Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 04.10.2006
Aktenzeichen: 2 Ws 243/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
StPO § 53
Zur Beurteilung der Fluchgefahr bei gesamtstrafenfähigen Strafen, von denen eine schon voll verbüßt ist.
Beschluss

Strafsache

gegen M.J.

wegen Vergewaltigung (hier: weitere Haftbeschwerde).

Auf die weitere Haftbeschwerde des Beschuldigten vom 07. September 2006 gegen den Beschluss der 1. Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 04. September 2006 hat der 2. Senat des Oberlandesgerichts Hamm am 04. 10. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Die weitere Beschwerde wird auf Kosten des Beschuldigten verworfen.

Gründe:

I.

Der Beschuldigte befindet sich seit dem 07. August 2006 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 02. August 2006 (Az. 75 Gs 383/06) in Untersuchungshaft. In dem auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützten Haftbefehl wird ihm zur Last gelegt, am 07. April 1991 in Lüdenscheid die Zeugin K. vergewaltigt zu haben.

Nach der Tat, die dem Beschuldigten in diesem Verfahren vorgeworfen wird, wurde er durch Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 28. Juni 1994 (Az. 25 KLs 26 Js 940/92) wegen Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Diese Gesamtfreiheitsstrafe hat er inzwischen voll verbüßt. Er wurde am 01. September 2005 aus der Strafhaft entlassen und befand sich bis zu seiner erneuten Inhaftierung am 07. August 2006 auf freiem Fuß.

Gegen den Haftbefehl vom 02. August 2006 hat der Beschuldigte am 28. August 2006 Haftbeschwerde eingelegt, die durch Beschluss der 1. Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 04. September 2006 (Az. 41 Qs 75/06) als unbegründet verworfen worden ist. Hiergegen hat der Beschuldigte durch seinen Verteidiger am 07. September 2006 weitere Beschwerde eingelegt, der die Strafkammer durch Beschluss vom 11. September 2006 nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die weitere Haftbeschwerde des Beschuldigten als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gem. § 310 Abs. 1 StPO statthafte weitere Haftbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind erfüllt.

Problematisch ist im vorliegenden Fall allein das Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO liegt nach allgemeiner Meinung vor, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (Meyer-Goßner, StPO, 49. Auflage § 112 Rn. 17, 22 m.w.N.). Indiz für das Bestehen einer Fluchtgefahr ist eine hohe Straferwartung, die jedoch allein zur Begründung nicht ausreicht. Die Straferwartung ist in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschuldigte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchten (Meyer-Goßner a.a.O., § 112 Rn. 24). Die Frage, ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert somit in jedem Einzelfall die sorgfältige Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falles (Beschlüsse des Senats vom 06. Februar 2002 in 2 Ws 34/02 und vom 13. März 2002 in 2 Ws 60/02).

Vorliegend ist die grundsätzlich sehr hohe Straferwartung, die sich aus dem Strafrahmen des § 177 StGB a.F. und dem erheblichen kriminellen Tatunrecht ergibt, vor dem Hintergrund eines vorzunehmenden Härteausgleichs zu betrachten. Da die Bildung einer Gesamtstrafe mit den Taten aus dem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 28. Juni 1994 nur deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Beschuldigte die dort verhängte Gesamtfreiheitsstrafe inzwischen vollständig verbüßt hat, ist der Härteausgleich zur Vermeidung seiner Schlechterstellung zwingend durchzuführen. Nach dem Grundgedanken des § 55 StGB sollen Taten, auf die bei gemeinsamer Verhandlung die §§ 53, 54 StGB anzuwenden gewesen wären, bei getrennter Aburteilung dieselbe Behandlung erfahren, so dass der Täter im Ergebnis weder besser noch schlechter gestellt ist. Die Tatsache, dass eine durch Vollstreckung erledigte Strafe nicht mehr in eine Gesamtstrafe einbezogen werden kann, ändert nichts an der Forderung nach einem Ausgleich der sich durch getrennte Aburteilung ergebenden Nachteile (BGH wistra 2002, 422 m.w.N.). Wie der Tatrichter diesen Härteausgleich im Einzelfall vornimmt, ob er insbesondere zunächst eine "fiktive Gesamtstrafe" bildet und diese um die vollstreckte Strafe mindert oder ob er den Nachteil unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe berücksichtigt, bleibt ihm überlassen. Der Härteausgleich muss jedoch angemessen sein und in diesem Zusammenhang vor allem die gesetzliche Höchstgrenze des § 54 Abs. 2 S. 2 StGB berücksichtigen (BGHSt 33, 131; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Auflage, § 55 Rn. 22). Dies führt angesichts der bereits vollständig verbüßten dreizehnjährigen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Wuppertal dazu, dass im vorliegenden Verfahren eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren ausgeschlossen ist.

Auch der in dieser begrenzten Straferwartung liegende Fluchtanreiz ist jedoch - unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalls - so erheblich, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Beschuldigte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu berücksichtigen, dass das erhebliche kriminelle Tatunrecht und die umfangreichen Vorstrafen des Beschuldigten eine geringere Freiheitsstrafe als zwei Jahre oder gar eine Strafaussetzung zur Bewährung nahezu ausgeschlossen erscheinen lassen. Hinzu kommt, dass der Beschuldigte bereits mehrere langjährige Haftstrafen verbüßt hat, so dass nicht damit zu rechnen ist, dass er nach einer Verbüßung von zwei Dritteln dieser Strafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB vorzeitig aus der Strafhaft entlassen werden wird. Die bisher erlittene Untersuchungshaft von derzeit knapp zwei Monaten wird ihm zwar gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 StGB anzurechnen sein, so dass noch ein Strafrest von 22 Monaten verbleibt, was nach ständiger Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht genügt, um einen Fluchtanreiz zu begründen (vgl. Beschlüsse des Senats vom 13. März 2002 in 2 Ws 60/02 und vom 27. Dezember 2002 in 2 Ws 475/02). Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall jedoch nicht übertragbar. Der Beschuldigte hat nämlich schon früher gezeigt, dass er prinzipiell dazu neigt, sich einer drohenden Strafe durch Flucht zu entziehen. Im Dezember 1982 entwich er unmittelbar nach einer Verurteilung durch das Landgericht Aachen vom 06. Oktober 1982 (Az. 24 KLs 51 Js 751/81-90 VRs 819/82), das ihn wegen Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt hatte, aus dem offenen Vollzug und hielt sich anschließend für zwei Jahre bei seiner Mutter versteckt.

Darüber hinaus begründen auch alle übrigen Umstände des Falles die Annahme, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren durch Flucht entziehen wird, wenn er sich auf freiem Fuß befände. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die relativ kurze Zeit der Freiheit seit der Haftentlassung des Beschuldigten hinzuweisen. Die Verbüßung der diversen Strafen hat außerdem dazu geführt, dass der Beschuldigte einen Großteil seines Lebens in Haft verbracht hat, so dass die erst seit dem 01. September 2005 genossene Freiheit den Aufbau ausreichend tragfähiger sozialer Kontakte ausgeschlossen erscheinen lässt. Familiäre Bindungen sind, mit Ausnahme der Beziehung zu seiner Verlobten D., nicht zu erkennen. Gerade die vom Verteidiger erwähnte und vom Beschuldigten eingeräumte angebliche Impotenz führt allerdings auch in dieser Hinsicht zu Zweifeln in Bezug auf die Frage nach der Dauerhaftigkeit dieser Bindung. Eben solche sexuellen Probleme und Konflikte haben nämlich zu der Totschlagstat geführt, die Gegenstand des Urteils des Landgerichts Wuppertal ist. Auch im vorliegenden Verfahren sollen sexuelle Probleme nach den eigenen Ausführungen des Beschuldigten in einem Schreiben an die Geschädigte vom 22. August 2006 zu der Tat geführt haben, die ihm nunmehr vorgeworfen wird.

Abgesehen von den fehlenden familiären Bindungen kann auch von einem starken beruflichen Rückhalt nicht ausgegangen werden, da es sich bei der vom Verteidiger des Beschuldigten erwähnten Beschäftigung lediglich um einen Nebenerwerb als Hausmeister handeln soll, der angesichts der Haftentlassung des Beschuldigten am 01. September 2005 erst seit kurzen bestehen kann.

Im Rahmen der für und gegen eine Flucht sprechenden Kriterien ist zwar zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte über seinen Verteidiger ein Geständnis abgelegt hat, so dass grundsätzlich zu vermuten ist, dass er sich derzeit dem Verfahren stellen will. Andererseits hat er durch seine Flucht im Dezember 1982 und die diesem Verfahren zugrunde liegende Tat aber gezeigt, dass er in Situationen der Bedrängnis zu Kurzschlussreaktionen neigt, wie er selbst in seinem bereits erwähnten Entschuldigungsschreiben an das Tatopfer einräumt. Diese Neigung zu unüberlegten Handlungsweisen könnte aber wieder zum Durchbruch kommen und ihn zu einer Flucht motivieren, wenn er sich nach einer zwischenzeitlichen Entlassung aus der Untersuchungshaft angesichts der bevorstehenden Hauptverhandlung erneut mit der Vorstellung konfrontiert sieht, alsbald wieder in Strafhaft genommen zu werden.

Dass der Beschuldigte nach seiner Entlassung aus der Strafhaft in Kenntnis der dem Verfahren zugrunde liegenden Tat nicht geflohen ist, spricht ebenfalls nicht gegen das Bestehen einer Fluchtgefahr. Von der Einleitung des neuen Ermittlungsverfahrens war ihm bis zu seiner Verhaftung nichts bekannt. Trotz des zwischenzeitlich erfolgten Aufbaus der DNA-Kartei konnte er außerdem lange Zeit mit der vorliegenden Tat nicht in Verbindung gebracht werden, so dass er nach seiner Haftentlassung auch nicht mehr mit einer Entdeckung rechnen musste. Darüber hinaus dürfte ihm nicht bekannt gewesen sein, ob und ggfls. welche verwertbaren Spuren die Strafverfolgungsbehörden nach der Tat sicherstellen konnten.

Bei Betrachtung aller Umstände erachtet der Senat es daher für wahrscheinlicher, dass der Beschuldigte dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben wird, als sich für das Strafverfahren zur Verfügung zu halten.

Der Fluchtgefahr kann auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden.

Die weitere Untersuchungshaft ist angesichts ihrer bisherigen Gesamtdauer von knapp zwei Monaten im Hinblick auf die zu erwartende Freiheitsstrafe derzeit auch noch nicht unverhältnismäßig. Aufgrund der eindeutigen Beweislage geht der Senat davon aus, dass nunmehr unverzüglich Anklage erhoben und eine Hauptverhandlung durchgeführt werden wird.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

Zurück