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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 19.02.2009
Aktenzeichen: 2 Ws 41/09
Rechtsgebiete: StPO, StVollzG, StGB


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 1 Nr. 2
StPO § 121 Abs. 1
StPO § 201
StPO § 310
StPO § 310 Abs. 1
StPO § 473 Abs. 3
StPO § 473 Abs. 4
StVollzG § 122
StGB § 25 Abs. 2
StGB § 223 Abs. 1
StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4
StGB § 249 Abs. 1
StGB § 263 Abs. 1
StGB § 316
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 14. September 2008 (26 Gs 791/08) und der Beschluss der 2. auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 19. Januar 2009 (29 Qs 3/09) werden aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Recklinghausen erließ am 14. September 2008 gegen den zurzeit in anderer Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten einen Haftbefehl (26 Gs 10 Js 309/08 - 791/08) wegen gemeinschaftlich begangenen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr sowie Betruges in zwei Fällen. Nach dessen Verkündung durch das Amtsgericht Hannover am 13. November 2008 ist deshalb Überhaft notiert. Unter dem 24. Oktober 2008 erhob die Staatsanwaltschaft Bochum wegen dieser Taten Anklage zum Schöffengericht des Amtsgerichts Recklinghausen. Die Akten gingen am 31. Oktober 2008 bei dem Amtsgericht - Schöffengericht - Recklinghausen ein. Durch Verfügung des Vorsitzenden vom 03. November 2008 wurde die Zustellung der Anklageschrift mit zweiwöchiger Fristsetzung nach § 201 StPO veranlasst. Die Anklageschrift wurde dem Angeklagten am 06. November 2008 in der Justizvollzugsanstalt Hannover zugestellt.

Dieser befand sich dort seit seiner vorläufigen Festnahme am 19. August 2008 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hannover vom 20. August 2008 (171 Gs 37/08) für das Verfahren 1453 Js 74172/08 - Staatsanwaltschaft Hannover - in Untersuchungshaft, nachdem er vom 04. September 2008 bis zum 27. Oktober 2008 eine Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Verfahren 7911 Js 70241/08 - Staatsanwaltschaft Hannover (Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 13. August 2008 - 282 Ds 76/08) verbüßt hatte. Seit dem 28. Oktober 2008 befindet der Angeklagte sich ununterbrochen erneut aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hannover vom 20. August 2008 (171 Gs 37/08) für das Verfahren 1453 Js 74172/08 - Staatsanwaltschaft Hannover - in Untersuchungshaft. Das in dem dortigen Verfahren ergangene Urteil vom 02. Februar 2009 (vollstreckbare Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten) ist noch nicht rechtskräftig.

Mit Beschluss vom 10. November 2008 wurde das hiesige Hauptverfahren eröffnet, dem Angeklagten Rechtsanwalt C3 in I2 als Pflichtverteidiger bestellt, das Verfahren mit dem gegen den Mitangeklagten E4 geführten Verfahren verbunden und - ohne weitere Begründung - Hauptverhandlungstermin auf den 05. Januar 2009 festgesetzt. Nachdem im Hauptverhandlungstermin ein Zeuge nicht erschienen war, setzte das Amtsgericht - Schöffengericht - Recklinghausen das Verfahren wegen Nichterscheinens eines Zeugen aus, bestimmte neuen Termin auf den 16. März 2009 und ordnete Haftfortdauer an. Folgender Beschluss wurde am Ende der Hauptverhandlung am 05. Januar 2009 verkündet:

"1. Die heutige Hauptverhandlung wird ausgesetzt.

2. Neuer Termin ist Montag, der 16.03.2009, 9:15 Uhr, Saal 25.

3. Zu diesem Termin sind die Verteidiger und der Dolmetscher mündlich geladen

worden.

4. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Recklinghausen vom 14.09.2008 bleibt aus den

Gründen der Anordnung aufrechterhalten.

5. Die polizeiliche Vorführung des Zeugen C (gemeint: C2 - Anmerkung des Senats) wird angeordnet." Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 07. Januar 2009, eingegangen bei dem Amtsgericht am 09. Januar 2009, legte der Angeklagte Haftbeschwerde ein und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls vom 14. September 2008, da die Terminierung auf den 16. März 2009 gegen das Beschleunigungsgebot verstoße. Nachdem das Amtsgericht - Schöffengericht - Recklinghausen unter dem 09. Januar 2009 der Haftbeschwerde nicht abgeholfen hatte, verwarf das Landgericht Bochum - 2. auswärtige Strafkammer Recklinghausen - die Haftbeschwerde durch Beschluss vom 29. Januar 2009 (29 Qs 3/09) als unbegründet und änderte den Haftbefehl insofern ab, als dass statt des Haftgrundes der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) angenommen wurde.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Angeklagte mit seiner weiteren Haftbeschwerde vom 22. Januar 2009, eingegangen per Telefax am selben Tage, die er erneut mit einem Verstoß gegen das Beschleunigungsverbot begründet. Er beantragt die Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Recklinghausen vom 14. September 2008 in Gestalt des Beschlusses des Landgerichts Bochum - 2. auswärtige Strafkammer Recklinghausen vom 19. Januar 2009, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung.

Die 2. auswärtige Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum hat der weiteren Beschwerde durch Beschluss vom 29. Januar 2009 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm hat unter dem 09. Februar 2009 Stellung genommen und beantragt, die weitere Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

1)

Die weitere Beschwerde ist zulässig. Sie ist formgerecht angebracht worden (§ 306 Abs. 1 StPO) und gemäß § 310 Abs. 1 StPO statthaft, da der angefochtene Beschluss die "Verhaftung" betrifft. Dies ist der Fall, wenn durch den Beschluss unmittelbar entschieden wird, ob der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft zu nehmen oder zu halten ist (BGHSt 26, 270; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 - 3 Ws 15/02 -, zitiert nach juris Rn. 4). Dem steht nicht entgegen, dass der angefochtene Haftbefehl derzeit nicht vollzogen wird. Zwar hat der Senat wie die weiteren Strafsenate des Oberlandesgerichts Hamm in seiner früheren Rechtsprechung angesichts des Ausnahmecharakters des § 310 StPO eine weitere Beschwerde gegen einen nicht vollzogenen Haftbefehl für unzulässig gehalten, da ein solcher gerade nicht unmittelbar darüber entscheide, ob der Betroffene in Haft zu nehmen oder zu halten sei (Senatsbeschluss vom 02. August 1979 - 2 Ws 185/79 -, zitiert nach juris Rn. 3; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 1979 - 1 Ws 210/79 - zitiert nach juris Rn. 1; Beschluss vom 08. Juni 1980 - 6 Ws 100/79; Beschluss vom 30. Juni 1980 - 6 Ws 224/80; so auch: OLG Koblenz, Beschluss vom 03. Januar 1984 - 1 Ws 855/83 - zitiert nach juris Orientierungssatz; Beschluss vom 07. April 1988 - 1 Ws 227/88 - zitiert nach juris Rn. 3). Diese Rechtsprechung hat der Senat aber in Übereinstimmung mit den weiteren Strafsenaten des Oberlandesgerichts Hamm und der wohl herrschenden Meinung ausdrücklich aufgegeben (vergleiche: Beschluss des 4. Strafsenats vom 3. Oktober 1980 - 4 Ws 459/80 - zitiert nach juris Orientierungssatz 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; OLG Köln, Beschluss vom 07. September 2004 - 2 Ws 410/04 -, zitiert nach juris Rn. 8; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 - 3 Ws 15/02 -, zitiert nach juris Rn. 4; jetzt auch: OLG Koblenz, Beschluss vom 21. April 1999 - 2 Ws 158/99, NStZ-RR 2000, 156; Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage, § 310 Rn. 7 mit weiteren Nachweisen). Denn ein zum Vollzug vorgemerkter Haftbefehl entfaltet seine Wirkungen sofort und ohne weitere gerichtliche Anordnung, wenn der derzeit vollzogene Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird. Daher ist es rechtstaatlich geboten, dem Betroffenen auch dagegen das Rechtsmittel der weiteren Beschwerde zu eröffnen. Dies grundsätzlich auch deshalb, weil ein nicht vollzogener Haftbefehl besondere Vorkehrungen gemäß § 122 StVollzG im Hinblick auf die Untersuchungshaft nach sich ziehen kann und daher auch ohne Vollzug unmittelbare Folgen für einen in Strafhaft befindlichen Betroffenen haben kann (vergleiche dazu: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 -, zitiert nach juris Rn. 24 - "Vollzugswirkungen" des zur Überhaft notierten Haftbefehls), was vorliegend allerdings nicht der Fall ist.

2)

Die weitere Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

a)

Nach Auffassung des Senates ist bereits zweifelhaft, ob der Angeklagte der ihm in dem Haftbefehl zur Last gelegten Straftaten - mit Ausnahme der ihm zur Last gelegten fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB - dringend verdächtig ist. Dringender Tatverdacht besteht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer rechtswidrigen und schuldhaften Straftat ist (Meyer-Goßner, a.a.O. § 112 Rn. 5).

Der dringende Tatverdacht bezüglich der zumindest fahrlässig begangenen Trunkenheit im Verkehr ergibt sich daraus, dass der Angeklagte ausweislich der Strafanzeige vom 16. April 2008 an diesem Tag gegen 04.00 Uhr im Rahmen einer Fahndung von dem Zeugen E als Fahrer des goldfarbenen PKW Volvo S 60, mit dem amtlichen Kennzeichen Z angetroffen wurde. Auch nach der Einlassung des gesondert Verfolgten E4 in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom 16. April 2008 war der Angeklagte der Fahrer des PKW. Ein unmittelbar durchgeführter Atemalkoholtest ergab einen Wert in Höhe von 0,61 mg/l. Eine um 05.05 Uhr entnommene Blutprobe wies einen Blutalkoholwert in Höhe von 1,25 Promille auf.

Ob der Angeklagte nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis dringend verdächtig ist, einen mittäterschaftlich begangenen Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 249 Abs. 1, 25 Abs. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) zum Nachteil des Zeugen C2 begangen zu haben, ist nach Auffassung des Senats zumindest fraglich. Denn immerhin hat der Zeuge C2 in seiner polizeilichen Vernehmung am 16. April 2008 bekundet, er sei von dem Begleiter des Angeklagten geschlagen worden, der dann das Handy an sich genommen habe, während der Angeklagte die Wohnung des Zeugen nicht betreten habe, und auch der Angeklagte hat eine Tatbeteiligung in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung am 16. April 2008 bestritten. Andererseits war nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen C2, des Angeklagten sowie des Mitangeklagten E4 ausschließlich der Angeklagte dem Zeugen bis dahin persönlich bekannt und kannte auch als einziger dessen Wohnung, was - auch unter Berücksichtigung der vom Zeugen C2 geschilderten konkreten Begehungsweise - für eine mittäterschaftliche Begehungsweise aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes spricht.

Ebenso ist nach der Auffassung des Senats zweifelhaft, ob der Angeklagte nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis zweier Betrugstaten gemäß § 263 Abs. 1 StGB dringend verdächtig ist. Zwar hat der Zeuge N den Angeklagten ohne Zweifel als den Mann identifiziert, der am 12. April 2008 gegen 13.00 Uhr sowie am 13. April 2008 in dem Restaurant des Zeugen Alkohol für insgesamt 53,10 € konsumiert hat, ohne die Rechnung zu bezahlen, und der sich zudem am 12. April 2008 Bargeld in Höhe von 100,- € sowie am 13. April 2008 in Höhe von 60,00 € von dem Zeugen geliehen hat, ohne die Beträge zurückzuzahlen. Allerdings hat der Zeuge bei seiner polizeilichen Vernehmung am 29. Mai 2008 gleichfalls angegeben, der Angeklagte habe vor den tatgegenständlichen Vorfällen sein Restaurant häufiger besucht und seine Rechnungen stets bezahlt, was nach der Auffassung des Senats Zweifel im Hinblick auf den subjektiven Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB nach sich zieht. Andererseits spricht angesichts der nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis bestehenden ärmlichen Lebensumstände des Angeklagten, der bereits eine Ersatzfreiheitsstrafe für das Verfahren 79 Js 70241/08 - Staatsanwaltschaft Hannover - verbüßt hat, einiges dafür, dass der Angeklagte von Anfang an nicht vorhatte, seine Restaurantrechnungen zu begleichen und das geliehene Bargeld dem Zeugen zurückzuzahlen.

Letztlich kann aber dahinstehen, ob der Angeklagte auch der ihm zur Last gelegten Taten gemäß §§ 249 Abs. 1, 25 Abs. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB dringend verdächtig ist, da der Haftbefehl insgesamt aus einem anderen Grund aufzuheben ist.

b)

Zwar hat das Landgericht mit Recht in seinem Beschluss vom 19. Januar 2009 den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO angenommen.

Diese besteht, wenn die Würdigung der Umstände des Einzelfalls es wahrscheinlicher macht, dass der Angeklagte sich dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten wird (Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 17). Nach eigenen Angaben in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 16. April 2008 hält sich der Angeklagte, der britischer Staatsangehöriger ist und unter verschiedenen Aliaspersonalien auftritt, erst seit zwei Monaten im Inland auf. Vor seiner vorläufigen Festnahme am 19. August 2008 bewohnte er mit den gesondert Verfolgten E4 und X einen gestohlenen Caravan auf einem Campingplatz in E3. Er ist nicht amtlich gemeldet. Nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis geht der Angeklagte im Inland keiner geregelten Arbeit nach. Er beherrscht ausschließlich die englische Sprache und unterhält keine tragfähigen sozialen Kontakte in Deutschland. Darüber hinaus hat der im Übrigen nicht vorbelastete Angeklagte, der vom Amtsgericht Lehrte durch Urteil vom 17. Juli 2008 (4 Ds 26 Js 17142/08) wegen Hehlerei und versuchten Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung und durch Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 13. August 2008 (282 Ds 7911 Js 70241/08-76/08) wegen Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Diebstahls zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe 60 Tagssätzen zu je 5,- € verurteilt wurde, in hiesigem Verfahren mit der Verhängung einer nicht unerheblichen vollstreckbaren Freiheitsstrafe und im Anschluss mit dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in dem Verfahren 4 Ds 26 Js 17142/08 - Amtsgericht Lehrte - zu rechnen. Dies insbesondere deshalb, weil gegen ihn ein weiteres Verfahren anhängig ist, für das er sich derzeit in Untersuchungshaft befindet (1453 Js 74172/08 - Staatsanwaltschaft Hannover). Unter diesen Umständen ist es wahrscheinlicher, dass der Angeklagte sich dem hiesigen Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten wird.

Die bestehende Fluchtgefahr wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass der Angeklagte sich derzeit für ein anderes Verfahren in Untersuchungshaft befindet. Denn es ist immerhin möglich, dass der aktuell vollzogene Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird, auch wenn dem Senat dafür keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen. Ferner ist die Frage der Fluchtgefahr allein aus der Sicht des schwebenden Verfahrens zu beurteilen (KG Berlin, Beschluss vom 20. September 1999 - 1 AR 1657/96 - 4 Ws 228/99 - 4 Ws 240/99 -, zitiert nach juris Rn. 7 mit weiteren Nachweisen).

c)

Allerdings ist der angefochtene Haftbefehl wegen Verstoßes gegen den von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 120 Abs. 1 StPO) umfassten Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (Artikel 5 Abs. 3 Satz 2 MRK, Artikel 2 Abs. 2 S. 2 und 3 GG) aufzuheben. Dieser setzt der Dauer der Untersuchungshaft und damit auch dem durch Überhaftnotierung zum Vollzug vorgemerkten Haftbefehl unabhängig von der zu erwartenden Strafe zeitliche Grenzen und erfordert, dass der Freiheitsanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3, 104 GG des noch nicht verurteilten Betroffenen auch unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung (Artikel 6 MRK) dem staatlichen Interesse an der Strafverfolgung ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 04. April 2006 - 2 BvR 523/06 -, zitiert nach juris Rn. 20; stattgebender Kammerbeschluss vom 30. August 2008 - 2 BvR 671/08 - ständige Rechtsprechung, zitiert nach juris Rnrn. 20, 21; Senatsbeschluss vom 29. März 2007 - 2 Ws 88/07 -, zitiert nach juris Rn. 14; OLG Köln, Beschluss vom 07. September 2004 - 2 Ws 410/04 -, zitiert nach juris Rn. 19; OLG Bremen, Beschluss vom 11. Oktober 1999 - Ws 153/99 -, zitiert nach juris Rn. 3 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 - 3 Ws 15/02 -, zitiert nach juris Rn. 7). Denn auch der außer Vollzug gesetzte oder zur Überhaft notierte Haftbefehl bringt Beschränkungen der Freiheit mit sich (Senatsbeschluss vom 29. März 2007 - 2 Ws 88/07 -, zitiert nach juris Rn. 14; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 - 3 Ws 15/02 -, zitiert nach juris Rn. 7 mit weiteren Nachweisen). Vor allem im Falle eines in anderer Sache in Strafhaft befindlichen Betroffenen verhindert ein nicht vollzogener Haftbefehl die Gewährung vollzuglicher Lockerungen im Rahmen der Verbüßung von Strafhaft (§ 122 StVollzG), die dem Zweck der Untersuchungshaft zuwider liefen, und unterwirft den Betroffenen mit dem Zweck der Untersuchungshaft einhergehenden Maßnahmen, zum Beispiel der Briefkontrolle (vergleiche: BVerfG; stattgebender Kammerbeschluss vom 30. August 2008 - 2 BvR 671/08 -, zitiert nach juris Rn. 21, Senatsbeschluss vom 29. März 2007 - 2 Ws 88/07 -, zitiert nach juris Rn. 14; Hanseatisches OLG, Beschluss vom 11. Oktober 1999 - Ws 153/99 -, zitiert nach juris Rn. 4; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 - 3 Ws 15/02 -, zitiert nach juris Rn. 7 mit weiteren Nachweisen; KG Berlin, Beschluss vom 20. September 1999, 1 AR 1657/96 - 4 Ws 228/99 - 4 Ws 240/99 -, zitiert nach juris Rn. 10). Zwar sind vorliegend die durch den angefochtenen Haftbefehl verursachten Beschränkungen des Angeklagten derzeit geringer, da er sich ohnehin in Untersuchungshaft und nicht in Strafhaft befindet. Allerdings entfaltet der derzeit nicht vollzogene Haftbefehl seine freiheitsbeschränkenden Wirkungen unmittelbar, wenn die derzeit vollzogene Untersuchungshaft beendet wird. Unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des verfassungsmäßigen Freiheitsanspruchs des nicht verurteilten Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 GG ist daher die Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes auch vorliegend geboten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen vor diesem Hintergrund sachlich nicht zu rechtfertigende und vermeidbare Verfahrensverzögerungen der Aufrechterhaltung eines Haftbefehls regelmäßig entgegen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, weil die Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um das Strafverfahren mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 30. August 2008 - 2 BvR 671/08 -, zitiert nach juris Rn. 21 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Da die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist eine Höchstgrenze darstellt, kann eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes auch bereits vor Ablauf dieser Frist die Aufhebung des Haftbefehls gebieten, insbesondere dann, wenn der erkennende Richter keine Maßnahmen trifft, um eine alsbaldige Hauptverhandlung zu ermöglichen (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04. April 2006 - 2 BvR 523/06 -, zitiert nach juris Rn. 21).

Nach Auffassung des Senats hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Recklinghausen bereits gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen, als es im Zuge der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens durch Beschluss vom 10. November 2008 Hauptverhandlungstermin - ohne für den Senat aus den Akten ersichtlichen Grund - erst auf den 05. Januar 2009 festgesetzt hat. Diese späte Terminierung stellt keine angemessene Sachbehandlung dar. Insbesondere kann eine solche durch die Belastung eines Gerichts nach allgemeiner Meinung nur dann gerechtfertigt werden, wenn ihr trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischer Maßnahmen nicht begegnet werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 - 2 BvR 558/73 -, zitiert nach juris Rnrn. 23 ff.). Daraus folgt, dass Haftsachen grundsätzlich den Vorrang vor den anderen Strafsachen haben und es geboten ist, dass das Gericht bereits bei Eingang der Anklageschrift Überlegungen anstellt, zu welchem Termin - nach voraussichtlicher Eröffnung des Hauptverfahrens - die Haftsache verhandelt werden kann. Nach allgemeiner Meinung müssen sonstige Strafsachen hinter Haftsachen zurückstehen, das heißt, die schematisch gleiche Behandlung von Haftsachen und anderen Verfahren und die Bestimmung der Hauptverhandlungstermine für alle Strafsachen in der Reihenfolge ihres Eingangs verstößt gegen das Beschleunigungsgebot (OLG Karlsruhe, Justiz 1986, 28 f. mit weiteren Nachweisen). Der Senat hat bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass gegebenenfalls bereits angesetzte Termine in Nichthaftsachen aufgehoben werden müssen, um die vorrangige Haftsache zu verhandeln (Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2000 - 2 BL 186/00 = NStZ-RR 2001, 61 = wistra 2001, 77 = StV 2001, 303; ähnlich: OLG Düsseldorf, StV 1988, 390). Dass dies vorliegend nicht möglich war, ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist den Akten nicht zu entnehmen, dass ein früherer Hauptverhandlungstermin aufgrund vorrangiger, bereits terminierter Haftsachen nicht möglich war.

Durch die Aussetzung des Verfahrens durch Beschluss vom 05. Januar 2009 und die Neuterminierung auf den 16. März 2009 hat das Amtsgericht - Schöffengericht - erneut gegen den Beschleunigungsgrundsatz verstoßen. Wiederum sind Gründe, die die eingetretene Verfahrensverzögerung um zehn Wochen rechtfertigen könnten, aus den Akten nicht ersichtlich. Vielmehr ist das Verfahren seit der Aussetzung nicht mehr weiter gefördert worden. Der neue Hauptverhandlungstermin am 16. März 2009 liegt sogar außerhalb der - fiktiven - Sechs-Monats-Frist seit dem Erlass des angefochtenen Haftbefehls am 14. September 2009.

Darüber hinaus hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Recklinghausen seine Entscheidung über die Haftfortdauer und die Neuterminierung durch Beschluss vom 05. Januar 2009 nicht in der gebotenen Weise begründet. Gleiches gilt für den Beschluss des der 2. auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 19. Januar 2009. Es wäre eine Auseinandersetzung mit der Tatsache geboten gewesen, dass es aufgrund der Aussetzung und Neuterminierung zu einer Verfahrensverzögerung von zehn Wochen gekommen ist.

Die verfassungsmäßig gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse erfordert nämlich eine Begründungstiefe, die sich mit den konkret eingetretenen Verzögerungen und deren Ursachen auseinandersetzt. Fehlen die entsprechenden Feststellungen und darauf aufbauenden Bewertungen, ist eine sachgerechte Abwägung nicht gewährleistet, sondern es liegt ein Abwägungsausfall vor, der regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zur Folge hat (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04. April 2006 - 2 BvR 523/06 -, zitiert nach juris Rnrn. 22, 25; stattgebender Kammerbeschluss vom 30. August 2008 - 2 BvR 671/08 - zitiert nach juris Rn. 22 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Unter den genannten Umständen ist es zu einer weiteren unvertretbaren Verfahrensverzögerung von zehn Wochen gekommen, die die Aufhebung des angefochtenen Haftbefehls nach sich zieht (vergleiche auch: OLG Hamm, Beschluss vom 06. April 2006 - 3 Ws 134/06 - zur Aufhebung eines Haftbefehls bei einer Verfahrensverzögerung von zweieinhalb Monaten) . Dies wird im Falle der Verurteilung auch bei der Straffestsetzung von Bedeutung sein (vergleiche dazu: BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 -; im Anschluss: BGH, Beschluss vom 26. Februar 2008 - 4 StR 15/08 -, NJW-Spezial 2008, 312 f.; Beschluss vom 05. März 2008 - 2 StR 54/08 -, JR 2008, 300 = StV 2008, 40; Beschluss vom 11. März 2008 - 3 StR 54/08 -, JR 2008, 301 ff. = StV 2008, 399 ff.).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 3, 4 StPO analog.

Ende der Entscheidung

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