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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 27.01.2006
Aktenzeichen: 20 U 128/05
Rechtsgebiete: VVG, ZPO


Vorschriften:

VVG § 16
VVG § 21
ZPO § 139 Abs. 2
ZPO § 286
ZPO § 411 Abs. 3
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 26.04.2005 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufungsinstanz, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (der M AG) im Jahre 2001 genommenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung für die Zeit ab August 2002 sowie auf Feststellung des Fortbestehens der Versicherung in Anspruch.

In Anwesenheit des Klägers, seiner Ehefrau, der insoweit dolmetschenden Zeugin B, und der Zeugin B2 (Mitarbeiterin der Agentin der Beklagten, der Sparkasse E2) wurde der Versicherungsantrag unter dem 17.10.2001 in den Räumen der Sparkasse E2 aufgenommen. Die Zeugin B2 stellte die Gesundheitsfragen, die Ehefrau übersetzte und der Kläger und/oder die Ehefrau antworteten. Die näheren Einzelheiten sind streitig. Die Beklagte policierte den Antrag unter dem 11.12.2001. Danach ist bei bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine jährliche Barrente von 9.600,00 € geschuldet (vgl. Bl. 30 ff. d.A.).

Im Antragsformular (Bl. 90 d.A.), das vom Kläger unterschrieben wurde, heißt es u. a.:

Frage: "Welcher Arzt ist über ihre gesundheitlichen Verhältnisse am besten unterrichtet?"

Antwort: "Dr. X

Frage: "Sind Sie in den letzten 5 Jahren ärztlich untersucht, beraten, behandelt oder operiert worden)?"

Antwort: "Ja"

Frage: "Wenn ja, wann?"

Antwort: "10.10.2001"

Frage: "Weshalb?"

Antwort: "Schmerzen im Arm nach Grippeimpfung"

Frage: "Mit welchem Ergebnis?"

Antwort: "Keine Beschwerden mehr"

Frage: "Von wem?"

Antwort: "Dr. X

Mit Schreiben vom 13.11.2002 beantragte der Kläger, der seit dem 27.07.2002 arbeitslos ist - bei der Beklagten erstmals Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung und bat um Übersendung von Unterlagen (Bl. 107 d.A.).

Unter Berufung auf den ärztlichen Bericht von Dr. E vom 16.09.2003, in dem u. a. aufgeführt ist, dass eine "Osteochondrose mit Schmorl`schen Grund- und Deckplattenknötchen Th 8/9, jedoch kein Bandscheibenprolaps" vorliege (Bl. 38 ff. d.A.), berief sich der Kläger gegenüber der Beklagten, dass er seit August 2002 aufgrund der festgestellten BWS-Osteochondrosis Th 8/9 nicht mehr in der Lage sei, seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Maschinenreiniger zu mindestens 50 % auszuüben.

Die Beklagte stellte Nachforschungen über den Gesundheitszustand des Klägers an.

In der Bescheinigung der AOK Westfalen-Lippe vom 24.10.2003 (Bl. 67/68 d.A.) sind folgende - unstreitige - Arbeitsunfähigkeitszeiten nebst der folgenden Diagnosen aufgeführt:

15.11.2000: Atemwegsinfektion, Dr. L

19.12.2000 - 20.12.2000: Kopfwunde, Dr. X3

09.01.2001 - 12.01.2001: Entzündung des Skrotums, Dr. L

03.04.2001 - 09.04.2001: Schmerzen im BWS-Bereich, Dr. L

02.05.2001 - 18.05.2001: Chondromalacia patellae, Dr. I2

05.10.2001 - 10.10.2001: Verletzung obere Extremität, Dr. X2

07.02.2002 - 24.03.2002: Knieprellung, Knöchel etc., Dr. X2

22.05.2002 - 29.05.2002: Kreuzschmerz, Dr. X2

07.03.2003 - 31.03.2003: Ischiorektalabzeß, Pilonidalzyste, Dr. E

Die Beklagte trat mit Schreiben vom 16.11.2003 mit der Begründung, der Kläger habe die Gesundheitsfragen im Antragsformular falsch beantwortet, vom Vertrage zurück (Bl. 65 d.A.). Hieran hielt sie mit Schreiben vom 02.04.2004 fest und lehnte darüber hinaus einen Leistungsanspruch des Klägers ab (Bl. 48 d.A.).

Der Kläger hat behauptet, bei Antragsaufnahme alle ihm damals erinnerlichen Behandlungen und Krankheitszustände angegeben zu haben. Diese seien dann durch seine Ehefrau übersetzt worden. Insbesondere habe er eine Nasenoperation, etwas am Knie, Schmerzen am Arm und alles, was ihm sonst noch eingefallen sei, angegeben. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sei gegeben, da er die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben könne.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass die bei der Beklagten abgeschlossene Berufsunfähigkeitszusatzversicherung des Klägers über den 01.12.2003 hinaus fortbestehe und dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Versicherungsschutz für den gemeldeten Schadensfall Osteochondrosis zu gewähren, insbesondere zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente von jährlich 9.600,00 € verpflichtet sei.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers bestritten und hat behauptet, dass die Zeugin B2 die Gesundheitsfragen so wie im Antrag aufgeführt, gestellt habe. Die Ehefrau des Klägers habe die Fragen dann übersetzt und sie habe die Antworten des Klägers - nach Übersetzung durch die Ehefrau - so wie von dieser angegeben, aufgenommen.

Das Landgericht hat den Kläger persönlich angehört und über den Ablauf des Antragsaufnahmegespräches Beweis durch Vernehmung der Zeuginnen B und B2 erhoben. Es hat die Klage abgewiesen. Der Rücktritt sei wirksam. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Kläger wesentliche gefahrerhöhende Umstände zu seinem Gesundheitszustand verschwiegen. Die Voraussetzungen des § 21 VVG seien nicht gegeben. Der Kläger habe im Rahmen der Gesundheitsfragen alle ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen nach dem 17.10.1996 anzugeben. Er habe aber wesentliche Erkrankungen der letzen 5 Jahre vor Antragstellung (Pilonidalzyste und BWS-Osteochondrosis), die offensichtlich im Zusammenhang mit der Erkrankung, weswegen Berufsunfähigkeit eingetreten sein soll, stünden, aber nicht erwähnt. So habe er den Ischiorektalabzeß aus dem Jahre 2003 und die Schmerzen im BWS-Bereich in 2001 mit einer 6tägigen Arbeitsunfähigkeit überhaupt nicht erwähnt, ebenso wenig den Kreuzschmerz, der in der Zeit vom 22.05.2002 - 29.05.2002 aufgetreten sei.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er Aufhebung und Zurückverweisung des Urteils und des Verfahrens begehrt und - hilfsweise - seinen erstinstanzlichen Antrag weiterverfolgt.

Das Landgericht habe nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens beurteilen können, ob evtl. vom Kläger nicht angegebene Erkrankungen und Behandlungen erheblich, insb. gefahrerheblich seien und auf den Eintritt des Versicherungsfalles Einfluss gehabt hätten. In diesem Zusammenhang sei auch nicht nachvollziehbar, warum das Landgericht im Hinblick darauf, dass der Antrag am 17.10.2001 aufgenommen wurde, (auch) auf verschwiegene Erkrankungen aus den Jahren 2003 (Ischiorektalabzeß) und 2002 (Kreuzschmerz) abgestellt habe. Darüber hinaus sei die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung nicht nachvollziehbar.

Der Kläger beantragt,

1.) den Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuverweisen,

2.) abändernd festzustellen, dass die bei der Beklagten abgeschlossene Berufsunfähigkeitszusatzversicherung des Klägers über den 01.12.2003 hinaus fortbesteht und dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Versicherungsschutz für den gemeldeten Schadensfall Osteochondrosis zu gewähren, insbesondere zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente von jährlich 9.600,00 € verpflichtet ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Allerdings habe das Landgericht § 286 ZPO dadurch verletzt, dass es erst nach der Antragstellung aufgetretene Erkrankungen als bei Antragstellung verschwiegen bewertet habe. Dessen ungeachtet habe der Kläger aber die BWS-Beschwerden und die Chondromalacia Patellae (Kniescheibenverletzung) bei Antragstellung verschwiegen. Die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung sei zutreffend. Das Landgericht habe auch zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 21 VVG nicht vorlägen. Das Vorliegen einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit werde weiterhin bestritten.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der zu den Akten gereichten Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers führt zur Aufhebung des Urteils und des zugrunde liegenden Verfahrens und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht, weil das Verfahren des ersten Rechtszuges an einem wesentlichen Mangel leidet, der eine aufwändige Beweisaufnahme notwendig macht (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

1.) Der Kläger hat den erforderlichen Antrag gestellt.

2.) Das erstinstanzliche Verfahren leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln.

a) Unter § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO fällt nur ein Verfahrensmangel (error in procedendo), nicht eine materiell-rechtlich unzutreffende Beurteilung (error in iudicando). Ob ein Verfahrensfehler vorliegt, beurteilt sich aus der materiell-rechtlichen Sicht des Erstrichters ungeachtet dessen, ob das Berufungsgericht sie billigt oder nicht. Mangelnde oder fehlende Beweiserhebungen stellen einen häufigen Fall des Verfahrensfehlers unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Tatsachenfeststellung dar. Auch eine mangelhafte - und somit § 286 ZPO verletzende - Beweiswürdigung kann verfahrensfehlerhaft sein, z. B. in der nicht ausgeschöpften Beurteilung des Streitstoffes (Zöller, ZPO, 25. Aufl., zu § 538, RdNr. 10, 25, 28 m.w.N.). Entsprechendes hat nach Auffassung des Senats zu gelten, wenn das Erstgericht bei seiner Beweiswürdigung von unzutreffenden Tatsachen ausgeht.

b) Das Landgericht hätte - von seinem Standpunkt aus gesehen - Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erheben müssen. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger bei Antragsaufnahme gefahrerhebliche Umstände, ins. eine Pilonidalzyste und eine BWS-Osteochdrose, nicht angegeben habe. Es hat dann ohne weitere Begründung angenommen, dass die Voraussetzungen des § 21 VVG, wonach dem Versicherungsnehmer trotz wirksamen Rücktritts des Versicherers der Versicherungschutz erhalten bleibt, wenn der verschwiegene Umstand keinen Einfluss auf den Eintritt des Versicherungsfalls und den Umfang der Leistung hat, nicht gegeben seien. Diese Vorgehensweise begegnet durchgreifenden Bedenken. Zum einen hat der Kläger - allenfalls - "BWS-Schmerzen" verschwiegen. Denn in der Bescheinigung der AOK (Bl. 67 d.A.) ist lediglich aufgeführt: "Schmerzen im BWS-Bereich". Die BWS-Osteochondrose wird erst in der ärztlichen Bescheinigung von Dr. E vom 16.09.2003 erwähnt. Zum anderen ist nicht ersichtlich aufgrund welcher eigenen medizinischen Sachkunde das Landgericht angenommen hat, dass eine Pilonidalzyste (Steißbeinfistel) und/oder "Schmerzen im BWS-Bereich" im Zusammenhang mit der den Versicherungsfall auslösenden Erkrankung (hier nach dem Vortrag des Klägers eine BWS-Osteochondrosis Th 8/9) steht, also § 21 VVG nicht eingreift. Diese Frage lässt sich - bei fehlender eigener medizinischer Sachkunde des Gerichts, von welcher mangels anderweitiger Darlegungen auszugehen ist - nur durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens und nach Beiziehung der ärztlichen Unterlagen aus dem Jahre 2001, die über den Charakter der damaligen Erkrankung und der durchgeführten Behandlung Auskunft geben, klären.

c) Der Umstand, dass sich der Kläger erstinstanzlich nicht auf die Voraussetzungen des § 21 VVG berufen hat, hindert die Annahme eines Verfahrensfehlers nicht. Zum einen hat das Landgericht diese Norm tatsächlich angewendet, so dass deshalb auch die Verpflichtung zur verfahrensfehlerfreien Anwendung bestand. Zum anderen wäre das Landgericht nach § 139 Abs. 2 ZPO verpflichtet gewesen, dem Kläger einen entsprechenden rechtlichen Hinweis zu erteilen. Denn der Kläger hat die rechtliche Relevanz des § 21 VVG erkennbar übersehen. Hätte das Landgericht den Hinweis erteilt, so ist nicht zweifelhaft, dass sich der Kläger auch auf § 21 VVG berufen hätte. Denn der Kläger erhielte sich so - trotz Rücktritts der Beklagten - den Versicherungsschutz. Die Frage, ob von Amts zu prüfen ist, ob die Anwendung des § 21 VVG in Betracht kommt (so Prölss, VVG, 27. Aufl., zu § 21, RdNr. 9 unter Berufung auf RG JW 1933, 763), kann daher offen bleiben.

d) Darüber hinaus hat das Landgericht - unter Verletzung des § 286 ZPO, was die Beklagte einräumt - seiner Beweiswürdigung teilweise unzutreffende Tatsachen zugrunde gelegt. Es ist davon ausgegangen, dass der Kläger im Wesentlichen alle Erkrankungen, die in der Bescheinigung der AOK aufgeführt sind, verschwiegen hat. Dies trifft aber nicht zu. Die Antragsaufnahme datiert vom 17.10.2001, so dass der Kläger allenfalls eine Atemwegsinfektion, eine Kopfwunde, eine Entzündung des Skrotums und Schmerzen im BWS-Bereich nicht angegeben haben kann. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht, das dem Kläger "vorwirft", im Grunde alle Erkrankungen verschwiegen zu haben, bei Zugrundelegung nur der zeitlich relevanten Erkrankungen die erhobenen Beweise anders gewürdigt und dann auch die Voraussetzungen für einen wirksamen Rücktritt nach § 16 VVG evtl. verneint hätte.

3.) Aufgrund der Verfahrensfehler wäre eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich. Der Senat müsste zum einen die erstinstanzlich vernommenen Zeugen erneut hören. Zum anderen müsste der Senat ein medizinisches Sachverständigengutachten zu den Voraussetzungen des § 21 VVG einholen. Nach den Erfahrungen des Senats ist auch zu erwarten, dass der Sachverständige aufgrund eines Antrages einer Partei nach § 411 Abs. 3 ZPO sein Gutachten mündlich erläutern müsste.

4.) Ob das Berufungsgericht die Sache aufhebt und zurückverweist oder eine eigene Sachentscheidung trifft, steht in seinem Ermessen. Das Ermessen wird fehlerfrei ausgeübt, wenn eine Zurückverweisung sachdienlich ist. Sachdienlichkeit ist zu bejahen, wenn das Interesse an einer schnelleren Erledigung gegenüber dem Verlust einer Tatsacheninstanz nicht überwiegt (BGH, Urteil vom 15.03.2000, Az: VIII ZR 31/99, NJW 2000, 2024). Letzteres ist vorliegend zu bejahen, weil insb. im Hinblick auf die Notwendigkeit der Einholung eines Gutachtens eine schnellere Erledigung - bei eigener Sachentscheidung des Senats - nicht in Betracht kommt.

III.

Eine Kostenentscheidung und die Zulassung der Revision (§ 543 ZPO) waren nicht veranlasst. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.

Ende der Entscheidung

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