diese die umfassendere Nachprüfung des Urteils erlaubt (vgl. Senat a. a. O.; OLG Hamm JMBlNRW 1976, 168; OLG Düsseldorf MDR 1993, 676; OLG Köln MDR 1980, 690; OLG Koblenz VRS 65, 45; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a. a. O., § 300 Rn. 3, § 335 Rn. 4). Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte verfassungsrechtliche Anspruch des Ahn-geklagten auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle verpflichtet das Gericht, ein Rechtsmittel so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreicht werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 20. März 2000 in 2 Ws 80/00 = wistra 2000, 318, 319 = Rpfleger 2000, 424).

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft steht einer Auslegung des Rechtsmittels als Berufung auch nicht entgegen, dass es der jetzige Verteidiger des Angeklagten trotz gewährter Akteneinsicht unterlassen hat, das Rechtsmittel eindeutig zu bezeichnen. Eine derartige Verpflichtung des Verteidigers bestand nicht. Die Akteneinsicht erfolgte zudem erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist.

Da somit das Rechtsmittel des Angeklagten als Berufung anzusehen ist, konnte das Amtsgericht das Rechtsmittel des Angeklagten nicht nach § 346 Abs. 1 StPO wegen im Sinne des § 345 Abs. 2 StPO nicht formgerechter Begründung verwerfen. Demgemäss war der angefochtene Beschluss aufzuheben und zur Klarstellung festzustellen, dass das Rechtsmittel des Angeklagten als Berufung zu behandeln ist.

III.

Eine Entscheidung über die Kosten ist nicht veranlasst, da es sich beim Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO um einen Rechtsbehelf eigener Art handelt, für den das GKG eine Gebühr nicht vorsieht (so auch OLG Koblenz VRS 68, 51, 53; Kuckein, a. a. O., § 346 Rn. 23 mit weiteren Nachweisen).

Ende der Entscheidung

Zurück