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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 04.10.2006
Aktenzeichen: 3 Ss 429/06
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 21
StGB § 20
StGB § 49
Über die fakultative Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB entscheidet der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen aufgrund einer Gesamtabwägung in wertender Betrachtung aller schuldrelevanten Umstände. Entscheidung unterliegt nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung und ist regelmäßig hinzunehmen.
Beschluss

Strafsache

gegen B.K.

wegen gefährlicher Körperverletzung

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der VIII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 09.05.2006 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 04. 10. 2006 durch den Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seines Verteidigers gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Das Urteil der VIII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 09.05.2006 wird im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Marl hatte den Angeklagten am 12.12.2005 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt und diese in der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Essen mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf die Überprüfung der vom Amtsgericht verhängten Freiheitsstrafe beschränkt.

Das Amtsgericht hatte zum Schuldspruch folgende Feststellungen getroffen:

"Am 22.07.2003 hielt sich der Angeklagte in der Fußgängerzone in Marl im Bereich der Josefa-Lazuga-Allee auf. Dort treffen sich wohnsitzlose Personen, die Alkohol, mitunter auch Betäubungsmittel konsumieren. Zunächst kam es zu einem Streit zwischen der geschädigten Zeugin M. und dem Zeugen S.. S. schuldete der Zeugin M. 5 €, die sie zurück forderte. S. konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht zahlen und entfernte sich schließlich. Der Angeklagte mischte sich ein und erklärte, ein Mann brauche einer Frau kein Geld zu zahlen. Im Übrigen möge sich die Zeugin M. wieder nach Gelsenkirchen begeben, wo sie her gekommen sei. Er bespritzte die Zeugin mit Bier und trat ihr schließlich mit dem beschuhten Fuß mit voller Wucht gegen den Kopf. Die Zeugin erlitt eine Nasenbeinfraktur, eine Schürfwunde und eine Schwellung am Nasenrücken sowie eine Prellung des rechten Augapfels. Sie hatte zunächst erhebliche Sehstörungen, die mittlerweile aber verschwunden sind; die Nase verheilte ohne Operation. Zum Zeitpunkt der Tat war der Angeklagte erheblich alkoholisiert."

Das Landgericht hat zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten u.a. festgestellt, dass dieser mit 17 Jahren begann, Alkohol und Drogen, zunächst Haschisch, später auch Heroin, zu konsumieren. Derzeit nehme er regelmäßig Alkohol zu sich; darüber hinaus erhalte er derzeit Methadon.

Nähere Feststellungen zum Trinkverlauf sowie zu den von dem Angeklagten vor der Tat vom 22.07.2003 konsumierten Rauschmitteln hat das Landgericht nicht getroffen. Allerdings ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat so alkoholisiert war, dass er im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit handelte. Eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB hat das Landgericht dem Angeklagten jedoch mit der Begründung verwehrt, er sei seit Jahren an Alkohol gewöhnt und wisse auch um seine alkoholbedingte Aggressivität. Das Landgericht hat dem Angeklagten dann im Rahmen der Strafzumessung seine erhebliche Alkoholisierung zur Tatzeit und sein Handeln im Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit strafmildernd zugute gehalten.

II.

Die zulässige Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge bereits einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen.

Nach den Feststellungen der Strafkammer kann zwar eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ausgeschlossen werden, so dass die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam ist. Der Angeklagte war trotz seiner erheblichen Alkoholisierung zu einem ziel- und folgerichtigen Verhalten fähig. Er hat die Geschädigte zunächst verbal angegriffen, sie sodann mit Bier bespritzt und sie schließlich mit voller Wucht gegen den Kopf getreten. Dieses abgestufte Verhalten des Angeklagten lässt den sicheren Schluss zu, dass er sich zumindest noch so weit kontrollieren konnte, dass eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit sicher ausgeschlossen werden kann.

Die Begründung, mit der das Landgericht dem Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB verwehrt hat, hält jedoch der rechtlichen Überprüfung durch den Senat nicht Stand.

Über die fakultative Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB entscheidet der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen aufgrund einer Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände. Beruht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf zu verantwortender Trunkenheit, spricht dies in der Regel gegen eine Strafrahmenverschiebung, wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat. Ob dies der Fall ist, hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu bestimmen. Seine Entscheidung unterliegt nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung und ist regelmäßig hinzunehmen, sofern die dafür wesentlichen tatsächlichen Grundlagen hinreichend ermittelt und bei der Wertung ausreichend berücksichtigt worden sind (BGH, NJW 2004, 3350, 3351; ebenso BGH, NJW 2006, 274, 275; BGH, Urteil vom 23.02.2006, 4 StR 444/05, BeckRS 2006 Nr. 03157; BGH, Urteil vom 17.06.2004, 4 StR 54/04, BeckRS 2004 Nr. 07062; BGH, Beschluss vom 07.10.2003, 4 StR 322/03, BeckRS 2003 Nr. 10525 je m.w.N.).

Hier fehlt es bereits an der hinreichenden Ermittlung und Feststellung der für die Entscheidung über die Gewährung der Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 StGB wesentlichen tatsächlichen Grundlagen. Nach den Feststellungen des Landgerichts kann allein von einer etwa seit 20 Jahren bestehenden Abhängigkeit des Angeklagten von Alkohol und Drogen, jedenfalls aber von einem während dieses Zeitraums bestehenden Missbrauch jener Rauschmittel ausgegangen werden. Das Landgericht hätte sich dann aber mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob dem Angeklagten hier aufgrund einer möglicherweise bestehenden Abhängigkeit von Alkohol oder von Heroin bzw. Kokain oder Methadon die Berauschung zur Tatzeit nicht zum Vorwurf gemacht werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 17.06.2004, 4 StR 54/04, BeckRS 2004 Nr. 07062). Hieran würde es nämlich dann fehlen, wenn der Angeklagte alkoholkrank wäre oder wenn der Alkohol ihn zumindest weitgehend beherrschen würde (BGH, a.a.O.).

Aus den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen ergibt sich dagegen nicht, dass der Angeklagte bereits früher vergleichbare Gewalttaten unter dem Einfluss von Alkohol begangen hätte (vgl. BGH, NJW 2004, 3350, 3352). Das Landgericht hat nämlich gerade nicht festgestellt, dass der Angeklagte aufgrund persönlicher Vorerfahrungen wusste oder wissen musste, dass er unter dem Einfluss von Alkohol zu gewalttätigen Übergriffen auf andere neigt. Nach den Feststellungen der Strafkammer ist der Angeklagte allein am 19.01.1993 durch das Amtsgericht Marl wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Weitere Vorstrafen wegen Gewaltdelikten finden sich dagegen nicht. Soweit das Landgericht ein Urteil des Amtsgerichts Velbert vom 22.01.2001 wegen gefährlicher Körperverletzung sowie ein Urteil des Amtsgerichts Mettmann vom 18.06.2002 wegen gemeinschaftlichen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in die Vorstrafenliste aufgenommen hat, handelt es sich ersichtlich um die versehentliche Aufnahme von Vorstrafen, die den Angeklagten überhaupt nicht betreffen. Nähere Feststellungen zu den Umständen der der Verurteilung vom 19.01.1993 zugrunde liegenden Tat hat das Landgericht nicht getroffen. Darüber hinaus erscheint auch zweifelhaft, ob eine mehr als 10 Jahre zurückliegende Verurteilung dem Angeklagten tatsächlich noch deutlich machen könnte, dass er unter dem Einfluss von Alkohol zu Gewalttaten neigt.

Den Feststellungen des Landgerichts kann auch nicht entnommen werden, dass der Angeklagte sich hier etwa in eine Situation begeben hätte, in der das Risiko der Begehung von Straftaten unter Alkoholeinfluss für ihn vorhersehbar signifikant erhöht war. Nach den Feststellungen des Landgerichts handelte es sich vielmehr bei der Tat zum Nachteil der Geschädigten M. um eine Einzeltat. Jedenfalls hat das Landgericht nicht festgestellt, dass der Angeklagte bei vergleichbarer Gelegenheit ähnliche Gewalttaten unter Alkoholeinfluss gegenüber anderen Personen aus dem Obdachlosenmilieu begangen hätte.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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