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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 27.04.2007
Aktenzeichen: 20 U 189/05
Rechtsgebiete: MB/KK 94


Vorschriften:

MB/KK 94 § 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 25. August 2005 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte im Hinblick auf die Klageänderung verurteilt wird, an den Kläger 5.183,93 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 10.02.2006 zu zahlen.

Hinsichtlich des darüber hinausgehenden Zahlungsantrags wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten der Berufungsinstanz werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine private Krankenversicherung, der die MB/KK 94 zugrunde liegen.

Er nimmt die Beklagte auf Erstattung der Kosten einer IVF-ICSIBehandlung in Anspruch.

Der Kläger leidet an einer Oligoasthenoteratozoospermie (OAT-Syndrom) III. Grades, einer schweren Form organisch bedingter Sterilität bei gleichzeitigem Vorkommen verminderter Dichte, erniedrigter Mobilität und erhöhter Fehlformenrate seiner Spermien.

Er und seine Ehefrau hegen einen Kinderwunsch. Deshalb hat der Kläger die Kostenübernahme für eine In-vitro-Fertilisation beantragt.

Die Beklagte hat vorprozessual mit Schreiben vom 07.10.2004 die Kostenübernahme für zwei Behandlungsversuche zugesagt, allerdings beschränkt auf den ICSI-Anteil. Hinsichtlich des IVF-Anteils hat die Beklagte den Kläger bzw. dessen Ehefrau an deren eigene (gesetzliche) Krankenkasse verwiesen.

Der Kläger hat die Übernahme der gesamten Kosten für vier Behandlungsversuche für erstattungsfähig angesehen.

Im ...Center in C wurden zwischen Oktober 2004 und April 2005 insgesamt drei IVF-ICSI-Behandlungen des Klägers und seiner Ehefrau durchgeführt, die beiden letzteren im Laufe dieses Rechtsstreits. Der Behandlungsversuch im April 2005 führte zur Schwangerschaft, die allerdings durch einen Abort im dritten Monat beendet wurde.

Das LG ist dem Antrag des Klägers gefolgt und hat festgestellt, dass die Beklagte zur Erstattung der Kosten für 4 Behandlungen IVF (In-vitro-Fertilisation) mit ICSI (intracytoplasmatische Spermieninjektion) verpflichtet ist.

Auf den Inhalt des am 25.08.2005 verkündeten Urteils wird wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand in erster Instanz Bezug genommen.

Die Beklagte nimmt die Verurteilung hinsichtlich zweier Behandlungen hin und wehrt sich mit der Berufung gegen die Übernahme der Kosten einer dritten und vierten Behandlung, die nach ihrer Einschätzung keinen hinreichenden Erfolg versprächen. Die gesundheitlichen Verhältnisse der Ehefrau des Klägers seien wegen eines bekannten Tubenverschlusses rechts, einer früheren Tubargravidität (von einem anderen Partner) sowie einem Zustand nach einer Myomenukleration unterdurchschnittlich.

Ungünstig wirke sich auch das Alter des Klägers selbst aus. Schließlich steige mit dem Alter der Frau auch das Risiko von Fehlgeburten. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht komme es nicht auf die Schwangerschaft, sondern auf die "baby-take-home-Rate" an.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Er hat inzwischen die Kosten des ersten und zweiten Behandlungsversuchs mit der Beklagten abgerechnet und zunächst unter Aufrechterhaltung seines Feststellungsantrags für den 4. Behandlungsversuch klageändernd beantragt, die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt wird, 5.372,49 € - das sind die behaupteten Kosten für den dritten Behandlungsversuch - nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB ab Zustellung der Klageumstellung (10.02.2006) zu zahlen.

Die Beklagte hat zunächst die Abweisung des Zahlungsantrags und des auf den vierten Behandlungsversuch zielenden Feststellungsantrags beantragt.

Zuletzt haben beide Parteien den Rechtsstreit hinsichtlich des Feststellungsantrags in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Seinen Zahlungsantrag hat der Kläger aufrechterhalten; die Beklagte hat abändernd die Abweisung der Klage hinsichtlich des Zahlungsantrags beantragt.

In mündlicher Verhandlung ist unstreitig geworden, dass die mit den überreichten Rechnungen des ...Center C Nr. ####1 vom 22.04.2005 über 157,96 € und Nr. ####2 vom 22.04.2005 über 30,60 € abgerechneten Leistungen nicht medizinisch notwendig waren.

Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivortrags wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.

Der Senat hat Beweis erhoben und zu den Erfolgsaussichten weiterer IVFICSI-Behandlungen ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E vom 17.11.2006 eingeholt; der Sachverständige hat überdies sein Gutachten vor dem Senat mündlich ergänzt. Wegen des Ergebnisses der Anhörung des Sachverständigen wird auf den Berichterstattervermerk vom 27.04.2007 Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Umstellung der zunächst erhobenen Feststellungsklage in eine Zahlungsklage ist sachgerecht. Die Beklagte ist - wie aus dem Tenor ersichtlich - verpflichtet, die in Höhe von 5.183,93 € unstreitigen Kosten des dritten Behandlungszyklusses zu zahlen. Hinsichtlich der darüber hinaus beantragten 188,56 € war die Klage abzuweisen, da diese Kosten auf nicht medizinisch notwendige Leistungen entfielen.

Versicherungsfall in der Krankenversicherung ist gemäß § 1 Satz 1 MB/KK 94 die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit. Die Invitro-Fertilisation in Kombination mit einer intracytoplasmatischen Spermien-Injektion ist eine medizinisch anerkannte Methode zur Überwindung der Sterilität eines Mannes. Die Aufwendungen für diese nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. nur BGH, Urt.v. 03.03.2004 - IV ZR 25/03 - VersR 2004, 588; BGH, Urt.v. 21.09.2005 - IV ZR 113/04 - VersR 2005, 1673) medizinisch notwendige Heilbehandlung sind von der privaten Krankenversicherung grundsätzlich zu erstatten.

Im Einzelfall allerdings wird die bedingungsgemäße Notwendigkeit der IVF-ICSI-Behandlung nur dann bejaht, wenn die Maßnahme hinreichenden Erfolg verspricht. Die Beurteilung der Erfolgsaussicht obliegt dem Gericht, das sich dabei sachverständiger Hilfe bedienen kann.

Bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht der Behandlung ist von der durch das IVF-Register seit 1982 umfassend dokumentierten Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlungen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Frau auszugehen. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, inwieweit individuelle Faktoren die Einordnung der Frau in die ihrem Lebensalter entsprechende Altersgruppe rechtfertigen, ob also ihre persönlichen Erfolgsaussichten höher oder niedriger einzuschätzen sind als die im IVF-Register für ihre Altersgruppe ermittelten Durchschnittswerte es ausweisen.

Von einer nicht mehr ausreichenden Erfolgsaussicht - und damit von einer nicht mehr gegebenen bedingungsgemäßen medizinischen Notwendigkeit der IVF/ICSI - Behandlung - ist dann auszugehen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Embryotransfer zur gewünschten Schwangerschaft führt, signifikant absinkt und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr erreicht wird (so BGH, Urt.v. 21.09.2005, aaO.).

Im Streitfall war die IVF/ICSI - Behandlung im April 2005 medizinisch notwendig.

Die Ehefrau des Klägers war 39 Jahre alt, als die Klage rechtshängig wurde. Im April 2005, im Zeitpunkt der durchgeführten dritten Behandlung, war sie exakt 40 Jahre alt. Nach den für das Jahr 2005 vorliegenden Zahlen des IVF-Registers betrug die durchschnittliche Erfolgsaussicht für eine Schwangerschaft bei Frauen im Alter von 40 Jahren 18 %, wie der Sachverständige Prof. Dr.E in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt hat. Der Sachverständige hat keine individuellen Faktoren festgestellt, die im Fall des Klägers und seiner Ehefrau eine gegenüber dem Durchschnitt herabgesetzte Erfolgsaussicht bewirken könnten. Im Gegenteil hat seine Auswertung der ihm vom ...Center C überlassenen Unterlagen ergeben, dass die Zahl der nach der Stimulierung in den ersten beiden Behandlungszyklen gewonnenen Eizellen im Mittel bei 6 Eizellen lag und damit dem Durchschnitt entsprach. Die Eizellen wiesen nach der Dokumentation des ...Center C eine gute bis sehr gute Qualität auf und konnten sämtlich fertilisiert werden. Diese Ergebnisse der beiden im Oktober 2004 und Januar/Februar 2005 durchgeführten Behandlungen erlaubten nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen auch für weitere Versuche die Prognose, dass die Erfolgsaussichten jedenfalls entsprechend der für die Altersgruppe der Ehefrau des Klägers ermittelten Durchschnittswerte liegen.

Der Sachverständige hat verneint, dass die von der Beklagten angeführten gesundheitlichen Verhältnisse, so der Tubenverschlusses rechts, die frühere Tubargravidität sowie der Zustand nach einer Myomenukleration von Einfluss auf den Erfolg einer IVF-ICSIBehandlung sein könnten. Die Beklagte hat das Gutachten insoweit nicht angegriffen.

Die von der Beklagten überdies angeführten Faktoren, nämlich zwei frustrane Vorbehandlungen sowie die lange Dauer des unerfüllten Kinderwunsches, rechtfertigen nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen keine Abzüge von den Durchschnittswerten der Altersgruppe. Der Sachverständige konnte sich auf neuere Untersuchungen beziehen, die ergaben, dass die Schwangerschaftsrate bei Frauen auch noch nach drei frustranen Behandlungen nicht von den Werten der Altersgruppe abwiech. Der Sachverständige hat zwar bestätigt, dass ein lang andauernder unerfüllter Kinderwunsch sich ungünstig auf eine Behandlung auswirken könne; er hat jedoch überzeugend dargelegt, dass dieser und eine Vielzahl anderer möglicher Einflüsse statistisch nicht erfasst und auch nicht erfassbar sind, weswegen Abstriche von den statistischen Durchschnittswerten nicht gerechtfertigt seien.

Der Senat ist den Ausführungen des Sachverständigen gefolgt, dass die Erfolgsaussicht für eine IVF-ICSI-Behandlung im Fall der Ehefrau des Klägers auch noch im Alter von 40 Jahren mit nicht unter 18 % einzuschätzen war. Der Sachverständige hat seine Einschätzung überzeugend begründet; seine fachliche Kompetenz steht außer Zweifel.

Bei einer Erfolgsaussicht von 18 % ist nach der eingangs referierten Rechtsprechung die medizinische Notwendigkeit der IVF-ICSIBehandlung zu bejahen.

Der Senat teilt nicht die schriftsätzlich geäußerte Ansicht der Beklagten, eine medizinische Notwendigkeit sei nicht bei einer Schwangerschaftsrate von mindestens 15 %, sondern erst bei einer "baby-take-home-Rate" von 15 % anzunehmen.

Der Senat folgt zwar der Argumentation, dass es bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht als Maßstab für die medizinische Notwendigkeit letztlich auch auf die "baby-take-home-Rate" ankommen dürfte, da nur eine erfolgreiche Schwangerschaft geeignet ist, den gehegten Kinderwunsch zu erfüllen. Der Senat versteht indes den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.09.2005 (aaO.), in der die für die bedingungsgemäße ärztliche Notwendigkeit maßgebende Erfolgsaussicht bei einer Schwangerschaftsrate von 15 % als Grenzwert festgemacht worden ist, nicht dahin, dass dort eine "baby-take-home-Rate" von 15 % als Maßstab gemeint sein könnte. Dagegen spricht eindeutig der Wortlaut der Entscheidung, wonach von einer bedingungsgemäßen medizinischen Notwendigkeit der Behandlung dann nicht mehr auszugehen ist, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Embryotransfer zur gewünschten Schwangerschaft führt, signifikant absinke und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr erreicht werde.

Die Beklagte weist zwar richtig darauf hin, dass die Abortrate in der Gruppe der 40-Jährigen und älter hoch liegt; das wird auch vom Senat nicht verkannt und ist im übrigen auch von dem Sachverständige Prof. Dr.E bestätigt und statistisch untermauert worden. Der BGH, dessen Entscheidung vom 21.09.2005 ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag, hat gleichwohl trotz der bekannten hohen Abortrate in dieser Altersgruppe eine Schwangerschaftsrate von mehr als 15% als hinreichend Erfolg versprechend angesehen, um die medizinische Notwendigkeit zu bejahen.

Dass für die Ehefrau des Klägers über das hohe Abortrisiko in ihrer Altersgruppe hinaus etwa abweichend ein noch höheres Abortrisiko gegeben wäre, hat der Sachverständige Prof. Dr.E verneint. Die von der Beklagten aufgeführten Risiken, der Tubenverschluss rechts, die frühere Tubargravidität sowie der Zustand nach einer Myomenukleration beeinflussen nicht nur nicht die Konzeptionsfähigkeit, sondern sie vergrößern auch ebenso wenig wie das später im März 2006 in Barcelona diagnostizierte Uterusseptum die Abortgefahr. Der Sachverständige hat die Wahrscheinlichkeit, dass das Uterusseptum mitursächlich für den Abort im Juli 2005 gewesen sein könnte, als äußerst gering eingestuft.

Sonstige Umstände, die im Fall der Ehefrau des Klägers auf ein über die Risiken ihrer Altersgruppe hinausgehendes Abortrisiko hinweisen würden, sind nicht ersichtlich.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1, 91 a, 708 Nr. 10 ZPO.

Der für erledigt erklärte Feststellungsantrag war auch noch in der Berufungsinstanz zulässig und begründet.

Ende der Entscheidung

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