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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 28.02.2001
Aktenzeichen: 3 U 17/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 823
ZPO § 108
ZPO § 711
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
1. Bei der Beurteilugn eines medizinischen Geschehens hat das Gericht grundsätzlich auf dei Fachkenntnisse des Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Sachgebiet abzustellen.

2. Aus der Zunahme der klinischen Symptome, wie Schwellung, Rötung und Schmerzen, muß nicht zwingend auf eine bakterielle Infektion geschlossen werden. Dabei darf es der Arzt jedoch nicht unterlassen, diese Symptome differentialdiagnostisch abzuklären.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 17/00 OLG Hamm

Verkündet am 28. Februar 2001

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz und die Richter am Oberlandesgericht Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 15. November 1999 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 12.000,00 DM abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Beiden Parteien wird nachgelassen, die Sicherheitsleistung auch durch eine unbedingte und unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.

Tatbestand:

Die 1936 geborene Klägerin, die seit vielen Jahren bei dem Beklagten, einem Orthopäden, in Behandlung war, erhielt am 07.03.1995 eine cortisonhaltige Injektion zur Schmerzlinderung in die rechte Hand. Nach dieser Injektion traten bei der Klägerin weitere Beschwerden auf. Die Klägerin erschien deshalb am 09.03.1995 in der Praxis des Beklagten. Dieser zog verschiedene Möglichkeiten der Erkrankung in Betracht und überwies die Beklagte zum Ausschluß eines sog. Carpaltunnelsyndroms an den Neurologen Dr. P , der am Nachmittag desselben Tages die Untersuchung durchführte. Am Freitag, den 10.03.1995, erschien die Klägerin erneut bei dem Beklagten, nachdem sie die Nacht wegen starker Schmerzen nicht habe schlafen können. Der Beklagte bat sie, sich am darauffolgenden Montag noch einmal bei ihm vorzustellen. Am Samstag, den 11.03.1995 begab sich die Klägerin in das Evangelische Krankenhaus in Hattingen, von wo sie am 13.03.1995 zu den Kliniken Bergmannsheil in Bochum verlegt wurde. Dort erfolgte am 14.03.1995 eine Operation ihrer rechten Hand.

Die Klägerin hat den Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 50.000,00 DM, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger materieller und immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Sie hat behauptet, der Beklagte hätte spätestens am 10.03.1995 die Hohlhandphlegmone erkennen können und daraufhin eine sofortige Einweisung in ein Krankenhaus veranlassen müssen. Ihre rechte Hand könne sie praktisch nicht mehr bewegen und funktionsgerecht einsetzen. Der Beklagte hat eine sach- und fachgerechte Behandlung der Klägerin behauptet. Vor der Injektion sei die Klägerin über die Infektionsgefahr aufgeklärt worden.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat nach Einholung eines chirurgischen Gutachtens der Klage insgesamt stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, daß es grob behandlungsfehlerhaft gewesen sei, die Klägerin nicht am Freitag, den 10.03.1995 in ein Krankenhaus einzuweisen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der Berufung und beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils, die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt,

1. die Berufung zurückzuweisen;

2. hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat gemäß Beschluß vom 20.03.2000 (Bl. 236 d.A.) ein weiteres - fachorthopädisches - Gutachten eingeholt, die Parteien angehört, die Arzthelferinnen des Beklagten T , M , B und die Tochter der Klägerin uneidlich als Zeugin vernommen sowie den Sachverständigen Privatdozent Dr. Sch sein schriftliches Gutachten vom 26.06.2000 (Bl. 287 - 299 d.A.) erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 13.12.2000 (Bl. 360 - 367 d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg. Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keine Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823 BGB oder aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages. Ein Fehler bei der Behandlung der Klägerin ist nur darin zu sehen, daß der Beklagte die Klägerin am Freitag, den 10.03.1995 nicht darauf hingewiesen hat, sich am Samstag in einem Krankenhaus vorzustellen. Dieser Fehler ist aber nicht relevant geworden. Der Beklagte haftet der Klägerin auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Aufklärungsverschuldens.

In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen Privatdozent Dr. Sch , der sein Gutachten überzeugend erläutert hat und dem Senat als erfahren und fachkundig bekannt ist, zu eigen. Danach hat es der Beklagte insbesondere am 10.03.1995 nicht behandlungsfehlerhaft unterlassen, die Klägerin stationär einzuweisen. Dabei hat sich der Senat vergegenwärtigt, daß die beiden ärztlichen Mitglieder der Gutachterkommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe (Bescheid vom 20.03.1997, Bl. 17 - 30 d.A.) und auch der chirurgische Sachverständige Dr. Kapp (schriftliches Gutachten vom 01.06.1999, Bl. 151 - 164 d.A. und mündliche Anhörung vom 15.11.1999, Bl. 192 - 194 d.A.) die stationäre Einweisung am 10.03.1995 für geboten gehalten haben. Aus der Einschätzung dieser Gutachter ergibt sich aber nicht zwingend, daß der Beklagte damit gegen guten fachorthopädischen Standard verstoßen hat. Die Berufung rügt zu Recht, daß auf den Facharztstandard eines Orthopäden abzustellen war. Bei der Beurteilung eines medizinischen Geschehens hat das Gericht auf die Fachkenntnisse des Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Sachgebiet abzustellen (Senat, Urteil v. 09.05.1994 - 3 U 186/93 -, NA-Beschl. v. 17.01.1995 - VI ZR 212/94 -, VersR 1995, 967; Urteil v. 26.01.2000 - 3 U 100/99 -, NA-Beschl. v. 24.10.2000 - VI ZR 129/00, OLGR 2000, 373 = VersR 2001, 249; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl. 1999, Rdn. 605). Das betroffene Sachgebiet war hier die Orthopädie. Schon aus diesem Grund war maßgeblich auf die Beurteilung des orthopädischen Sachverständigen Privatdozent Dr. Sch abzustellen. Ob es sich bei den ärztlichen Mitgliedern der Gutachterkommission auch um Orthopäden handelt, läßt sich dem anonymisierten Bescheid der Gutachterkommission vom 20.03.1997 nicht entnehmen.

Die Ausführungen des Sachverständigen Privatdozent Dr. Sch , wonach keine Einweisung für den 10.03.1995 zu fordern war, überzeugen auch in der Sache. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit von 37/47 mm war nicht spezifisch für eine bakterielle Infektion, wie dem Senat auch aus anderen vergleichbaren Fällen bekannt ist. Auch aus der Zunahme der klinischen Symptome, u.a. der Schwellung, der Rötung und der Schmerzen, war nicht zwingend auf eine bakterielle Infektion zu schließen. Daß der Beklagte eine Infektion in Erwägung gezogen, wenn auch für unwahrscheinlich gehalten hat, ist der Dokumentation zu entnehmen.

Der Beklagte hat es auch nicht unterlassen, die - zunehmenden - Beschwerden der Klägerin differenzialdiagnostisch abzuklären. So ist insbesondere der zunehmenden Schmerzsymptomatik durch die Überweisung an den Neurologen nachgegangen worden. Die Untersuchung ist am 09.03.1995 durch den Zeugen Dr. P erfolgt, der tatsächlich ein Carpaltunnelsyndrom im Bereich des Nervus medianus am 09.03.1995 festgestellt hat. Die Schmerzzunahme konnte hierdurch erklärt werden und hätte, so der Zeuge Dr. P (S. 2 des landgerichtlichen Protokolls vom 14.09.1998, Bl. 117 d.A.), keine sofortige Einweisung zur Folge haben müssen.

Die weiteren, für den 10.03.1995 dokumentierten Befunde waren, so der Sachverständige Privatdozent Dr. Sch mit der Grunderkrankung vereinbar. Wenn der Beklagte in dieser Situation eine Infektion für unwahrscheinlich hielt, vielmehr die Beschwerden auf die Grunderkrankung einer aktivierten Arthrose zurückführte und seiner Diagnose vertraute, war dies aus fachärztlicher Sicht - unter Berücksichtigung des Umstandes, daß Diagnoseirrtümer im Sinne von Fehlinterpretationen der Befunde nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler zu bewerten sind (vgl. Steffen/Dressler Rdn. 154) - noch vertretbar.

Dabei wird dem Beklagten auch von dem chirurgischen Sachverständigen Dr. K bescheinigt, daß die Veranlassung der neurologischen Abklärung deutlich gemacht hat, daß der Beklagte die Beschwerden der Klägerin ernst genommen, sich Gedanken über deren Entstehung und entsprechende Schritte zur weiteren Abklärung eingeleitet hat (S. 12 des Gutachtens vom 01.06.1999, Bl. 162 d.A.).

Daß es aus damaliger Sicht des Beklagten vertretbar war, die Klägerin am 10.03.1995 nicht stationär einzuweisen, steht zur Überzeugung des Senats schließlich auch aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Privatdozent Dr. Sch im Senatstermin fest, wonach er in dieser konkreten Situation genauso gehandelt hätte. Anhaltspunkte dafür, daß die Ausführungen des Sachverständigen von "zu großer kollegialer Rücksichtnahme" gekennzeichnet seien, wie dies auf Seite 4 des nachgelassenen Schriftsatzes vom 02.02.2001 (Bl. 401 d.A.) von der Klägerin geltend gemacht wird, bestehen schon deshalb nicht, weil sich der Sachverständige mit seiner Kritik gegenüber den chirurgischen Kollegen im Evangelischen Krankenhaus Hattingen nicht gerade zurückgehalten hat. Vielmehr hat er auf Seite 13 seines schriftlichen Gutachtens vom 26.06.2000 (Bl. 299 d.A.) klar zu erkennen gegeben, daß im Evangelischen Krankenhaus Hattingen die erforderlichen Konsequenzen, wie sie gutem fachärztlichen Standard entsprochen hätten, nicht gezogen worden seien. Diese Kritik hat er im Senatstermin mit den Worten: "Was dann am Samstag in der Klinik passiert ist, kritisiere ich genauso" (S. 5 des Berichterstattervermerks, Bl. 364 d.A.) ausdrücklich aufrechterhalten.

Der Fehler, die Klägerin nicht am 10.03.1995 darauf hingewiesen zu haben, sich am Samstag, den 11.03.1995 in einem Krankenhaus vorzustellen, ist nicht relevant geworden. Die Klägerin hat sich tatsächlich genauso verhalten als wäre sie hierauf von dem Beklagten hingewiesen worden, denn sie hat sich bereits am Samstagmorgen im Evangelischen Krankenhaus Hattingen vorgestellt.

Die gebotene Aufklärung vor der Injektion des cortisonhaltigen Medikaments am 07.03.1995 ist erfolgt. Dies hat die Zeugin T im Senatstermin glaubwürdig bestätigt. Auch der Aussage der Zeugin Baum ist zu entnehmen, daß der Beklagte grundsätzlich auf die mit einer Cortisonspritze verbundene Infektionsgefahr hingewiesen hat.

Anzeichen dafür, daß die Injektion am 07.03.1995 nicht fachgerecht ausgeführt worden ist, bestehen nicht.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 108, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Das Urteil beschwert die Klägerin mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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