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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 02.04.2001
Aktenzeichen: 3 U 160/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 1922
BGB § 823 Abs. 1
ZPO § 92
ZPO § 711
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
Auch unter Beachtung des dem Arzt bei der Dianose zustehenden Beurteilungsspielraums liegt dann ein Behandlungsfehler vor, wenn das diagnostische Vorgehen und die Bewertung der durch diagnostische Hilfsmittel gewonnen Ergebnisse für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheinen. Wenn die Arbeitshypothese eines Brochialkarzinoms zu stellen ist, muß ihr bis zum Ausschluß nachgegangen werden.
OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 160/00 OLG Hamm

Verkündet am 2. April 2001

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2001 durch die Richter am Oberlandesgericht Kamps, Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerinnen wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen - das am 10. Mai 2000 verkündete Urteil der 17. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund teilweise abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerinnen als Gesamtgläubigerinnen ein Schmerzensgeld von 20.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 5. September 1997 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, den Klägerinnen den materiellen Schaden aus der Fehldiagnose vom 27. Juni 1996 betreffend den verstorbenen H N zu erstatten.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt 3/11, die Klägerinnen tragen als Gesamtschuldner 8/11 der Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerinnen können die Vollstreckung aus dem Urteil durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von 10.000,00 DM abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Alle Parteien können die Sicherheitsleistung auch durch die unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft eines in der Bundesrepublik als Zoll- und Steuerbürgen zugelassenen Kreditinstituts erbringen.

Tatbestand:

Die Klägerinnen sind Erbinnen des am 4. August 1997 verstorbenen H K N .

Der Verstorbene befand sich im Juni 1996 in der ambulanten Behandlung seines Hausarztes wegen Schmerzen im Brustkorb. Am 18. Juni 1996 überwies der Hausarzt den Verstorbenen zum Röntgen der Lunge an die radiologische Gemeinschaftspraxis, in der der Beklagte tätig ist.

Im Befundbericht des in der Praxis des Beklagten tätigen Dr. K vom 25. Juni 1996 heißt es u.a.:

"... Beurteilung:

Zeichen eines mäßig ausgeprägten Lungenemphysems. Infiltrative oder auch narbige Veränderungen im linken Lungenunterfeld paracardial. Zunächst äthiologisch unklare, etwa 4 cm große flaue Verdichtung im rechten Lungenoberfeld, wahrscheinlich dorsal gelegen. Weiterhin Nachweis eines etwa 8 mm großen Rundherdes im rechten Lungenmittelfeld. ... Zur weiteren Abklärung des Gesamtbefundes insbesondere des rechten Lungenoberfeldes CT erforderlich."

Am 27. Juni 1996 führte der Beklagte eine Computertomographie durch. Im Befundbericht vom 27. Juni 1996 heißt es u.a.:

"Im 6er-Segment rechts stellt sich über 10 Schichten, d. h. 10 cm eine weichteildichte Verschattung dar, die der Pleura und den paravertebralen Rippenabschnitten rechtsseitig aufliegt, sie zeigt in den Randbezirken streifige Ausläufer, die einem Gefäß-Bronchusbündel entspricht. Die Aufnahmen im Weichteilfenster zeigen, daß die Läsion den Rippen glatt aufliegt, ohne sie zu destruieren. ... Daneben findet sich eine kleine flaue Rundherdbildung im 8er-Segment rechts. Gleichfalls flaue Verdichtungen in der Lingula. Die Lungen zeigen eine leicht erhöhte Strahlentransparenz. ...

Beurteilung:

Sehr wahrscheinlich pleuropneumonisches Restinfiltrat mit Ausbildung einer Rundatelektase im 6er-Segment rechts. Ich schlage zunächst eine Kontrolle in sechs Wochen vor. ..."

Der Beklagte erstellte am 12. August 1986 erneut eine Computertomographie. Im Befundbericht vom 12.08.1996 heißt es u.a.:

"... Die Voraufnahmen vom 27.06.96 liegen vor, hiernach hat die solide RF rechts paravertebral an Größe leicht zugenommen, das Rippenköpfchen der 7. Rippe erscheint jetzt destruiert. Daneben findet sich jetzt eine sehr deutliche Weichteilschwellung an der li. Thoraxwand in der mittl. Axillarlinie. Die Aufnahmen im Lungenfenster stellen einen kleinen Rundherd im 6er-Segment dar, der flau ist und auf den Aufnahmen im Weichteilfenster nicht zu erkennen ist.

Beurteilung:

Dringender Verdacht auf ein peripheres BC, wobei jetzt offensichtlich eine Destruktion an der 7. rechten paravertebralen Rippe zu erkennen ist. Daneben tastbare Weichteilschwellung an der li. Thoraxwand in der mittl. Axillarlinie, wobei ich hier eine Weichteilmetastase vermute.

..."

Ausweislich des Arztbriefes der Ruhrlandklinik Essen vom 10.10.1996 befand sich der Verstorbene vom 20. August bis zum 02.09.1996 dort in stationärer Behandlung. In diesem Arztbrief heißt es u.a.:

"Diagnosen:

Peripheres, nicht kleinzelliges Karzinom im rechten Lungenoberlappen mit Brustwandinfiltration sowie intrapulmonaler Weichteil- und Knochenmetastasen (T3N1M1), wahrscheinlich Adenokarzinom.

Operative Entfernung der großen Weichteilmetastase ..., Palliative Chemotherapie vorgesehen ...

Zusammenfassung:

Bei Herrn N. handelt es sich um ein peripheres Bronchialkarzinom im rechten Lungenunterlappen mit Infiltration der Thoraxwand paravertebral und Nachweis von Fernmetastasen (subcutan, Knochenmetastasen). Ein operatives Vorgehen kommt nicht in Betracht, auch keine Indikation zum neoadjuvanten Vorgehen. ... Nach Vorstellung der Unterlagen in unserer interdisziplinären Tumorkonferenz wurde die Indikation zur palliativen Chemotherapie für indiziert erachtet. ..."

Ab September 1996 erhielt der Verstorbene verschiedene Chemotherapien sowie Bestrahlungen. Wegen eines erheblich sich verschlechternden Gesundheitszustandes und einer Medikation mit Morphin erfolgte am 17. Juli 1997 die stationäre Aufnahme im Katharinen-Hospital Unna. Kurzfristig befand sich der Verstorbene vom 19. bis 21.07.1997 in der stationären Behandlung der Städtischen Kliniken Dortmund. Im Arztbericht vom 5. August 1997 heißt es u.a.:

"... Jetzt: Akut aufgetretene Rückenmarkskompressionssymptomatik mit Querschnittssyndrom sub TH 9. Die stat. Aufnahme des Patienten erfolgte als Verlegung aus dem Katharinen-Hospital Unna zur Durchführung einer Palliativen Radiotherapie bei akut aufgetretener Querschnittssymptomatik sub TH 9.

Es erfolgten notfallmäßig zwei Bestrahlungen .... ... Bei mangelnder Erfolgsaussicht wurde von einer weiteren Radiotherapie abgesehen, so daß wir Herrn N auf eigenen Wunsch in das Katharinen-Hospital Unna zurückverlegten."

Im Katharinen-Hospital Unna verstarb Herr N am 4. August 1997 an seiner Krebserkrankung.

Die Klägerinnen haben behauptet, dem Beklagten sei ein grober Behandlungsfehler unterlaufen, weil er am 27. Juni 1996 die CT-Aufnahmen falsch ausgewertet habe. Wäre bereits an diesem Tag die Diagnose richtig gestellt worden, wären sofort geeignete Behandlungsmaßnahmen eingeleitet worden. Die Heilungschancen wären in diesem Fall erheblich höher gewesen; möglicherweise hätte der Tumor sogar noch operiert werden können. Auf jeden Fall wäre das Leben des Verstorbenen verlängert und erträglicher gestaltet worden.

Die Klägerinnen haben beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie aus Anlaß des Behandlungsfehlers vom 27.06.1996 bei der Behandlung ihres verstorbenen Ehemannes/Vaters ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat die Bewertung der CT-Aufnahmen für zumindest nicht unvertretbar gehalten. Er hat behauptet, bereits zu diesem Zeitpunkt sei die Krankheit unheilbar gewesen; der Krankheitsverlauf wäre auch bei richtiger Diagnose kein anderer gewesen.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. H und Prof. Dr. H . Sodann hat es die Klage mit der Begründung abgewiesen, von einem fundamentalen Diagnoseirrtum des Beklagten könne nicht ausgegangen werden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe sich nicht feststellen lassen, daß der Krankheitsverlauf ein anderer gewesen wäre, wäre das Bronchialkarzinom bereits am 27.06.1996 erkannt und wären sofort Behandlungsmaßnahmen eingeleitet worden.

Wegen weiterer Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die schriftlichen Gutachten der Sachverständigen, das Protokoll zur mündlichen Verhandlung sowie auf die angefochtene Entscheidung des Landgerichts Bezug genommen.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts wenden sich die Klägerinnen mit der Berufung. Unter Wiederholung und Vertiefung des erstinstanzlichen Sachvortrages beantragen sie,

1. den Beklagten zu verurteilen, an sie aus Anlaß des Behandlungsfehlers vom 27.06.1996 betreffend die Behandlung des verstorbenen Ehemannes/Vaters der Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, das der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, den Klägerinnen sämtliche materiellen und weitere immaterielle Schäden aus der ärztlichen Behandlung des Ehemannes/Vaters der Kläger zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Er wiederholt und vertieft ebenfalls den erstinstanzlichen Sachvortrag.

Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch mündliche Vernehmung der Sachverständigen.

Wegen weiterer Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die beigezogenen Krankenunterlagen, das Protokoll und den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 2. April 1001 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerinnen hat auch in der Sache teilweise Erfolg.

Den Klägerinnen stehen gegen den Beklagten die geltend gemachten Ansprüche auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung - soweit es die materiellen Ansprüche betrifft - gem. §§ 823 Abs. 1, 847 BGB bzw. wegen Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages jeweils in Verbindung mit § 1922 BGB zu.

1.

Die Behandlung des Verstorbenen, Herrn H N durch den Beklagten am 27. Juni 1996 war fehlerhaft. Der Beklagte hat die computertomopraphisch gewonnenen Aufnahmen falsch ausgewertet und hat fehlerhaft die differentialdiagnostisch zwingend zu beachtende Arbeitshypothese eines Bronchialkarzinoms nicht verfolgt.

Diagnoseirrtümer im Sinne von Fehlinterpretationen von erhobenen Befunden bewertet die Rechtsprechung nur mit einer gewissen Zurückhaltung als Behandlungsfehler. Dem Arzt steht grundsätzlich bei der Diagnose wie bei der Therapie ein gewisser Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum zu (BGH VersR 1981 S. 1033; NJW 1988 S. 1513; Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz 153, 154 m.w.N.). Das bedeutet jedoch nicht, daß nur völlig unvertretbare diagnostische Fehlleistungen überhaupt zu einer Haftung führen können. Auch unter Beachtung des dem Arzt bei der Diagnose zustehenden Beurteilungsspielraums liegt dann ein Behandlungsfehler vor, wenn das diagnostische Vorgehen und die Bewertung der durch diagnostische Hilfsmittel gewonnenen Ergebnisse für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheinen (Senat, Urteil vom 23.8.2000 - 3 U 229/99, Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz 155a).

In diesem Sinn war es für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar, den Befund vom 27.06.1996 als pleuropneumonisches Restinfiltrat mit Ausbildung einer Rundelektase zu werten und damit ein Karzinom faktisch auszuschließen. Die gerichtlichen Sachverständigen, von deren ausgeprägter fachlicher Kompetenz der Senat sich ein ausreichend klares Bild gemacht hat und deren überzeugenden Ausführungen er folgt, haben keinen Zweifel daran gelassen, daß sich die Diagnose des Beklagten als unvertretbar darstellte. Der Onlokologe Prof. Dr. H hat dies plastisch auf den Punkt gebracht, in dem er im Senatstermin ausgeführt hat, "das mit der Entzündung" sei "an den Haaren herbeigezogen". Dies sei keine ernsthafte Differentialdiagnose gewesen. Der Radiologe Prof Dr. H hat ausgeführt, die weichteildichte Raumforderung sei einwandfrei als Lungentumor zu diagnostizieren gewesen. Es habe sich um einen weit fortgeschrittenen Prozeß gehandelt, der in dieser Konstellation zu sehen gewesen sei. Die Rippendestruktion habe auf eine Metastasierung hingewiesen, weshalb man die Arbeitshypothese Bronchialkarzinom habe stellen und ihr bis zu ihrem Ausschluß hätte nachgehen müssen.

Die Ausführungen der Sachverständigen stehen in Übereinstimmung mit den Ausführungen der Gutachter der Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe gem. Bescheid vom 10.04.1997. Auch sie kommen zu dem Ergebnis, daß ein Behandlungsfehler anzunehmen sei. Zu keinem anderen Ergebnis gelangt der Privatgutachter Prof. Dr. F in seiner Beurteilung vom 28.11.2000.

2.

Der Senat wertet den Diagnoseirrtum des Beklagten, verbunden mit der unterbliebenen Abklärung eines möglichen malignen Geschehens als einen groben Behandlungsfehler.

Soweit die Fehlinterpretation eines Befundes im obigen Sinn unvertretbar ist, begründet dies den Behandlungsfehler; ist diese Interpretation darüber hinaus als unverständlich zu werten, rechtfertigt das die Annahme eines groben Fehlverhaltens (vgl. BGH NJW 1996 S. 1589, 1590, Senat, Urteil vom 23.08.2000 - 3 U 229/99). Zur Überzeugung des Senats rechtfertigen die Ausführungen der Sachverständigen nicht nur die Annahme eines Behandlungsfehlers überhaupt, sondern auch die weitergehende Wertung des Fehlers als unverständlich.

Das wird im Prinzip schon aus den Formulierungen deutlich, die - wie vorstehend aufgezeigt - der Onkologe Prof. Dr. H gewählt hat. Ist eine Arbeitsdiagnose nach Auswertung der Bildgebung als "an den Haaren" herbeigezogen charakterisiert, beinhaltet das den Ausdruck des absolut fehlenden Verständnisses für eine solche Wertung. Ebenso hat der Sachverständige Prof. Dr. H es als einen schweren Fehler bezeichnet, daß man nach den konkreten computertomographischen Ergebnissen die Tumordiagnose nicht an die erste Stelle gesetzt hat. Auch nach diesem Sachverständigen war es deshalb unverständlich und damit in juristischer Hinsicht grob fehlerhaft, die gefertigten Aufnahmen nicht im Sinne eines möglichen tumorösen, ggf. malignen Geschehens zu interpretieren und geeignete Maßnahmen bis zur Bestätigung oder aber bis zum Ausschluß des Verdachts ergriffen zu haben.

Soweit der Sachverständige Prof. Dr. H in seinem schriftlichen Gutachten (Bl. 93) sich zurückhaltender geäußert hat, verbleibt im Ergebnis kein Widerspruch. Wie die ausführliche Befragung des Sachverständigen im Senatstermin gezeigt hat, war diesem Sachverständigen die medizinische wie auch juristische Bedeutung der Fragestellung offenbar zunächst nicht vollständig geläufig. Nach einer entsprechenden Erläuterung hat sich der Sachverständige dann jedoch klar im vorbezeichneten Sinn geäußert und insoweit seine Ausführungen in seinem schriftlichen Gutachten präzisiert.

Die Gutachter der Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe haben sich zu der Frage eines groben Versäumnisses nicht ausdrücklich geäußert. Eine weitere Aufklärung ist dem Senat insoweit nicht möglich. Der Privatgutachter Prof. Dr. F hat sich klar und eindeutig gefaßt und die Bewertung des Beklagten als absolut unverständlich bezeichnet; es lasse "einen in der Tat den Kopf schütteln, wenn "ein Radiologe diesen Befund als Pneumonie fehlinterpretiert, darüber gibt es nicht die geringste Diskussion" (Bl. 339, 340).

3.

Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers führt grundsätzlich zu Beweiserleichterungen für den Patienten und in aller Regel auch zu einer Beweislastumkehr. Liegt ein grober Behandlungsfehler vor, so ist es grundsätzlich Sache des Arztes nachzuweisen, daß die grob fehlerhafte Behandlung sich nicht kausal ausgewirkt hat, sofern dies nicht gänzlich oder äußerst unwahrscheinlich ist. Der Bundesgerichtshof sieht die Folge der Beweislastumkehr zulasten des Arztes als einen Ausgleich dafür, daß sich infolge des groben ärztlichen Versagens das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben hat (Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz 515 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes). Das bedeutet, daß nur ausnahmsweise ein grober Behandlungsfehler dann nicht zu einer Beweiserleichterung bzw. zu einer Beweislastumkehr führt, wenn feststeht, daß sich durch den Fehler das Risikospektrum für den Patienten nicht verändert hat. Deshalb hat der Senat in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, daß es trotz eines groben ärztlichen Versäumnisses bei der Beweislast der klagenden Partei (Erben) verbleibt, wenn zum Zeitpunkt der Erstbehandlung ein inoperabler Tumor und eine Lebermetastasierung vorliegt und durch den zeitlichen Verzug bis zur richtigen Diagnosestellung keinerlei Heilungschancen und keine Chance auf eine Verbesserung der konkreten Situation vergeben wurden (Urteil vom 28.02.2001 -3 U 113/00).

So liegt die Sachlage indes hier nicht. Der Senat hat den onkologischen Sachverständigen ausdrücklich befragt, ob sich durch die hier vorliegende Verzögerung in der Einleitung der Therapie das Risikospektrum zulasten des Verstorbenen verändert hat. Das hat der Sachverständige ausdrücklich bejaht. So hätte der Verstorbene bei zeitlich adäquater Einleitung einer geeigneten Chemo-Strahlentherapie die Chance gehabt, sowohl eine Lebensverlängerung als auch eine Verbesserung seiner Situation zu erreichen; insbesondere hätte er auch die Querschnittslähmung dann möglicherweise nicht erlitten, was weder gänzlich noch äußerst unwahrscheinlich war. Deshalb verbleibt es bei der Beweislastumkehr zulasten des Beklagten als Folge des groben ärztlichen Versäumnisses.

Der Beklagte hat den ihm obliegenden Beweis nicht geführt, daß bei einer rechtzeitigen Einleitung der gebotenen Chemo-Strahlentherapie es nicht zu einer Verlängerung der Überlebenszeit sowie einer zumindest etwas verbesserten Lebensqualität ggf. unter Ausschluß der Querschnittslähmung gekommen wäre. Der onkologische Sachverständige hat ausgeführt, der Verstorbene hätte in diesem Fall zumindest eine Chance gehabt. Diese Chance hat der Sachverständige sogar auf bis zu 50% und weniger beziffert.

Zur Überzeugung des Senats steht jedoch mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit für die Beweisführung fest, daß die Lebensverlängerung, die durch eine frühzeitigere Therapie hätte erzielt werden können, jedenfalls nicht mehr als 4 Monate betragen hätte. Eine Heilungschance bestand für den Verstorbenen zu keinem Zeitpunkt. Bereits zum Zeitpunkt der Erstbehandlung des Verstorbenen war der Tumor inkurabel, hatte dieser schon eine solche Masse und ein solch fortgeschrittenes Stadium nebst bereits eingetretener Metastasierung erreicht, daß auch eine sofortige Reaktion im Juni 1996 die Heilungschance ausschloß. Deshalb verblieb von vornherein nur eine adjuvante Therapie.

Statistisch ist nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H durch den Einsatz einer adäquaten Therapie die Überlebensrate im ersten Jahr von 10 auf 20% erhöht. Das zweite Jahr überleben statistisch 3% der Patienten mit einem nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom; 1% der Patienten überleben 5 Jahre und mehr.

Diese Statistik ist für den Verstorbenen ebensowenig aussagekräftig wie die zu den Akten gereichten Aufsätze und Statistiken. Sie beziehen sich allgemein auf an Bronchial- bzw. Lungenkrebs leidende Patienten. Die Besonderheit des konkret zu entscheidenden Falles liegt indes darin, daß sich der Verstorbene verschiedener Chemotherapien unterzogen hat, die jedoch im Prinzip nicht angeschlagen haben und den Tod im August 1997 nicht verhindern konnten. Die Frage kann deshalb nur sein, wieweit eine um wenige Wochen früher eingeleitene Therapie sich ursächlich ausgewirkt hätte.

Für diesen Fall hat der Sachverständige überzeugend die allgemeinen statistischen Angaben als nicht aussagekräftig beurteilt und klargestellt, daß statistisch nur eine Lebensverlängerung von wenigen Wochen, nämlich von 4 bis 10 Wochen, maximal 4 Monate zu erreichen gewesen wäre. Dabei hat der Sachverständige bereits berücksichtigt, daß der Tumor zwischen Erst- und Zweitbehandlung durch den Beklagten gewachsen war und eine Relation zwischen Tumorgröße und Auswirkungen auf das Behandlungsziel besteht.

Zur Überzeugung des Senats wäre mehr als die Lebenszeitverlängerung von 4 Monaten auch durch einen frühzeitigeren Einsatz von adjuvanten Mitteln nicht zu erreichen gewesen. Dafür spricht das Stadium des Tumors nebst Metastasierung, das schon im Juni 1996 vorlag als auch die konkrete Reaktion des Körpers des Verstorbenen auf den Einsatz der Chemotherapie. Diese hat sich nämlich als praktisch wirkungslos erwiesen. Der Verstorbene zählte leider nicht zu den statistischen Fällen, die trotz des Einsatzes von Chemotherapien auch nur eine 2-Jahresüberlebenszeit erreichten. Er verstarb vielmehr nach nur etwas mehr als 1 Jahr, nachdem die Krebserkrankung erstmals hätte erkannt werden können. Es spricht deshalb nichts dafür, daß sich bei einem um wenige Wochen früheren Einsatz einer adäquaten Therapie ein völlig anderer Behandlungsverlauf und -erfolg eingestellt hätte. Nicht auszuschließen ist jedoch, daß sich die Überlebenszeit des Verstorbenen um die maximal 4 Monate verlängert hätte, die in diesen Fällen überhaupt noch erreicht werden kann.

4.

Dem Verstorbenen war ein Schmerzensgeld zuzubilligen, das auf die Klägerinnen als Erbinnen gem. § 1922 BGB übergegangen ist. Nach Abwägung aller Umstände hält der Senat ein Schmerzensgeld von DM 20.000,- für angemessen, aber auch für ausreichend. Dabei wird nicht die Schwierigkeit verkannt, die bei der Bemessung eines Schmerzensgeldbetrages besteht, wenn es um Fragen der Lebensverlängerung für einen todkranken Menschen geht, der sich psychisch mit dem Gedanken zu tragen hat, unter Umständen besser dazustehen, wäre der ärztliche Fehler unterblieben und frühzeitiger einschlägige Therapien eingeleitet worden.

Dennoch war nicht außer Acht zu lassen, daß der Verstorbene nur maximal 4 Monate länger gelegt hätte. Dabei wäre es kein unbeschwertes und im Rahmen einer Krebserkrankung von hinnehmbarer Qualität getragenes Leben gewesen. Selbst wenn durch eine frühzeitigere Therapie die im letzten Stadium eingetretene Querschnittslähmung vermieden worden wäre, wären nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H sowohl die zu erzielende Lebensverlängerung als auch die Verminderungen der Auswirkungen der Krebserkrankung nur durch den Einsatz massiver und stark beeinträchtigender Mittel möglich gewesen. Zu Recht hat der Sachverständige darauf verwiesen, daß Lebenszeit nicht mit Lebensqualität gleichzusetzen ist. Deshalb war im Ergebnis kein höherer Schmerzensgeldbetrag zuzusprechen.

5.

Soweit die Klägerinnen die Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz eines weiteren immateriellen Schadens festgestellt wissen wollen, ist das Begehren bereits unzulässig. Es ist nicht ansatzweise erkennbar, welcher zukünftige immaterielle Schaden noch entstehen könnte. Das ist auch dem Sachvortrag der Klägerinnen nicht zu entnehmen.

Begründet ist dagegen das Feststellungsbegehren, soweit es den Ersatz materieller Schäden betrifft. Auch diesbezüglich bestehen grundsätzlich erhebliche Bedenken, ob der Feststellungsantrag überhaupt (noch) zulässig ist. Denn der Verstorbene ist bereits im August 1997 verstorben. Es spricht deshalb vieles dafür, daß die Schadensentwicklung zwischenzeitlich abgeschlossen ist und deshalb Leistungsklage hätte erhoben werden können. Allerdings erscheint es nicht ausgeschlossen, daß sich der Schaden noch in der Entwicklung befindet, weshalb der Senat entsprechend tenoriert hat.

6.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

7.

Das Urteil beschwert die Klägerinnen mit mehr als DM 60.000,-, den Beklagten mit DM 30.000,-).

Ende der Entscheidung

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