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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 31.08.2000
Aktenzeichen: 27 U 33/00
Rechtsgebiete: StVO, ZPO


Vorschriften:

StVO § 10
StVO § 1
ZPO § 97
ZPO § 708 Nr. 10
Leitsatz:

Der Führer eines Kraftfahrzeuges (Pkw) ist verpflichtet, sich vor dem Anfahren (hier zum Verlassen eines Parkplatzes) zu vergewissern, dass er niemanden gefährdet. Ein Sichtschatten durch den von der A-Säule (Holm zwischen der Windschutzscheibe und Tür) gebildeten toten Winkel entlastet nicht, weil der Fahrzeugführer diesen problemlos durch Veränderung seiner Kopfstellung neutralisieren kann. Unterläßt er das und kommt es deshalb dazu, dass ein Kleinkind mit dem Kopf unter das linke Vorderrad des Fahrzeugs gerät, ist seine Haftung für den Schaden begründet.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

27 U 33/00 OLG Hamm 15 O 156/99 LG Dortmund

Verkündet am 31. August 2000

Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 27. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 31. August 2000 durch die Richter am Oberlandesgericht und

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 18. November 1999 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden den Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Urteilsbeschwer der Beklagten übersteigt 60.000 DM.

Tatbestand:

Der am 7.11.1995 geborene Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 8.10.1997 in auf dem Parkplatz an der Alten Salzstraße/Ecke Reginenstraße, bei dem er von dem linken Vorderrad des gerade anfahrenden BMW 520 i des früheren Beklagten zu 1), den dieser selbst führte und der bei dem Zweitbeklagten haftpflichtversichert war, erfasst und in schwerster Weise am Kopf verletzt wurde. Er erlitt eine offene Schädel-Hirn-Verletzung u. a. mit Erblindung des linken Auges und Verminderung der Sehkraft des rechten Auges auf 30 %. Der frühere Beklagte zu 1) ist vor Verkündung des erstinstanzlichen Urteils verstorben und von seiner Ehefrau, der nunmehrigen Beklagten zu 1) allein beerbt worden.

Der Kläger hat dem früheren Beklagten zu 1) (nachfolgend nur: Beklagter) vorgeworfen, beim Anfahren seines Pkw nicht die gebotene Aufmerksamkeit aufgewendet zu haben. Er, der Kläger, müsse zu diesem Zeitpunkt seitlich vor dem Fahrzeug gestanden haben und mit einer Körpergröße von 86 cm für den Beklagten sichtbar gewesen sein. Der Beklagte habe um so mehr Veranlassung gehabt, sich von der Freiheit des vor ihm liegenden Bewegungsraumes zu vergewissern als er ihn, den Kläger, schon während seines vor dem Starten des Wagens unstreitig geführten Telefonats mit dem Handy bemerkt haben müsse, nachdem seine Tagesmutter, die Zeugin S, wenige Sekunden vor dem Anfahren des BMW dessen Frontbereich mit seinem Zwillingsbruder Leon passiert gehabt habe.

Der Beklagte hat behauptet, er habe zunächst etwas nach rechts zu seiner Handakte auf dem Beifahrersitz gewandt telefoniert. Die Zeugin S habe er mit einem Kind auf dem Arm in einer Entfernung von 10 - 12 m an einem Pkw stehen sehen. Sodann sei er nach Beendigung des Telefonats sehr langsam ohne besonderen Grund - entsprechend seiner Art: zentimeterweise - angefahren. Während des Anrollens habe er einen Schrei gehört, den er sofort der Zeugin S zugeordnet habe.

Darauf habe er sofort eine Vollbremsung bis zum Stillstand vorgenommen, den Rückwärtsgang (Automatikgetriebe) eingelegt und ca. einen Meter zurückgesetzt. Erst nach dem Verlassen des Fahrzeugs habe er erstmals den Kläger bemerkt.

Das Landgericht hat nach Anhörung des Beklagten, Zeugenvernehmung der Tagesmutter sowie des Polizeibeamten B und sachverständig beraten durch den Dipl.-Ing. Sch mit dem angefochtenen Grund- und Teilurteil dem Kläger das begehrte Schmerzensgeld (Größenvorstellung 165.000 DM) dem Grunde nach zugesprochen und antragsgemäß die Ersatzpflicht der Beklagten für alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden des Klägers - vorbehaltlich des Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger - festgestellt. Es hat dem Beklagten - gestützt auf das mündliche Gutachten des Sachverständigen Sch - als Verschulden angelastet, sich nicht im Zeitpunkt des Anfahrens durch minimale Kopfbewegungen einen Überblick auch über den Raum im toten Winkel jenseits des linken Außenspiegels und der linken A - Säule des BMW verschafft zu haben, wodurch er den Kläger hätte wahrnehmen müssen, unabhängig davon, ob dieser - was die Beweisaufnahme nicht habe klären können - gerannt, gelaufen oder gekrabbelt sei.

Mit der Berufung begehren die nunmehrigen Beklagten Abweisung der Klage, soweit mit dieser Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich immaterieller Schäden verlangt wird. Gestützt auf das von ihnen vorgelegte Gutachten des Sachverständigen W wenden sie sich gegen die Annahme eines Verschuldens des Beklagten. Sie ziehen hinsichtlich der von dem Sachverständigen Sch angenommenen Sichtmöglichkeiten des Beklagten nunmehr eine Körpergröße des Klägers zur Unfallzeit von 86 cm in Zweifel und verweisen darauf, dass ungeklärt sei, an welcher Seite und in welcher Körperhaltung der Kläger sich am Pkw des Beklagten vorbeibewegt habe. Insbesondere wenn der Kläger, der sich auch vor dem BMW befunden haben könne, nicht aufrecht gestanden habe, sei er für den Beklagten von seinem Fahrersitz aus keinesfalls, auch nicht mit Kopfbewegungen zur Blickwendung in den toten Winkel, zu sehen gewesen.

Die Beklagten beantragen,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils den Klageantrag zu 1) (Schmerzensgeld) ganz und den Klageantrag zu 2) insoweit abzuweisen, als die Feststellung der Haftung für immaterielle Schäden begehrt wird.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil und lastet dem Beklagten als Verschulden an, die gesteigerten Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO vor dem Anfahren nicht beachtet zu haben. Der Beklagte habe auch deshalb Anlass zu lückenloser Umsicht gehabt, weil er mit Kindern auf dem Parkplatz habe rechnen müssen, während des Telefonats zum Beifahrersitz gebeugt das Geschehen auf dem Parkplatz nicht wahrgenommen habe und Passanten wegen des Stehens des BMW mit abgeschaltetem Motor nicht mit einer davon ausgehenden Gefährdung hätten rechnen müssen, sich mithin sorgloser hätten verhalten dürfen. Deshalb habe der Beklagte zur Umschau vor dem Starten sogar den Pkw verlassen, zumindest sich im Pkw durch entsprechende Kopfbewegungen ein umfassendes Bild über den Nahbereich seines Fahrzeugs verschaffen müssen.

Bei Ausführung nur der geringen, nach dem Gutachten Sch möglichen Körperbewegungen hätte der Beklagte den Kläger sehen können. Dieser sei nämlich zum Unfallzeitpunkt bereits 86 cm groß gewesen, wie der zeitnah erhobene Untersuchungsbefund des Kinderarztes vom 20.11.1997 erweise. Technisch ausgeschlossen sei auch, dass der Kläger von der rechten Seite her ( aus Sicht des Beklagten ) in die Endlage wie auf den Fotos Bl. 136 GA vor den BMW gelaufen ist.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Akten des Rechtstreits 7 Js 899/97 StA Dortmund sind zur Ergänzung des Parteivorbringens Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Der Senat hat die Zeugin uneidlich vernommen, den Sachverständigen Sch sein Gutachten mündlich ergänzen lassen und den von den Beklagten gestellten Gutachter W dazu und zur Ergänzung seines mit der Berufungsbegründung vorgelegten schriftlichen Gutachtens gehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk zum Protokoll der Berufungsverhandlung vom 22.8.1998 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung bleibt ohne Erfolg, denn auch die ergänzende Beweisaufnahme in der Berufungsverhandlung begründet die Überzeugung des Senats, dass der vormalige Beklagte zu 1. beim Anfahren mit seinem BMW die bei der Teilnahme am Straßenverkehr erforderte ständige Vorsicht außer acht gelassen, mithin fahrlässig gegen die Sorgfaltspflichten des § 1 StVO verstoßen hat.

Zu Recht hat das Landgericht dem Beklagten insoweit vorgeworfen, den Kläger nicht rechtzeitig wahrgenommen zu haben, wobei er durch mögliche und zumutbare Bewegungen des Kopfes und allenfalls des Oberkörpers auch den toten Winkel jenseits der linken A - Säule, in dem der Kläger sich befunden haben mag, hätte einsehen können.

Soweit die Berufung diese auf das überzeugende erstinstanzliche Gutachten des Sachverständigen Sch gestützte Feststellung des Landgerichts mit der Erwägung in Zweifel zieht, der Kläger sei womöglich noch nicht 86 cm groß gewesen, kann sie damit nicht durchdringen. Nach dem unstreitigen Untersuchungsbefund des Kinderarztes vom 20.11.1997 war der Kläger an diesem Tag 86 cm groß. Bei Berücksichtigung dessen, was zur Wachstumsgeschwindigkeit eines Kleinkindes im damaligen Alter des Klägers allgemein bekannt ist - die Senatsmitglieder sind sämtlich Väter - kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei dem Unfall weniger als zwei Monate zuvor nennenswert kleiner war als bei der kinderärztlichen Untersuchung.

§ 1 StVO verlangte indes vom Beklagten, den toten Winkel, der von der A - Säule und dem Außenspiegel für seinen Sichtraum abhängig von der Körperhaltung gebildet wurde, durch entsprechende, geringfügige Bewegungen vor dem Anfahren auf einem Parkplatz, der von Fußgängern frequentiert wird, einsehbar zu machen.

Die von der Berufung diskutierte Möglichkeit, dass der Kläger bereits vor dem Anfahren des BMW am Boden lag oder krabbelte, entlastet den Beklagten nicht. Zwar wäre der Kläger dann unmittelbar vor dem Anstoß vom linken Seitenbord und der Motorhaube des Fahrzeugs verdeckt gewesen, also in einem Bereich, den der Beklagte während des Fahrens keinesfalls einsehen konnte. Er - der Beklagte - hätte den Kläger dann aber schon bei seinem Anfahrentschluss sehen können und müssen, wie der Sachverständige Sch überzeugend ausgeführt hat.

Der Gutachter hat aus dem Spurenbild abgeleitet, dass der BMW vor der Abbremsung eine Geschwindigkeit von ca. 10 km/h erreicht haben musste, und daraus zusammen mit der verlängerten Reaktionszeit, die bei einer Reaktionsaufforderung allein durch den Schrei der Zeugin S zugrunde zu legen ist, folgern können, dass der BMW beim Start so weit von der Kollisionsstelle entfernt war, dass der Kläger auch in liegender Position zu dieser Zeit noch nicht von der Motorhaube und / oder dem linken Seitenbord verdeckt war. Ging hingegen die Reaktionsaufforderung nicht vom Schrei der Zeugin aus, so wäre die Bremsung des Beklagten nur durch die optische Wahrnehmung des Klägers veranlaßt worden. Auch für diesen Fall hat der Sachverständige Dipl.-Ing. Sch überzeugend die Vermeidbarkeit des Unfalls durch zurückstellen des Auffahrvorganges erläutert. Die Stringenz seiner Folgerungen hat der Sachverständige Sch auch anhand der vorgelegten Graphiken bzw. der darauf nachgestellten deutlichen Kurvenfahrt des BMW nach links plastisch nachvollziehbar gemacht.

Um für den Beklagten ab dem Zeitpunkt unmittelbar vor Betätigung des Anfahrentschlusses bis zu seiner Bremsreaktion nicht sichtbar gewesen zu sein, hätte mithin der damals noch nicht zweijährige Kläger während der gesamten Fahrt über mehr als zwei Pkw - Längen neben dem BMW auf Höhe dessen linken Vorderrades mit zuletzt 10 km/h her gekrabbelt sein müssen. Das ist mit vernünftigen Zweifeln ausschließender Sicherheit nicht möglich. Wäre der Kläger dagegen erst am Ende seiner Bewegung auf die Kollisionsstelle zu zu Boden gegangen, hätte er sich also anfangs in der aufrechten Haltung bewegt, die für ein "Schritt halten" mit dem BMW erforderlich war, so hätte der Beklagte ihn um die A - Säule herum sehen müssen, wie bereits das Landgericht festgestellt hat. Auch der Sachverständige Dipl.-Ing. W hat eingeräumt, dass der Kläger für den Beklagten sichtbar gewesen sein muss; wenn man den im wesentlichen aus A - Säule und Außenspiegel gebildeten toten Winkel aufgrund normativer Wertung "ausschaltet".

Die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels haben die Beklagten gemäß § 97 ZPO zu tragen. Über die Kosten des Rechtsstreits im übrigen hat das Landgericht entsprechend seiner Hauptsacheentscheidung im Schlussurteil zu entscheiden.

Das Urteil ist gemäß § 708 Nr. 10 ZPO vorläufig vollstreckbar.

Ende der Entscheidung

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