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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 05.11.2007
Aktenzeichen: 3 Ss 461/07
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 20
StGB § 21
StPO § 261
Liegt bei einem Angeklagten ein (unbehandeltes) ADHS vor, so ist das Tatgericht jedenfalls bei Vorliegen weiterer Umstände, wie einem festgestellten "aufbrausendem Wesen" oder "leichtem Kontrollverlust" etc. dazu gedrängt, im Urteil die Schuldfähigkeit des Verurteilten zu erörtern.
Tenor:

1. Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben

a) im Schuld- und Einzelstrafenausspruch soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

Gründe:

I.

1. Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 23.10.2006 wegen gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Betruges in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß beschränkt. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht Bielefeld die so beschränkte Berufung verworfen.

Gegen das Urteil des Landgerichts hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt und begründet. Er hat beantragt, "das angefochtene Urteil im Strafausspruch - soweit es die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und den Gesamtstrafenausspruch betrifft - aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückzuverweisen". Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

2. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur allein hier relevanten Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung war der Angeklagte im Oktober 2005 als Türsteher tätig. Der Geschädigte ist Vater der Tochter der seinerzeitigen Lebensgefährtin des Angeklagten. Am 08.10.2005 wurde er durch den Geschädigten telefonisch massiv bedroht, weil es zwischen ihm und dem Angeklagten zu Auseinandersetzungen im Hinblick auf den Umgang des Angeklagten mit seiner Tochter gekommen war. Der Angeklagte forderte den Geschädigten daraufhin auf, zu der Gaststätte zu kommen, bei der er als Türsteher tätig war. Gegen 0.30 Uhr am 09.10.2005 traf er dort ein und ging auf den Angeklagten, der gerade seine Türstehertätigkeit ausübte, zu, ohne ihn anzugreifen. Der Angeklagte schubste ihn sofort weg und schlug und trat ihn mit dem beschuhten Fuß. Der Geschädigte hatte Schmerzen und erlitt Prellungen und Blutergüsse.

II.

Die Revision hat auf die (allein erhobene) Sachrüge hin Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

Das Urteil des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfung nicht Stand, weil die Versagung einer Strafmilderung gem. §§ 21, 49 StGB bzw. die Verneinung eines Schuldausschlusses nach § 20 StGB Rechtsfehler aufweist und das Landgericht bei der abgeurteilten Körperverletzungstat zu Unrecht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch ausgeht.

1.

Der Senat kann das angefochtene landgerichtliche Urteil und das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Bielefeld auch bezüglich des Schuldspruches der gefährlichen Körperverletzung überprüfen. Er ist durch die dargestellte Beschränkung von Berufung und Revision nicht daran gehindert. Die Bindung des Revisionsgerichts an eine Revisionsbeschränkung entfällt, wenn Schuldspruch und Strafzumessung so miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Teil mit zu berühren (BGH NJW 1996, 2663, 2664 m.w.N.). Auf eine zulässige Revision prüft das Revisionsgericht darüberhinaus von Amts wegen, ob das Berufungsgericht zu Recht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung ausgegangen ist (BayObLG NZV 2001, 353; OLG Köln NStZ 1984, 379, 380). Grundsätzlich ist die Entscheidung, ob der der Täter erheblich vermindert schuldfähig war von der Entscheidung über seine Schuldunfähigkeit trennbar. Andreres gilt aber, wenn eine neue Entscheidung über die Schuldfrage aufgrund der für die Strafzumessung festgestellten Tatsachen zu einer Verneinung der Schuld führen kann (OLG Köln NStZ 1984, 379, 380).

Die Rechtsmittelbeschränkungen sind hier bezüglich der abgeurteilten gefährlichen Körperverletzung unwirksam, da die Fragen einer möglichen Strafmilderung wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) oder gar Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) aufgrund des bei dem Angeklagten bestehenden ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) nicht getrennt voneinander geprüft werden können. Hinsichtlich des Schuld- und Einzelstrafausspruchs für die Betrugstaten ist die Rechtsmittelbeschränkung hingegen nach den dargelegten Grundsätzen wirksam. Der Senat kann bezüglich der Betrugstaten ausschließen, dass das ADHS Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit gehabt hat.

2.

Das Landgericht geht damit hinsichtlich des Körperverletzungsdelikts zu Unrecht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch aus. Die Urteilsgründe weisen - auch in Zusammenschau mit den Feststellungen zur Tat im erstinstanzlichen Urteil - im Hinblick auf die Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt einen rechtlich erheblichen Erörterungsmangel auf. Ein solcher liegt vor, wenn der Tatrichter die Frage der Schuldfähigkeit nicht geprüft hat, obwohl dazu Anlass bestand (BayObLG NZV 2001, 353 f.; vgl. auch: BGH NStZ-RR 2007, 6 f.; BGH NStZ-RR 2006, 18; BGH Beschl. v. 01.09.2004 - 2 StR 268/04). Zu einer solchen Prüfung und Erörterung bestand hier aus mehreren Gründen Anlass.

a) Bei dem Angeklagten wurde nach den Feststellungen des Landgerichts im Jahre 2001 ein ADHS diagnostiziert. Es heißt insoweit im Berufungsurteil: "Dieses äußert sich in innerer Unruhe und eingeschränkter Konzentration; der Angeklagte brauste leicht auf und handelt bevor er denkt. Psychologische Hilfe nahm der Angeklagte zunächst jedoch nicht an. Im Jahre 2003 wurde ihm von seinem Hausarzt S verschieben. Zugleich wurde ihm der ärztliche Rat erteilt, eine stationäre Therapie in der WKPPN H anzutreten, die 6 bis 8 Wochen dauern sollte". Das entsprechende Therapieangebot nahm der Angeklagte allerdings im Jahre 2004 erst wahr, als ihm dies bei einer Verurteilung in anderer Sache zur Weisung gemacht wurde und brach es dann nach 2 Tagen ab, weswegen (u.a.) die Strafaussetzung in der anderen Sache widerrufen wurde. Anfang August 2005 nahm er erneut Kontakt zu Ärzten auf und nahm auch "die ihm verschriebenen Medikamente", wodurch er ruhiger, ausgeglichener und zuverlässiger wurde (UA S. 5). Er setzte sie aber im Oktober 2005, einige Zeit vor der hier in Frage stehenden Tat, eigenmächtig wieder ab.

Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht weiter berücksichtigt, "dass der Angeklagte auf Grund seiner ADHS-Erkrankung leicht aufbrausend ist". Das habe er aber durch das eigenmächtige Absetzen der Medikamente selbst verschuldet. Ein Kontrollverlust könne auch nicht sehr erheblich sein, weil er bisher noch nicht wegen Gewaltdelikten in Erscheinung getreten sei (UA S. 10). An einigen Stellen wird das bei dem Angeklagten vorliegende ADHS sogar als "Erkrankung" bezeichnet (UA S. 10, 12).

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur Tat, auf die das Landgericht verweist, war es zudem Folge des eigenmächtigen Absetzens der Medikamente im Oktober 2005, "dass der Angeklagte zunehmend unbeherrschter war und sein Verhalten nicht mehr unter Kontrolle hatte".

b) Allein die Diagnose eines ADHS mag für sich genommen noch keinen Anlass zu einer näheren Erörterung der Schuldfähigkeit geben. Eine Gesamtschau von der Diagnose des ADHS sowie den oben aufgezeigten Umstände in ihrer Gesamtschau hätten dem Landgericht aber Anlass gegeben, nicht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung hinsichtlich des Körperverletzungsdeliktes auszugehen und die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt näher zu erörtern.

Ein Symptom von ADHS ist die Impulsivität des Betroffenen, die sich in mangelnder Verhaltenskontrolle, Aggressivität, niedriger Frustrationstoleranz und Handeln ohne Nachzudenken ausprägen kann (Ostermann-Myrau VersMed 2001, 170 ff.). Als weitere Symptome werden Affektlabilität (spontane oder reaktive Affektschwankungen, die meist Stunden dauern; Reizbarkeit; Erregungszustände, die schnell wieder abklingen) und emotionale Übererregbarkeit (Unfähigkeit, Belastungen emotional ausgeglichen hinzunehmen; übermäßige und unangemessene Reaktionen; emotionale Krisen bei alltäglichen Belastungen) genannt (Nedopil, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. S. 106). ADHS kann eine schwere andere seelische Abartigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB darstellen und die Steuerungsfähigkeit bei Begehung einer Straftat in rechtserheblicher Weise beeinträchtigen (vgl. Thüringer OLG, Beschl. v. 29.01.2007 - 1 Ws 16/07). Die Diagnose von ADHS allein - insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei Persönlichkeitsstörungen (vgl. Nedopil a.a.O. S 107) - sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob eine schwere andere seelische Abartigkeit i.S.d. genannten Vorschriften vorliegt oder ob gar die Schuldfähigkeit wegen einer solchen beeinträchtigt ist. Es ist vielmehr in weiteren Schritten der Schweregrad der Störung zu überprüfen, nämlich ob es auch im Alltag außerhalb der Straftaten zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist und bei einer Gesamtschau aller Umstände davon auszugehen ist, dass die Störung den Angeklagten in seinem Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen belastet oder einengt wie eine krankhafte seelische Störung (BGH NJW-RR 2007, 6, 7 m.w.N.; BGH NStZ-RR 2004, 329 f.). Sodann ist zu überprüfen, wie sich eine vorliegende schwere andere seelische Abartigkeit auf die Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat ausgewirkt hat, ob sie diese erheblich vermindert oder gar ausgeschlossen hat (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 8; BGH NStZ 2005, 205, 206; vgl. zum Ganzen auch Boetticher/u.a. NStZ 2005, 57, 58 f.).

Bei der gegebenen grundsätzlichen Möglichkeit der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit oder gar des Schuldausschlusses durch ADHS hätte es jedenfalls im Hinblick auf die weiteren in den Feststellungen enthaltenen Umstände näherer Erörterung zur Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt bedurft. So ist das ganze Leben des Angeklagten geprägt von schulischem und beruflichem Scheitern und Versagen. So verließ er die Hauptschule wegen Verhaltensauffälligkeiten und ging auf eine Sonderschule. Auch dort kam es zu solchen Problemen, dass der Angeklagte in einer Außenwohngruppe einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht wurde und die dortige Sonderschule besuchte. Abgesehen von kurzfristigen Aushilfstätigkeiten war der Angeklagte zumeist arbeitslos. Die Therapie- bzw. Behandlungsnotwendigkeit wurde in den vergangenen Jahren bei ihm mehrfach bejaht. Ohne Behandlung wird er als "leicht aufbrausend" bis hin zum Kontrollverlust und als handelnd, ohne zu denken, beschrieben. Der Angeklagte war - nach dem Absetzen der Medikamente - zum Tatzeitpunkt unbehandelt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Tat stattfand, nachdem der Angeklagte am Tag zuvor, vom Geschädigten bedroht worden war. Der Tatverlauf deutet auf das bereits erwähnte "Handeln ohne zu Denken" hin. Im Berufungsurteil wird bzgl. des beim Angeklagten vorliegenden ADHS von "Erkrankung" gesprochen, was schließlich ebenfalls auf eine Störung mit Krankheitswert hindeutet.

Die einzige Erwägung, die die Strafkammer (wenn auch nicht ausdrücklich, so aber der Sache nach) im Hinblick auf die Schuldfähigkeit anstellt, dass nämlich der Kontrollverlust nicht erheblich gewesen sein könne, da der Angeklagte bisher noch nicht durch Gewaltdelikte aufgefallen sein, wird durch die Feststellung, dass gegen den Angeklagten ein weiteres Strafverfahren wegen Körperverletzung im Zusammenhang mit seiner Türstehertätigkeit nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, relativiert.

c) Die Feststellungen des Tatgerichts reichen auch nicht, um ohne weiteres von einem schuldhaften Handeln jedenfalls unter Anwendung der Grundsätze der actio libera in causa auszugehen.

Ende der Entscheidung

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