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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 23.06.2008
Aktenzeichen: 2 Ws 170/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
Besteht eine Straferwartung von rund acht Jahren hat im Rahmen der Prüfung der Frage der Fluchtgefahr der Umstand, dass sich der Angeklagte dem Verfahren gestellt hat, geringeres Gewicht.
Beschluss

Strafsache

gegen J.K.

wegen Vergewaltigung.

Auf die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 02. Juni 2008 gegen den Beschluss des Landgerichts Hagen vom 21. Mai 2008 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 23. 06. 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

Tenor:

Die Haftbeschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 Abs. 1 StPO) verworfen.

Gründe:

I.

Gegen den Angeklagten ist ein Verfahren wegen Vergewaltigung anhängig. In diesem wurde am 16. März 2006 gegen den Angeklagten ein Haftbefehl erlassen (54 Gs 139/06 AG Schwelm). Der Angeklagte ist dann am 17. März 2006 vorläufig festgenommen worden und hat sich bis zum 01. Juni 2006 in Untersuchungshaft befunden. Von dieser ist er durch Beschluss des Amtsgerichts Schwelm vom 01.06.2006 (54 Gs 139/06) verschont worden.

Am 15. November 2006 hat die Staatsanwaltschaft Hagen Anklage erhoben. Danach hat das Landgericht mit dem Beschluss vom 24. Juli 2007 den Haftbefehl neu gefasst und in Vollzug gesetzt. Der Angeklagte hat sich aufgrund dieses Beschlusses dann vom 03. August 2007 bis zum 16. August 2007 in Untersuchungshaft befunden. Am 16. August 2007 ist der Vollzug des Haftbefehls durch Beschluss des Landgerichts vom selben Tage ausgesetzt worden.

Die Strafkammer hat während laufender Hauptverhandlung am 18. Oktober 2007 den Haftbefehl sodann wieder in Vollzug gesetzt und auf den Haftgrund der Verdunklungsgefahr gestützt, weil der Angeklagte einen Zeugen beeinflusst hatte. Der Angeklagte befindet sich nunmehr seit dem 18. Oktober 2007 in Untersuchungshaft.

Durch Urteil des Landgerichts vom 06. Februar 2008 ist er inzwischen wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden. Mit Verkündung des Urteils wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Schwelm vom 16. März 2006 von der Strafkammer neu gefasst und in Vollzug gesetzt sowie nach Maßgabe des Urteils aufrechterhalten worden. Als Haftgrund hat die Strafkammer Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Haftbeschwerde eingelegt, die der Senat mit Beschluss vom 30. April 2008 (2 Ws 121/08) verworfen hat.

Gegen das Urteil des Landgerichts Hagen hatten sowohl zunächst der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Revision mit der materiellen Rüge begründet. Sie hatte in der Hauptverhandlung eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten und die Anordnung von Sicherungsverwahrung beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision dann am 9. Mai 2008 zurückgenommen und Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Diesen Antrag hat die Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Dagegen richtet sich nunmehr die erneute Haftbeschwerde des Angeklagten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Der dringende Tatverdacht gegen den Angeklagten ergibt sich aus den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils vom 6. Februar 2008, in dem die Strafkammer begründet hat, warum sie der Überzeugung ist, dass der Angeklagte sich einer Vergewaltigung schuldig gemacht hat. Diese Feststellungen kann der Senat - wenn überhaupt - im Haftbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt überprüfen (vgl. dazu u.a. BGH NStZ 2004, 276; siehe auch noch der hiesige 3. Strafsenat, Beschluss vom 4. Dezember 2007 - 3 Ws 667/07 mit weiteren Nachweisen). Neue Tatsachen, die zu einer Entkräftung des sich auf diese Urteilsfeststellungen gründenden dringenden Tatverdachts führen könnten, sind nicht bekannt geworden und werden von dem Angeklagten auch nicht vorgetragen.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Senat tritt insoweit der Auffassung des Landgerichts im angefochtenen Beschluss und in der Nichtabhilfeentscheidung der Strafkammer vom 4. Juni 2008 bei, Verdunkelungsgefahr besteht nicht (mehr). Der Angeklagte ist zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Zwar vermag allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO grundsätzlich nicht zu begründen (vgl. z.B. Senat in NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203). Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der hohen Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, wozu insbesondere die Lebensverhältnisse des Angeklagten und sein bisheriges Verhalten während des Verfahrens zählen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 20. Februar 2003 - 2 Ws 55/03; Senat in StV 1999, 37 u. 215; StraFo 1999, 248; NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203; StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23; Beschluss vom 28. Oktober 2002 in 2 BL 100/02 - m. w. N.).

Die insoweit erforderlich Gesamtschau aller Umstände führt vorliegend jedoch dazu, dass Fluchtgefahr zu bejahen ist. Soweit der Angeklagte auf seine sozialen Bindungen und Kontakte verweist, erscheinen diese nach Auffassung des Senats nicht genügend tragfähig, um einer Fluchtgefahr wirksam zu begegnen. Der Angeklagte hat nämlich bei seiner Exploration am 3. Dezember 2007 im Rahmen des psychiatrisch-psychologischen Ergänzungsgutachtens angegeben, dass er von seiner "Lebensgefährtin" wegen ihrer Kinder, die ihn zu sehr aufregen würden, getrennt lebe. Er habe mit ihr eher kulturelle Aktivitäten unternommen und zugleich - mit ihrem Einverständnis - Beziehungen zu anderen Frauen unterhalten. Eine nachhaltige, auf eine gemeinsame Lebensplanung gerichtete, fluchthindernde Bindung dürfte in diesem Zusammenhang, worauf auch die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist und der Senat auch schon in seinem Beschluss vom 30. April 2008 abgestellt hat, kaum anzunehmen sein. Eine Arbeitsstelle steht ebenfalls nach wie vor nicht zur Verfügung.

Der Senat übersieht nicht, dass der Angeklagte sich dem Verfahren bislang gestellt hat. Das Landgericht hat jedoch schon in seinem Beschluss vom 31. März 2008, der Gegenstand des Verfahrens 2 Ws 121/08 gewesen ist und auch nun erneut in der angefochtenen Entscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass sich der Fluchtanreiz für den nach wie vor bestreitenden Angeklagten angesichts der erfolgten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren massiv erhöht hat. In dem Zusammenhang übersieht der Senat auch nicht, dass dem Angeklagten nunmehr, nachdem die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zurückgenommen hat, die von der Staatsanwaltschaft im Erkenntnisverfahren beantragte Sicherungsverwahrung wegen des im Fall der auf seine verbliebene Revision ggf. erfolgenden Aufhebung geltenden Schlechterstellungsgebots der §§ 331, 358 StPO nicht mehr droht. Es kann aber auch nicht übersehen werden, dass der Angeklagte den Widerruf der durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund vom 27. September 2004 zur Bewährung ausgesetzten Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Siegen vom 29. April 1992 (KLs 15 Js 111/91) zu erwarten hat. Insoweit sind nach überschlägiger Berechnung von der wegen schweren Raubes mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Mord verhängten Freiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten nach einem (zu erwartenden Widerruf) noch rund vier Jahre Freiheitsstrafe zu verbüßen. Damit besteht vorliegend eine Straferwartung von rund acht Jahren. Das relativiert den Umstand, dass der Angeklagte sich dem Verfahren gestellt hat, erheblich. Der Senat hat insoweit auch geprüft, ob ggf. die Voraussetzungen des § 57 StGB zu bejahen wären (vgl. dazu erst jüngst BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008, 2 BvR 806/08). Eine bedingte Entlassung des Angeklagten scheidet nach Überzeugung des Senats aufgrund des derzeit anzunehmenden massiven Bewährungsversagens aber aus. Nach alledem ist es daher, auch unter Berücksichtigung der auf die Strafe anzurechnenden Untersuchungshaft von rund neun Monaten, wahrscheinlicher, dass der Angeklagte dem in der dargestellten Straferwartungen vorliegenden Fluchtanreiz eher nachgeben und fliehen wird, als dass er sich dem weiteren Strafverfahren stellen wird.

Der Zweck der Untersuchungshaft lässt sich angesichts der Höhe der Straferwartung auch nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen nach § 116 ZPO erreichen.

Schließlich steht die bisher gegen den Angeklagten vollzogene Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Tatvorwürfe und der zu erwartenden langjährigen Freiheitsstrafe. Das Verfahren ist von der Strafkammer mit der für Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Das umfangreiche Urteil, das am 6. Februar 2008 verkündet worden ist, ist bereits am 18. März 2008 in vollem Umfang begründet zu Akte gelangt, so dass das Revisionsverfahren ohne Verzögerung durchgeführt werden kann.

Ende der Entscheidung

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