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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 17.06.2004
Aktenzeichen: 3 Ss 220/04
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 177
Zur Ausnutzung einer hilflosen Lage i.S. von § 177 StGB.
Beschluss

Strafsache

gegen I.P.

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Gladbeck vom 25.11.2003 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 17. 06. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und der Nebenklägerin bzw. ihres anwaltlichen Vertreters gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Gladbeck zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht - Schöffengericht - Gladbeck hat den Angeklagten mit Urteil vom 25. November 2003 wegen sexueller Nötigung unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert war, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt.

Die Tat soll der Angeklagte zum Nachteil seiner am 28.09.1987 geborenen Nichte K.U. begangen haben.

Zum Schuldspruch hat das Amtsgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

"Am 17.06.2002 begab sich die Zeugin K.U. gemeinsam mit ihrer damaligen Freundin D.R. nach vorausgegangener Absprache zum Grundstück des Angeklagten, um dort im Swimmingpool zu baden.

Beide Zeuginnen hielten sich über einen längeren Zeitraum auf dem Grundstück des Angeklagten auf.

Anwesend waren damals außer den beiden Zeuginnen der Angeklagte, zeitweise seine Ehefrau, die Tochter des Angeklagten und ein anderes Kind.

Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt an diesem Nachmittag entfernte sich die Ehefrau des Angeklagten für einen gewissen Zeitraum vom Grundstück um etwas zu erledigen.

Während dieser Zeitspanne begaben sich der Angeklagte und die Zeugin nahezu zeitgleich in das Wohnhaus, um Abfall zu entsorgen.

Beide begaben sich zunächst in die Küche, um nach dem dort befindlichen Vogel zu schauen.

Unter Hinweis auf eine dort befindliche Tasche veranlaßte der Angeklagte die Zeugin, sich in einen von außen nicht einsehbaren Teil des Flures zu begeben.

Als die Zeugin sich der Tasche zuwand um hineinzuschauen, faßte er ihr sodann mit einer Hand an das Gesäß. Anschließend entblößte er eine Brust der Zeugin und küßte sie dort intensiv unter Zungeneinsatz.

Nach diesem Vorfall verließen die Zeugin und der Angeklagte das Haus.

Die Zeugin äußerte sich draußen den anderen Personen gegenüber nicht zu dem Vorfall.

Der Zeugin R. fiel aber auf, dass das Verhalten der Zeugin völlig verändert war. Während sie vor dem Betreten des Hauses guter Dinge war, wirkte sie nunmehr völlig verstört auf die Zeugin.

Beide hielten sich noch eine Weile im Garten der Familie P. auf und fuhren dann mit ihren Rädern nach Hause. ..."

Das Amtsgericht hat weiter ausgeführt:

"Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte wegen sexueller Nötigung in Form der Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert war, gemäß § 177 I Ziff. 3 StGB strafbar gemacht. Zum Tatzeitpunkt hielt sich die auch heute noch vergleichsweise kindlich wirkende Zeugin allein mit dem Angeklagten im Flur des Hauses M.straße 20 auf. Dieser Teil des Flures war von außen nicht einzusehen. Im Haus hielt sich außer dem Angeklagten und der Geschädigten niemand auf. Auf dem Grundstück befanden sich zu diesem Zeitpunkt auch keine anderen erwachsenen Personen, die eventuell hätten einschreiten können.

Der Angeklagte war der Zeugin bislang nur als Vertrauens- und Respektsperson begegnet.

Dadurch, dass er er unter Hinweis auf die Tasche im Flur ihre Neugier weckte und veranlaßte, ihren Standort zu wechseln, gelang es dem Angeklagten, die ahnungslose Zeugin völlig zu überrumpeln.

Die Zeugin war in dieser konkreten Situation dem Angeklagten ausgeliefert im Sinne des Vorschrift und musste es über sich ergehen lassen, dass dieser gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vornahm.

Die Tatbestandsvoraussetzungen sind somit gegeben.

..."

Unter Verneinung eines minder schweren Falles hat das Amtsgericht mit näheren Ausführungen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet und die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Sprungrevision. Mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts greift er mit näheren Ausführungen den Schuld- und den Strafausspruch des angefochtenen Urteils an.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat einen Antrag nicht gestellt.

Die Nebenklägerin hat beantragt, die Revision als unzulässig und unbegründet zu verwerfen.

II.

Das zulässige Rechtsmittel des Angeklagten hat einen zumindest vorläufigen Erfolg; es führt auf die erhobene Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrunde liegenden Feststellungen, denn der getroffene Schuldspruch hält einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand.

Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen die Verurteilung wegen sexueller Nötigung unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert war (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB), nicht.

Bei der Neufassung der 3. Alternative des § 177 Abs. 1 StGB wurde im Gesetzgebungsverfahren zum 33. StrÄndG auf die Auslegung des entsprechenden Begriffs der hilflosen Lage insbesondere in § 237 StGB a.F. verwiesen (vgl. BT-Drucks. 13/323 S. 5; 2463 S. 6; BGHSt 44, 228). Danach liegt eine hilflose Lage vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß vermindert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist (BGHSt 23, 178 f; 24, 90, 93). Das Opfer befindet sich regelmäßig in einer hilflosen Lage, wenn es sich dem Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeit nicht bedarf. Ob die Schutzlosigkeit auf äußeren Umständen oder solchen, die in der Person des Opfers liegen, beruht, kommt es nicht an; andererseits sind aber an die Feststellung der Schutzlosigkeit jedenfalls dann höhere Anforderungen zu stellen, wenn diese nicht auf der Verbringung an einen einsamen Ort beruht (vgl. BGHSt 44, 232). Schutzlos ausgeliefert ist das Opfer, wenn es sich aufgrund physischer Unterlegenheit oder psychischer Hemmung nicht selbst verteidigen und auch keine entsprechende Hilfe Dritter erlangen kann (vgl. Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 26. Aufl., Rdnr. 9 m.w.N.).

Bei Zugrundelegung dieser Kriterien tragen die Feststellungen des angefochtenen Urteils das Vorliegen einer schutzlosen Lage der Nebenklägerin nicht. Dass das zur Tatzeit 14 Jahre alte Mädchen dem Täter physisch völlig unterlegen war oder aufgrund des Übergriffs psychisch so gehemmt war, dass es dem Einfluss des Täters schutzlos preisgegeben war, ist den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen. Auch lassen die fraglichen Verhältnisse des Tatortes einen Schluss auf das Vorliegen einer schutzlosen Lage nicht zu. Anders als in den Fällen, in denen das Opfer an einen einsamen Ort verbracht wird, befand sich die Geschädigte vorliegend in einem zwar von außen nicht einsehbaren, aber nicht verschlossenen Teil des Hauses, wo eine Flucht etwa nach draußen zu den anderen Kindern im Garten oder auch ein Weglaufen innerhalb des Hauses durchaus möglich erscheint, um dem eventuellen Übergriff zu entgehen. Aufgrund der äußeren Umstände erscheint es für einen objektiven Betrachter jedenfalls nicht aussichtslos, dass das Opfer sich dem Übergriff entziehen oder Hilfe Dritter erreichen konnte. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils ist es dem Angeklagten vielmehr mit einer List - nämlich dem Hinweis auf die Tasche im Flur - gelungen, "die ahnungslose Zeugin völlig zu überrumpeln".

Bei dieser Sachlage kann auch die weiter erforderliche Einwirkung des Täters in Form des nötigenden Zwanges zur Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung nicht festgestellt werden. In den Fällen, in denen der Täter, ohne seine sexuellen Absichten zuvor zu erkennen zu geben, den Körper des Opfers so überraschend berührt, dass dieses überhaupt nicht an Widerstand denken kann, fehlt es an einem nötigenden Zwang und daran, dass der Täter die Lage, in der das Opfer seiner Einwirkung schutzlos ausgeliefert ist, ausnutzt (vgl. Schönke-Schröder, a.a.O., Rdnr. 10 zu § 177; Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., Rdnr. 20 zu § 177; BGHSt 31, 76 ff. = NJW 1982, 2264; Miebach, Aus der Rechtsprechung des BGH zu materiell-rechtlichen Fragen des Sexualstrafrechts 1. Teil, NStZ 1998, 130 ff., Renzikowski, Das Sexualstrafrecht nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz NStZ 1999, 377 ff.). Ist aber die Tat für das Opfer überraschend, weil es dem Täter gelungen ist, das ahnungslose Opfer völlig zu überrumpeln, liegt es nahe, dass das Opfer einen Abwehrwillen gar nicht bilden konnte und es deshalb an der nötigenden Zwanganwendung durch den Täter fehlt.

Aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts kann die Verurteilung des Angeklagten wegen sexueller Nötigung unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert war, keinen Bestand haben. Den Feststellungen ist nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu entnehmen, dass das Opfer sich in einer schutzlosen Lage befand; darüber hinaus fehlt es an der Feststellung des nötigenden Zwanges durch den Angeklagten unter Ausnutzung der schutzlosen Lage. Die Ausführungen dazu, dass der Angeklagte die ahnungslose Zeugin vielmehr durch seinen Übergriff völlig überrascht hat, lassen besorgen, dass das Amtsgericht den Anwendungsbereich des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB verkannt hat.

Aufgrund der bisherigen Feststellungen kommt auch eine Anwendung des § 179 StGB wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nicht in Betracht, da Anhaltspunkte für eine Widerstandsunfähigkeit aus den normierten Gründen nicht gegeben sind. Strafrechtlich erfasst dürfte allerdings das Verhalten des Angeklagten unter den Gesichtspunkt des § 185 StGB als tätliche Beleidigung sein. Das Amtsgericht wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung die Tatumstände insoweit im Einzelnen erneut zu prüfen haben; der für die Verfolgung gemäß § 185 StGB erforderliche Strafantrag gemäß § 194 Abs. 1 StGB liegt jedenfalls vor.

Soweit die Revision im Übrigen auf Darstellungsmängel des angefochtenen Urteils hinsichtlich des eingeholten Sachverständigengutachtens der Sachverständigen Fricke abhebt, greifen diese Rügen nicht durch. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Wegen der aufgezeigten Rechtsfehler, auf denen das Urteil beruht, war das Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Die Sache war an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Gladbeck zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO), die auch über die Kosten der Revision zu befinden hat, weil deren Erfolg i.S.d. § 473 StPO noch nicht feststeht.

Ende der Entscheidung

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