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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 24.01.2002
Aktenzeichen: 2 Ws 7/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 359
Zur Frage, wann ein Sachverständiger ein neues Beweismittel im Sinn des Wiederaufnahmerechts ist.
Beschluss Strafsache

gegen G.W.

wegen Mordes u.a. (hier: Sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens).

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 19. Dezember 2001 gegen den Beschluss der 7. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 10. Dezember 2001 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 24.01.2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 10. Dezember 2001 wird auf Kosten der Landeskasse, die auch die dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt, aufgehoben.

Der Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 28. März 1996 wird für zulässig erklärt.

Der Antrag, gem. § 360 Abs. 2 StPO Strafaufschub zu gewähren, wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Verurteilte ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Hagen vom 28. März 1996 wegen Mordes und wegen Untreue in drei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Nach den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils hat der Verurteilte seiner Kollegin C.G. Grimm am Morgen des 7. Mai 1993 einen mit einer tödlich wirkenden Menge Kaliumgoldzyanid versetzten Cappuccino zum Trinken gegeben. C.G. Grimm verstarb kurze Zeit später, nachdem sie einen Schluck von diesem Cappuccino getrunken hatte. Das Schwurgericht hat seine Überzeugung davon, dass der schnelle Ablauf des körperlichen Zusammenbruchs von C.G. nicht der Feststellung, dass diese das tödlich wirkende Zyanid mit dem Cappuccino aufgenommen hat, entgegensteht, im Wesentlichen auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. von der Universität Düsseldorf gestützt.

Diese greift der Verurteilte nunmehr mit seinem Wiederaufnahmeantrag an. Zur Begründung hat er ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. J. von der Medizinischen Hochschule Hannover vom 30. Juni 2001 vorgelegt. Dieser kommt auf der Grundlage einer aktuellen, 1999 veröffentlichten Übersichtsarbeit zu dem Ergebnis, dass der bezeugte Vergiftungsverlauf bei C.G. nicht mit der angenommenen Giftaufnahme durch den Cappuccino in Einklang zu bringen ist.

Das Landgericht hat im angefochtenen Beschluss den Wiederaufnahmeantrag als unzulässig verworfen und dies damit begründet, dass es sich bei der vom Verurteilten aufgestellten Behauptung nicht um eine neue Tatsache im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO handle. Der Sachverständige Prof. Dr. J. sei auch kein neues Beweismittel, da sein Gutachten nicht geeignet sei, die vom Landgericht festgestellten Tatsachen zu erschüttern. Wegen der weiteren Begründung wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses vom 10. Dezember 2001 Bezug genommen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, diese als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache - mit Ausnahme des Antrags auf Strafaufschub - Erfolg.

1. Der Wiederaufnahmeantrag ist - entgegen der Ansicht des Landgerichts - zulässig. Dahinstehen kann, ob es sich bei der vom Verurteilten aufgestellten Behauptung um eine neue Tatsache im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO handelt oder nur - wie das Landgericht meint - um die abweichende Bewertung der vom Landgericht festgestellten Tatsache: Giftaufnahme durch den Cappuccino.

Denn jedenfalls ist der Wiederaufnahmeantrag auf ein neues Beweismittel im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO gestützt.

Bei dem vom Verurteilten benannten Sachverständigen Prof. Dr. J., dessen Sachverständigengutachten vom 30. Juli 2001 zugleich mit dem Wiederaufnahmeantrag vorgelegt worden ist, handelt es sich um ein neues Beweismittel im Sinn des § 359 Nr. 5 StPO. Insoweit weist die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darauf hin, dass ein weiterer Sachverständiger - um einen solchen handelt es sich bei Prof. Dr. J. - im Wiederaufnahmerecht nur unter engen Voraussetzungen als ein neues Beweismittel im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO angesehen wird (vgl. dazu die Zusammenstellung der Rechtsprechung und Literatur bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, § 359 Rn. 35 ff.). Dabei übersieht sie jedoch, dass der Verurteilte vorliegend nicht nur behauptet hat, dass Prof. Dr. J. zu anderen Schlussfolgerungen als Prof. Dr. D. gelangen wird, sondern zusätzlich, dass sich zwischenzeitlich die wissenschaftlichen Erkenntnisse erweitert haben. Der Verurteilte bezieht sich nämlich - ebenso wie Prof. Dr. J. in seinem Gutachten vom 30. Juli 2001 - auf die 1999 in "Rechtsmedizin" veröffentlichte Untersuchung "Handlungsfähigkeit bei tödlichen oralen Intoxikationen mit Cyan-Verbindungen". Er macht damit eine Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse geltend, die Prof. Dr. D. bei der Erstattung seines Gutachtens in der Hauptverhandlung noch nicht bekannt war.

Ob allein das ausreicht, um den Sachverständigen Prof. Dr. J. als neues Beweismittel anzusehen (so wohl Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., und auch Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 359 Rn. 155) oder ob hinzukommen muss (so die Rechtsprechung des BGH ; vgl. BGHSt 75 ff. = NJW 1993, 1481, 1483), dass eine Beweiserhebung durch den weiteren Sachverständigen für die entscheidungserhebliche Frage erfolgversprechend erscheint, was das Landgericht angenommen und verneint hat, kann dahinstehen. Denn selbst wenn man sich dieser (engeren) Auffassung zur Frage, wann ein weiterer Sachverständiger ein neues Beweismittel ist, anschließt, ist vorliegend die Annahme gerechtfertigt, dass Prof. Dr. J. ein neues Beweismittel ist. Denn entgegen der Auffassung des Landgerichts ergibt eine Vorprüfung seines Gutachtens (vgl. dazu BGH, a.a.O.), dass dieses sich zugunsten des Verurteilten auswirken kann. Beide Sachverständige haben mit unterschiedlichen Ergebnissen zu der Frage der Giftaufnahme Stellung genommen. Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. J. beruht neben einer teilweisen Auswertung und Bewertung der Aussagen derjenigen Zeugen, die zugegen waren, als die Getötete von dem vergifteten Cappuccino getrunken hat, insbesondere auf den Ergebnissen der 1999 veröffentlichten, bereits erwähnten Untersuchung. Dieser von vornherein einen die Urteilsgrundlage erschütternden Beweiswert abzusprechen, besteht im Zulässigkeitsverfahren kein Anlass. Das Landgericht verweist auf die fehlende Repräsentativität der Untersuchung, die nur 27 Fälle von Cyanidaufnahme untersucht habe, und darauf, dass 3 der untersuchten Fälle "durchaus mit dem festgestellten Zeitablauf des Landgerichts Hagen in Einklang zu bringen sind". Dabei übersieht es, dass 24 Fälle, also mehr als 88 %, von einer erheblichen geringeren Dauer der Handlungsfähigkeit nach der Cyanidaufnahme ausgehen und damit der erheblich größere Teil der der Untersuchung zugrunde gelegten Fälle gegen die Feststellungen des Landgerichts spricht. Auch erscheint dem Senat die Zahl der untersuchten Fälle nicht derart gering, dass von "fehlender Repräsentativität" ausgegangen und damit der Untersuchung und dem darauf basierenden Gutachten von vornherein jeder Beweiswert abgesprochen werden könnte.

Wenn der Sachverständige sein Gutachten so erstattet, wie der Verurteilte dies in seinem Wiederaufnahmeantrag behauptet hat, ist dies nach Überzeugung des Senats auch geeignet, ggf. die Freisprechung des Verurteilten vom Vorwurf des Mordes zu begründen. Dabei übersieht der Senat nicht - worauf er schon in seinem Beschluss vom 11. August 1999 in 2 Ws 75/99 in einem ähnlich gelagerten Fall hingewiesen hat -, dass die Verurteilung des Verurteilten auf einer umfangreichen Beweiswürdigung der vom Landgericht Hagen erhobenen Beweise beruht, ausschlaggebend für die Verurteilung war also nicht nur das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. D.. Der Senat übersieht auch nicht, dass die gegen die landgerichtliche Beweiswürdigung vom Verurteilten erhobenen Angriffe beim Bundesgerichtshof keinen Erfolg gehabt haben. Andererseits handelt es sich bei der Schlussfolgerung des nun eingeführten Gutachtens des Prof. Dr. J. um eine dem Ergebnis des Erstgutachtens diametral entgegenstehende Schlussfolgerung. Diese führt ggf. auch zu einer anderen Beurteilung der Einlassung des Verurteilten und der übrigen erhobenen Beweise und damit ggf. über die Grundsätze von "in dubio pro reo" zur Freisprechung des Verurteilten.

Mit dieser Bewertung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu den Grundsätzen der bereits erwähnten Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 3. Dezember 1992 (BGHSt 39, 75). Der Bundesgerichtshof hat zwar ausgeführt, dass der Grundsatz "in dubio pro reo" im Wiederaufnahmeverfahren nicht gilt. Dies bezieht sich ersichtlich aber nur auf die Frage der Wahrscheinlichkeitsprognose. Insoweit ist die Anwendung des Zweifelssatzes ausgeschlossen; in dem Zusammenhang ist der Senat auch davon überzeugt, dass das weitere Sachverständigengutachten die Grundlagen der Entscheidung des Landgerichts erschüttern kann. Der Zweifelssatz ist hingegen nicht hinsichtlich der Frage, ob das neue Beweismittel über die Anwendung des Zweifelssatzes ggf. zu einer für den Verurteilten günstigeren Entscheidung führen kann, ausgeschlossen.

2. Nach allem war daher unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses der Wiederaufnahmeantrag für zulässig zu erklären. Die nach §§ 369 ff. StPO notwendigen weiteren Maßnahmen obliegen nunmehr der zur Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmebegehrens zuständigen Strafkammer. Diese wird zu gegebener Zeit auch über den Strafaufschubantrag des Verurteilten zu befinden haben. Derzeit kam nach Ansicht des Senats ein Strafaufschub nicht in Betracht, so dass der Antrag zurückzuweisen war. Allein die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags ist für einen Strafaufschub nicht ausreichend, vielmehr muss die (weitere) Vollstreckung bedenklich erscheinen (vgl. dazu die Nachweise aus der Rechtsprechung des OLG Hamm bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 360 Rn. 3). Das ist aber vorliegend, solange nicht der Sachverständige Dr. D. zu den neueren Forschungsergebnissen gehört worden ist, nicht der Fall.

Der Senat weist darauf hin, dass das Wiederaufnahmeverfahren nunmehr bevorzugter Erledigung bedarf. Der Wiederaufnahmeantrag datiert bereits vom 1. August 2001 und ist schon am 3. August 2001 beim Landgericht eingegangen. Die Staatsanwaltschaft hat allerdings erst am 19. Oktober 2001 Stellung genommen, das Landgericht dann erst am 10. Dezember 2001 entschieden.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.

Ende der Entscheidung

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