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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 10.10.2003
Aktenzeichen: 2 Ss OWi 598/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 147
StPO § 344
StPO § 261
StPO § 249
1. Zur Begründung der Verfahrensrüge mit der die Verletzung des Akteneinsichtsrecht während der Hauptverhandlung geltend gemacht wird, reicht es nicht aus, wenn nur der Akteneinsichtsantrag und die daraufhin ergangene Entscheidung des Tatrichters mitgeteilt wird. Vielmehr muss ggf. auch noch vorgetragen werden, dass die Akte zum Zeitpunkt der Einsichtnahme nicht vollständig gewesen ist und welche Bestandteile gefehlt haben, sowie vor allem, welche Gründe einer - ggf. nochmaligen - erneuten und dann vollständigen Akteneinsicht entgegengestanden haben.

2. Zur ordnungsgemäßen Begründung der Rüge, dass eine nicht verlesene Urkunde zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht worden sei, gehört der Vortrag, dass die Urkunde auch nicht in anderer Weise, nämlich durch Vorhalt oder durch die Vernehmung von Zeugen, in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. Ob zudem erforderlich ist, dass (immer) auch vorgetragen wird, dass von der Urkunde auch nicht im Wege des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO Kenntnis genommen worden ist, kann offen bleiben.


Beschluss

Bußgeldsache

gegen M. H.

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vom 04. Juni 2003 gegen das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 03. Juni 2003 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 10. 10. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 6 i.V.m. § 349 StPO beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen wird im Rechtsfolgenausspruch - unter Verwerfung der Rechtsbeschwerde auf Kosten des Betroffenen im Übrigen - hinsichtlich der verhängten Geldbuße aufgehoben.

Der Betroffene wird zu einer Geldbuße von 100 EURO verurteilt.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung nach den §§ 3 Abs. 3, 49 StVO in Verbindung mit §§ 24, 25 StVG eine Geldbuße von 150 EURO festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen mit der im Einzelnen ausgeführten Rüge des formellen und materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgensausspruch aufzuheben.

II.

Die zulässige Rechtsbeschwerde hat nur hinsichtlich der Höhe der Geldbuße geringen Erfolg.

1. Die vom Betroffenen erhobenen Verfahrensrügen sind nicht ausreichend im Sinn von §§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; 79 Abs. 3 OWiG begründet.

a) Der Betroffene macht zunächst mit der Verfahrensrüge die Verletzung von § 147 StPO geltend. Das Amtsgericht habe ihm nämlich vollständige Akteneinsicht nicht ermöglicht und einen von ihm in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung zur Nachholung der Akteneinsicht nicht beschieden.

Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde: Der Verteidiger des Betroffenen hatte sich für diesen noch gegenüber der Bußgeldbehörde mit Schriftsatz vom 8. Januar 2003 bestellt und zugleich Akteneinsicht beantragt. Diese ist ihm am 13. Januar 2003 gewährt worden. Zu dem Zeitpunkt der Akteneinsicht befanden sich in der Akte weder das Messprotokoll noch das Eichprotokoll für das zur Feststellung des vom Betroffenen begangenen Verkehrsverstoßes verwendete Messgerät. Diese Unterlagen sind erst Ende Januar 2003 zur Akte gelangt. In der Hauptverhandlung vom 3. Juni 2003 hat der Verteidiger sodann Aussetzung der Hauptverhandlung beantragt, weil er keine vollständige Akteneinsicht erhalten habe. Es habe das Einsatzprotokoll gefehlt. Zudem habe sich aus der Akte kein Hinweis ergeben, welches Messgerät verwendet wurde und ob die Verwendung ordnungsgemäß erfolgt sei. Diesen Antrag hat das Amtsgericht nicht beschieden.

Die auf diesen Verfahrensgang gestützte Rüge der Verletzung des sich aus § 147 StPO ergebenden Akteneinsichtsrechts ist nicht ausreichend begründet. Die Begründung entspricht nicht den Anforderungen der §§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, 79 Abs. 3 OWiG. Danach müssen die Tatsachen, aus denen die Gesetzesverletzung hergeleitet werden soll, so genau und vollständig vorgetragen werden, dass das Rechtsbeschwerdegericht ohne Rückgriff auf die Akten allein aufgrund der Rechtsbeschwerdebegründung prüfen kann, ob der behauptete Verfahrensfehler vorliegt (Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 79 Rn. 27 d mit weiteren Nachweisen). Vorliegend hat der Betroffene zwar den Inhalt des in der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrags mitgeteilt sowie dargelegt, dass das Amtsgericht daraufhin eine Entscheidung nicht getroffen habe, was der Beschränkung der Verteidigung durch einen Beschluss des Gerichts, durch den die Aussetzung der Hauptverhandlung abgelehnt worden wäre, gleich stehen würde (vgl. dazu Hanack in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., § 338 Rn. 129; OLG Saarbrücken NJW 1975, 1613).

Dies ist jedoch nicht ausreichend. Zwar besteht nach allgemeiner Meinung das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO grundsätzlich während der gesamten Dauer des Verfahrens. Ausnahmen von diesem Grundsatz werden jedoch für den Verfahrensabschnitt der Hauptverhandlung gemacht, da das Gericht während der Hauptverhandlung die Akten benötigt (OLG Stuttgart NJW 1979, 559 f. m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., 2003, § 147 Rn. 10). Die Generalstaatsanwaltschaft weist zutreffend daraufhin, dass eine Akteneinsichtnahme während der Hauptverhandlung in Verbindung mit einer Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung nur dann geboten ist und in Betracht kommt, wenn der Verteidiger an einer rechtzeitigen Akteneinsicht gehindert war (OLG Stuttgart, a.a.O.), er keine vollständige Akteneinsicht erhalten hat (so wohl BayObLG NJW 1992, 2242) oder während der Hauptverhandlung weitere verfahrensbezogene Ermittlungen angestellt worden sind (Vgl. BGH NStZ 1990, 193, 195; StV 2001, 4). Diese somit für die Dauer der Hauptverhandlung ausnahmsweise gegebene Einschränkung des Akteneinsichtsrecht hat zur Folge, dass es zur Begründung der Verfahrensrüge mit der die Verletzung eines Akteneinsichtsrecht während der Hauptverhandlung geltend gemacht wird, nicht ausreicht, wenn nur der Akteneinsichtsantrag und die daraufhin ergangene Entscheidung des Tatrichters mitgeteilt wird. Vielmehr muss auch noch vorgetragen werden, dass die Akte zum Zeitpunkt der Einsichtnahme nicht vollständig gewesen ist und welche Bestandteile gefehlt haben, sowie vor allem, welche Gründe einer - ggf. nochmaligen - erneuten und dann vollständigen Akteneinsicht entgegengestanden haben. Denn nur dann, wenn der Verteidiger nicht rechtzeitig vollständig Akteneinsicht nehmen konnte, hat er - wie dargelegt - einen Akteneinsichtsanspruch auch noch während der Hauptverhandlung. Dieser Vortrag fehlt vorliegend aber.

Die somit unzulässige Verfahrensrüge wäre im Übrigen auch unbegründet. Mit der Generalstaatsanwaltschaft ist der Senat der Auffassung, dass es für die Verteidigung grundsätzlich nicht zumutbar ist, in regelmäßigen Abständen vor der Hauptverhandlung beim Gericht nachzufragen, ob die Akte ggf. ergänzt worden ist, um dann möglicherweise erneut Akteneinsicht zu nehmen. Nimmt die Verteidigung jedoch wie vorliegend frühzeitig Akteneinsicht, ohne dies mit dem weiteren Antrag zu verknüpfen, ihr bei - ggf. zu erwartender - Vervollständigung der Akten erneut Einsicht zu gewähren, lässt sich eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung in der Hauptverhandlung nicht damit begründen, dass in bzw. während der Hauptverhandlung nicht noch einmal Akteneinsicht gewährt worden ist. Das gilt vor allem auch dann, wenn zum Zeitpunkt der Akteneinsicht - wie hier - der Bußgeldbescheid bereits erlassen ist und die Verteidigung aus den darin angeführten Beweismitteln ersehen konnte, dass zur Feststellung des Verkehrsverstoßes ein "Gerät LAVEG 3297 VL 101, geeicht bis 31. 12. 02" verwendet worden war, von dem sich aber ein Eichprotokoll eben so wenig bei den Akten befand wie das Messprotokoll über den Verkehrsverstoß.

b) Mit der Verfahrensrüge wird weiter geltend gemacht, dass das Amtsgericht in den Urteilsgründen auf das Messprotokoll Bezug genommen habe, obwohl dieses ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht Gegenstand der Beweisaufnahme gewesen sei. Die darin liegende Verletzung des § 261 StPO ist ebenfalls nicht ausreichend im Sinn von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO begründet. Zur ordnungsgemäßen Begründung der Rüge, dass eine nicht verlesene Urkunde zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht worden sei, gehört nämlich nach ständiger Rechtsprechung aller Senate des OLG Hamm auch der Vortrag, dass die Urkunde auch nicht in anderer Weise, nämlich durch Vorhalt oder durch die Vernehmung von Zeugen, in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 19. Februar 2001 in 2 Ss OWi 43/01 und des hiesigen 3. Senats für Bußgeldsachen vom 9. Januar 2001 in 3 Ss OWi 899/00; Meyer-Goßner, a.a.O., § 249 Rn. 30; OLG Düsseldorf StV 1995, 120; OLG Köln VRS 73, 136). Die Begründung der Verfahrensrüge enthält entsprechenden Vortrag ebenfalls nicht. Ob zur ausreichenden Begründung dieser Verfahrensrüge zudem gehört, dass (immer) auch vorgetragen wird, dass von der Urkunde auch nicht im Wege des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO Kenntnis genommen worden ist (so OLG Düsseldorf StV 1995, 120 f.; Meyer-Goßner, a.a.O.; § 249 Rn. 30 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH), kann hier dahinstehen, da eine Durchführung des Selbstleseverfahrens vorliegend ersichtlich nicht in Betracht kommt.

c) Mit der Verfahrensrüge wird schließlich geltend gemacht, dass das Amtsgericht die vom Betroffenen auf dem Anhörungsbogen abgegebene Erklärung: "Ja, war zu schnell" in der Hauptverhandlung verlesen hat. Auch diese Rüge führt nicht zur Aufhebung des Urteils. Durch die Verlesung der Erklärung des Betroffenen sind nämlich Verfahrensrecht und -grundsätze - in Betracht kämen die §§ 250, 254 StPO - nicht verletzt. Die Rechtsbeschwerde übersieht, dass die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen stattgefunden hat und demgemäss die Verlesung der Erklärung des Betroffenen nach § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG zulässig war.

2. Die vom Betroffenen ebenfalls erhobene Sachrüge hat nur hinsichtlich der Höhe der festgesetzten Geldbuße geringfügig Erfolg.

a) Die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung nach den §§ 3 Abs. 3, 49 StVO, 24 StVG. Die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung wurde mit dem Radarmessgerät LAVEG ermittelt. Dabei handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung, so dass die Mitteilung des Messverfahrens und die Höhe des Toleranzabzuges, den das Amtsgericht hier mit 3 km/h angenommen hat, ausreichend sind (vgl. z.B. Senat in MDR 2000, 881 = zfs 2000, 416 mit weiteren Nachweisen aus der obergerichtlichen Rechtsprechung).

Auch die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist nicht zu beanstanden. Zwar hat der Tatrichter nicht ausdrücklich mitgeteilt, wie der Betroffene sich konkret eingelassen hat. Aus dem Gesamtzusammenhang der zur Würdigung der erhobenen Beweise gemachten Ausführungen ergibt sich jedoch noch hinreichend deutlich, dass der Betroffene seine Fahrereigenschaft nicht bestritten, sondern nur Einwände gegen die Ordnungsgemäßheit des Messvorgangs erhoben hat. Die insoweit vom Amtsgericht gemachten Ausführungen sind lückenlos, widerspruchsfrei und verstoßen weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze.

b) Der vom Amtsgericht getroffene Rechtsfolgenausspruch ist allerdings teilweise fehlerhaft.

Nicht zu beanstanden ist die Festsetzung eines Fahrverbotes von einem Monat. Der Tatrichter ist ersichtlich von einem Regelfall nach der BußgeldkatalogVO - lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 der BußgeldkatalogVO - ausgegangen. Demgemäss ist, da Besonderheiten nicht festgestellt sind und auch mit der Rechtsbeschwerde nicht vorgetragen werden, die Festsetzung des einmonatigen Fahrverbotes nicht zu beanstanden.

Die Festsetzung der Geldbuße von 150 EURO ist hingegen rechtsfehlerhaft. Der Tatrichter ist von einem Regelfall nach der BußgeldkatalogVO - lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 der BußgeldkatalogVO - ausgegangen und hat Feststellungen, die eine Erhöhung der Geldbuße rechtfertigen würden, nicht bzw., nachdem die Voreintragungen wegen Zeitablaufs löschungsreif waren, nicht mehr treffen können. Dann war aber nur die Verhängung einer Geldbuße von 100 EURO gerechtfertigt und nicht, wie vom Tatrichter festgesetzt; von 150 EURO. Insoweit hat der Senat allerdings von einer Zurückverweisung des Verfahrens an das Amtsgericht abgesehen und von seinem ihm in § 79 Abs. 6 OWiG eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und die Geldbuße entsprechend ermäßigt.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1, 4 StPO, 79 Abs. 3 OWiG. Sie berücksichtigt, dass die Rechtsbeschwerde des Betroffenen nur hinsichtlich der Höhe der Geldbuße geringfügigen Erfolg gehabt hat.



Ende der Entscheidung

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