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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 09.05.2000
Aktenzeichen: 3 Ss OWi 115/00
Rechtsgebiete: StVO, StVG, BKatV


Vorschriften:

StVO § 3
StVO § 49
StVG § 24
StVG § 25 Abs. 2 a
BKatV § 2 Abs. 1 Ziffer 1
BKatV § 2 Abs. 4
BKatV § 2 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT HAMM BESCHLUSS

3 Ss OWi 115/00 OLG Hamm 15 OWi 63 Js 1275/99 AG Minden

Bußgeldsache

wegen Zuwiderhandlung gegen § 3 StVO.

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 14. Oktober 1999 gegen das Urteil des Amtsgerichts Minden vom 6. Oktober 1999 hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 9. Mai 2000 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Ramin und die Richterinnen am Oberlandesgericht Jung und Giesert

nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Betroffenen und seines Verteidigers beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben. Insoweit wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Minden zurückverwiesen.

Gründe:

Durch das angefochtene Urteil hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen einer fahrlässig begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit gemäß §§ 3, 49 StVO, 24 StVG zu einer Geldbuße von 400,- DM verurteilt. Es hat festgestellt, dass der Betroffene am 5. Februar 1999 in innerhalb geschlossener Ortschaft die B in Fahrtrichtung mit einem PKW mit einer Geschwindigkeit von 83 km/h befuhr, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h betrug. Es hat festgestellt, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung aufgrund von Fahrlässigkeit begangen hat. Der Schuldspruch dieses Urteils ist in Rechtskraft erwachsen.

Das Amtsgericht hat davon abgesehen, gegen den Betroffenen das bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 33 km/h innerhalb geschlossener Ortschaft gemäß § 2 Abs. 1 Ziffer 1 BKatV vorgesehene Regelfahrverbot zu verhängen. Es hat einen Härtefall i.S.d. § 2 Abs. 4 BKatV angenommen und die Regelbuße von 200,- DM auf 400,- DM erhöht.

Das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots hat das Amtsgericht im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Betroffene erzielt als Geschäftsführer des EDV-Unternehmens seiner Ehefrau ein Einkommen von 3.000,- bis 4.000,- DM monatlich und muss einer studierenden Tochter Unterhalt gewähren. Er ist in dem Unternehmen seiner Ehefrau "praktisch" der einzige in der Sache kompetente Mitarbeiter. Da er in ganz Deutschland verschiedene Firmen bei dem Einsatz von EDV-Software zu betreuen hat, ist er ganz entscheidend auf den Einsatz eines PKW angewiesen. Dabei kehrt er nicht jeden Abend nach Hause zurück, sondern übernachtet häufig auswärts in Hotels. Personen aus dem Betrieb seiner Ehefrau, die er während der Dauer eines einmonatigen Fahrverbots als Fahrer abstellen könnte, stehen ihm nicht zur Verfügung: Eine Vollzeitangestellte für Büroarbeiten muss ständig im Büro für Kunden erreichbar sein; eine geringfügig beschäftigte Mitarbeiterin für die Buchhaltung steht ebenfalls als Fahrerin für ganze Tage oder gar mehrtägige Fahrten nicht zur Verfügung. Eine Aushilfskraft kann der Betroffene für die Dauer eines einmonatigen Fahrverbots ebenfalls nicht einstellen. Für sich selbst kann der Betroffene keine Ersatzkraft beschaffen, weil eine solche, die den Betroffenen bei der Kundenbetreuung und den sich bei den einzelnen Firmen stellenden Problemen vertreten könnte, auf dem Arbeitsmarkt nicht zu finden sei. Wegen der Notwendigkeit, dass häufig Fahrten zu Kunden mehrere Tage in Anspruch nähmen und somit Übernachtungen notwendig seien, sei aus finanziellen Gründen auch die Einstellung eines Ersatzfahrers für die Dauer eines Monats nicht vertretbar: Die hierdurch für den Betroffenen entstehenden Kosten würden monatlich rund 10.000,- DM betragen. Auch die Regelung des § 25 Abs. 2 a StVG, nämlich die Inanspruchnahme der "4-MonatsFrist" sei zur Abwendung eines Härtefalls nicht geeignet: Urlaub könne der Betroffene nämlich innerhalb der 4-Monats-Frist nicht nehmen. Dies erlaubten die Besonderheiten der Computerbranche nicht. Angesichts des bevorstehenden Jahrtausendwechsels - das Urteil, ist am 6. Oktober 1999 ergangen - sei mit Systemabstürzen durch Software-Fehler zu rechnen, die gerade im Zusammenhang mit der Jahrtausendumstellung vorkommen könnten. Dies müsse der Betroffene verhindern. Auch nach dem Jahreswechsel, nämlich im Januar 2000, sei ein Urlaub des Betroffenen nicht möglich, da in dieser Zeit eventuell noch auftretende Computerfehler behoben werden müssten.

Diese Feststellungen hat das Amtsgericht aufgrund der Einlassung des Betroffenen getroffen. Es hat keine Zweifel gesehen, an der Richtigkeit dieser Einlassung zu zweifeln und hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es die diesbezüglichen Erklärungen des Betroffenen für plausibel und nachvollziehbar hält. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots die berufliche Existenz des Betroffenen zumindest stark gefährden würde. Es hält die Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots für unverhältnismäßig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die ersichtlich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die rechtzeitig eingelegt und begründet worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft ist der Rechtsbeschwerde beigetreten.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Rechtsfolgenausspruch und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

Soweit mit der Rechtsbeschwerde dargetan wird, dass sich nach der Aktenlage die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen weit günstiger darstellen als im amtsgerichtlichen Urteil festgestellt, weist der Betroffene mit Schriftsatz vom 26. April 2000 zutreffend darauf hin, dass derartige Angriffe gegen die tatrichterlichen Feststellungen mit der materiellen Rüge nicht erfolgreich geltend gemacht werden können. Insoweit hätte es einer den Zulässigkeitserfordernissen entsprechenden Aufklärungsrüge bedurft. Der Senat hat somit von dem im amtsgerichtlichen Urteil festgestellten Einkommen des Betroffenen von monatlich 3.000,- bis 4.000,- DM auszugehen.

Die Feststellungen und Erwägungen im angefochtenen Urteil rechtfertigen die Annahme eines Härtefalls nicht.

Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls i.S.d. § 2 Abs. 1 BKatV der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat, unterliegt in erster Linie der Würdigung des Tatrichters (BGH NZV 1992/286, 287). Der Richter ist an die Indizwirkung des Regelbeispiels nicht gebunden. Er hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls in objektiver und subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem solchen Maße abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre, mithin eine unverhältnismäßige Reaktion auf objektiv verwirklichtes Unrecht und subjektiv vorwerfbares Verhalten darstellt (BVerfG NStZ 1996/391, 392 m.w.N.). Die damit erforderliche Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ist Rechtsanwendung und unterliegt der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Insoweit hat der Senat in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass die Entscheidung, ob trotz der Verwirklichung des Regeltatbestandes der konkrete Einzelfall Ausnahmecharakter hat, in erster Linie der Würdigung des Tatrichters unterliegt, dass diesem insoweit jedoch kein rechtlich ungebundenes freies Ermessen eingeräumt ist. Vielmehr ist der dem Tatrichter so verbleibende Entscheidungsspielraum durch die gesetzlich niedergelegten oder von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insofern hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalls oder Regelfalls, zu der auch die Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung eines Regelfahrverbots nach der BKatV zu zählen ist (vgl. Senatsentscheidungen vom 7. März 1996, JMBl. NW 96/246; vom 30. September 1996 - 3 Ss OWi 972/96 -; vom 10. Dezember 1996, - 3 Ss OWi 1405/96 - ; BGH NZV 1992/286, 287).

Dass der Betroffene als einzig kompetenter Mitarbeiter im Betrieb seiner Ehefrau bei Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots keine uneingearbeitete Ersatzkraft für die ihm im Zusammenhang mit der Firma obliegenden Tätigkeiten einstellen kann (U.A. S. 5 unten/S. 6 oben) ist selbstverständlich und bedarf keiner Erwägungen. Es geht nämlich lediglich um die Kraftfahrertätigkeit des Betroffenen.

Indessen greifen die Erwägungen zur Beschaffung eines Ersatzfahrzeugführers nicht: Die Kosten für einen firmenfremden Ersatzfahrer hat das Amtsgericht der Einlassung des Betroffenen ohne jede Überprüfung folgend mit monatlich rund 10.000,- DM in Ansatz gebracht unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Ersatzfahrer ebenso wie der Betroffene selbst in vielen Fällen abends nicht nach Hause kommen könne, sondern im Hotel übernachten müsse. Es hat damit nicht in Betracht gezogen; dass dem Betroffenen durchaus zuzumuten ist, seine geschäftlichen Tätigkeiten während der Dauer des einmonatigen Fahrverbots entsprechend zu organisieren, auf den Besuch weit entfernt wohnender Kunden unter Umständen während der Dauer des Fahrverbots zu verzichten, für dennoch unaufschiebbare Fälle, bei denen unabdingbar Computerteile, die im öffentlichen Verkehr nicht transportiert werden können, mitgenommen werden müssen, ein Taxi zu benutzen. Gewisse wirtschaftliche Einschränkungen und Einbußen sind einem Betroffenen als Folge eines Fahrverbots durchaus zuzumuten. Anderenfalls stünde für Personengruppen mit ähnlichen Berufen wie z.B. auch Handelsvertretern, die ebenfalls ihre Waren in Kraftfahrzeugen mit sich führen müssen und Kunden in weiterer Entfernung aufzusuchen haben, die Androhung eines Fahrverbots lediglich auf dem Papier.

Das Amtsgericht hat auch verabsäumt zu prüfen, ob die Firmeninhaberin, die Ehefrau des Betroffenen, als Ersatzfahrerin oder aber als Ersatzkraft für die Vollzeitbeschäftigte oder die geringfügig beschäftigte Mitarbeiterin in Betracht kommt, so dass diese die Fahrdienste übernehmen können.

Dass für den Betroffenen die Regelung des § 25 Abs. 2 a StVG mit Rücksicht auf den damals bevorstehenden Jahrtausendwechsel keine Erleichterung im Falle der Verhängung eines Fahrverbots gebracht hätte und auch im Januar 2000 nach erfolgtem Jahrtausendwechsel wegen möglicher dann noch auftretender Computerfehler dasselbe gelte, ist infolge Zeitablaufs für die erneute Hauptverhandlung nicht mehr relevant. Es erübrigt sich daher, im Einzelnen darauf einzugehen, dass auch dies ein Absehen vom Fahrverbot nicht gerechtfertigt hätte.

Da noch neue Feststellungen möglich erscheinen, hat der Senat davon abgesehen, in der Sache selbst zu entscheiden und hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu entscheiden haben wird.

Ende der Entscheidung

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