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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 06.02.2002
Aktenzeichen: 2 Ws 34/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
Zur Außervollzugsetzung eines auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls gegen einen Angeklagten, der allen Ladungen des Gerichts Folge geleistet hat.
Beschluss 2 Ws 34/02 OLG Hamm

Strafsache

gegen Y.K,

wegen schwerer räuberischer Erpressung u.a. (hier: Haftbeschwerde des Angeklagten).

Auf die (Haft)Beschwerde des Angeklagten vom 21. Januar 2002 gegen den Beschluss der 1. großen auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 18. Januar 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 06.02.2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde wird mit folgender Maßgabe verworfen:

Der Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Bochum vom 18. Januar 2002 (21 KLs 12 Js 309/01 I 30/01 LG Bochum) wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:

Der Angeklagte hat wieder bei seiner Verlobten Wohnung zu nehmen und jede Wohnsitzänderung dem Landgericht Bochum zum o.a. Aktenzeichen mitzuteilen.

Der Angeklagte darf bis auf weiteres das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen. Reisen innerhalb Deutschlands, die länger als drei Tage dauern, sind vorher dem Landgericht Bochum zum o.a. Aktenzeichen anzuzeigen. Der Beschuldigte darf bis auf weiteres ggf. beantragte neue Personalpapiere nicht vom Einwohnermeldeamt in Empfang nehmen.

Der Angeklagte hat allen Ladungen von Gerichten und der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten.

Der Angeklagte hat sich zweimal wöchentlich, und zwar Montags und Donnerstags bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.

Der Angeklagte hat eine Kaution von 15.000 € zu hinterlegen, die auch durch Bankbürgschaft erbracht werden kann.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 26. Juni 2001 u.a. vorgeworfen, am 26. Februar 2001 eine schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung begangen zu haben. Mit einer weiteren Anklage vom 6. November 2001 wird ihm Freiheitsberaubung und Körperverletzung vorgeworfen. Nach Zulassung der Anklagen zum Hauptverfahren hat am 15. Januar 2002 die Hauptverhandlung begonnen. An diesem Tag wurden sämtliche (Belastungs-)Zeugen vernommen. Die Fortsetzung der Hauptverhandlung war auf den 18. Januar 2002, 9.00 Uhr, terminiert. Da sich jedoch vor dem Termin herausstellte, dass der dem Angeklagten an diesem Tag neu beizuordnende Pflichtverteidiger wegen anderweitiger Termine an diesem Tag an der Hauptverhandlung nicht würde teilnehmen können, hat der Vorsitzende den Beginn der Hauptverhandlung auf 8.30 vorgezogen und den Angeklagten zu diesem Terminsbeginn telegrafisch umgeladen. Der Angeklagte erschien zur anberaumten Terminsstunde. Die Hauptverhandlung wurde nicht beendet, vielmehr wurde das Verfahren ausgesetzt und neuer Termin zur Hauptverhandlung auf den 19. Februar 2002 bestimmt.

Der Angeklagte wurde in Haft genommen. Der Haftbefehl der Kammer ist auf Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt. Diese sieht die Kammer darin, dass der Angeklagte mit der Verhängung einer "empfindlichen, vollstreckbaren langjährigen Freiheitsstrafe rechnen muss, die für den aus der Türkei stammenden Angeklagten einen erheblichen Fluchtanreiz bietet".

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der vorliegenden Haftbeschwerde. Die Strafkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Im Nichtabhilfebeschluss hat sie u.a. den dringenden Tatverdacht näher dargelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang Erfolg.

1.Mit der Strafkammer ist der Senat der Auffassung, dass vorliegend hinsichtlich der angeklagten Taten dringender Tatverdacht im Sinn des § 112 Abs. 1 StPO anzunehmen ist. Der Beschwerdegericht steht bei der Überprüfung einer in laufender bzw. nach einer Hauptverhandlung ergangenen Haftentscheidung nur ein eingeschränkter Prüfungsspielraum zu (vgl. dazu zuletzt z.B. KG StV 2001, 689; OLG Brandenburg StraFo 2000, 318). Zwar bleibt das Beschwerdegericht zu einer eigenen Prüfung verpflichtet, es kann jedoch die Entscheidung des erkennenden Gerichts, die auf den dem Beschwerdegericht nicht bekannten Ergebnissen der Hauptverhandlung beruht, nicht auf seine Richtigkeit überprüfen, sondern nur darauf, ob sich das erkennende Gericht mit den bisher gewonnenen Beweisergebnissen umfassend auseinander gesetzt hat und zu einer vertretbaren Wertung gelangt ist. (KG, a.a.O.). Das ist vorliegend der Fall. Dem Nichtabhilfebeschluss lässt sich noch ausreichend deutlich entnehmen, dass die von der Strafkammer vernommenen Zeugen so wie im Ermittlungsverfahren ausgesagt und damit die Einlassung des Angeklagten nicht bestätigt, sondern ihn belastet haben. Damit besteht aber dringender Tatverdacht hinsichtlich der dem Angeklagten in den Anklageschriften vom 26. Juni und 6. November 2001 zur Last gelegten Taten.

2. Als Haftgrund ist bei dem Angeklagten auch (noch) Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO gegeben. Der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft sind zwar im Grundsatz darin beizupflichten, dass von einer hohen Straferwartung grundsätzlich Fluchtgefahr ausgeht. Der Senat hat aber bereits wiederholt entschieden, dass allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründen kann, und zwar z.B. selbst auch dann nicht, wenn der Angeklagte z.B. bereits zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war (vgl. u.a. Senat in StV 1999, 37; ähnlich Senat in StV 1999, 215, StraFo 1999, 248 und NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203). Vielmehr ist die verhängte Freiheitsstrafe nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, wie sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der - hohen - Straferwartung liegende Fluchtanreiz nachgeben und fliehen (so auch OLG Köln StV 1995, 419, Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, § 112 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen).

Die damit erforderliche Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls führt vorliegend dazu, dass zwar noch Fluchtgefahr besteht, diese aber nicht so stark ist, dass ihr nicht durch andere Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden könnte. Dabei übersieht der Senat nicht, dass der Angeklagte mit einer nicht mehr aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe rechnen muss, die nach den Ausführungen der Strafkammer im Nichtabhilfebeschluss wahrscheinlich auch dem Strafrahmen des § 250 Abs. 2 StGB zu entnehmen sein und damit möglicherweise im Bereich von über fünf Jahren liegen wird.

Demgegenüber sind jedoch die persönlichen Umstände des Angeklagten von Belang. Dieser lebt seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland und hat keine Verbindungen mehr in die Türkei. Es besteht zudem eine feste Verbindung mit seiner Verlobten, mit der der Angeklagte ein Kind hat, und mit der er zusammen lebt. Zudem betreibt der Angeklagte eine Pizzabäckerei, die derzeit wegen der Inhaftierung von der Familie weiterbetrieben wird. Damit ist insgesamt von fluchthindernden familiären Bindungen auszugehen.

Von entscheidender Bedeutung ist aber, dass der Angeklagte während der gesamten Dauer des nunmehr fast ein Jahr andauernden Verfahrens keinen Versuch unternommen hat, sich dem Verfahren zu entziehen. Ihm waren die belastenden Zeugenaussagen der Geschädigten bekannt. Er musste daher mit einer Bestrafung rechnen. Dennoch hat der Angeklagte allen Ladungen Folge geleistet. Er ist schließlich auch noch zum Hauptverhandlungstermin am 18. Januar 2002 erschienen, nachdem gerade zuvor die Zeugen in der Hauptverhandlung am 15. Januar 2002 - so die Strafkammer - ihre den Angeklagten belastenden Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren wiederholt hatten, ohne dass die Strafkammer im Übrigen dies zum Anlass genommen hätte, bereits am 15. Januar 2002 die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten anzuordnen.

Diese Umstände mildern den in der hohen Straferwartung sicherlich liegenden Fluchtanreiz derart, dass der dann noch verbleibenden Gefahr nach Auffassung des Senats mit den im Tenor festgelegten Auflagen ausreichend begegnet werden kann (siehe dazu auch Senat in StV 1997, 643). Von besonderer Bedeutung ist dabei die festgelegte Kaution von 15.000 €, die im Zweifel der Angeklagte nicht allein wird aufbringen können. Wird aber die Kaution ganz oder teilweise von den Familienangehörigen aufgebracht, ist das ein zusätzlich stabilisierendes Moment (Senat, a.a.O.).

Ende der Entscheidung

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