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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 24.04.2002
Aktenzeichen: 3 U 8/01
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 831
BGB § 823
BGB § 847
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 91
ZPO § 92
ZPO § 100
ZPO § 108
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711

Entscheidung wurde am 18.12.2002 korrigiert: Stichworte, Rechtskraft und Leitsatz hinzugefügt
Der Behandlungsvertrag der Patientin mit dem die Schwangerschaft betreuenden Gynäkologen besteht auch dann fort, wenn sich die Patientin in ein sogenanntes Geburtshaus begibt und der Gynäkologe die Behandlung dort fortsetzt.

Die Beweislast dafür, daß dem Patienten der ärztliche Rat zur standardgemäßen Behandlung/Operation erteilt und der Patient diesen Rat nicht befolgt hat, trägt der Arzt.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 8/01 OLG Hamm

Verkündet am 24. April 2002

In dem Rechtsstreit

hat der 3 Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz sowie die Richter am Oberlandesgericht Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten zu 2) gegen das am 31. August 2000 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers wird das genannte Urteil - unter Zurückweisung dieses Rechtsmittels im übrigen - teilweise abgeändert.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger alle künftigen materiellen Schaden zu ersetzen, die ihm durch die Behandlung durch den Beklagten zu 2) anläßlich seiner Geburt am 1. Juli 1997 entstanden sind, soweit die Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versorgungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Von den Gerichtskosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 36 % und der Beklagte zu 2) 64 % davon 14 % gesamtschuldnerisch mit dem Beklagten zu 1)

Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen der Beklagte zu 2) 64 % davon 14 % gesamtschuldnensch mit dem Beklagten zu 1).

Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) trägt der Kläger zu 71 %. Im übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Jede Partei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, falls nicht die vollstreckende Partei zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet, die jede Partei auch durch eine unbedingte, unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlich-rechtlichen Sparkasse erbringen kann.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagten wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers bei seiner Geburt am 01.07.1997 in Anspruch. Die Mutter des Klägers hatte 1993 ein erstes Kind per Kaiserschnitt entbunden. Wegen der Schwangerschaft mit dem Kläger war sie in betreuender Behandlung bei dem Frauenarzt in, und zwar ab dem 22.10.1996. Die Schwangerschaft lief im wesentlichen problemlos. Allerdings kam Herr zu der Auffassung, ein relativ großes Kind sei zu erwarten. Er vermittelte dieses dem Beklagten zu 1), der diese Auffassung dem Beklagten zu 2) weitergab. Am 21.05.1997 wechselte die Kindesmutter zu den Beklagten, die eine Gemeinschaftspraxis führen. Der Beklagte zu 1) nahm an diesem Tage ein erstes Gespräch mit der Kindesmutter wahr. In der ärztlichen Dokumentation ist unter diesem Tag verzeichnet "Akrophobie", also eine Spritzenangst, und "evtl. TL" "will keine Sectio". In der Folgezeit nahm der Beklagte zu 1) mehrere Ultraschalluntersuchungen u.a. zur Schätzung des Kindsgewichts vor. Die letzte dieser Messungen vom 18.06.1997 führte zu einer Schätzung des Gewichts von 3.325 g.

Am 01.07.1997 wurde die Mutter des Klägers im Geburtshaus stationär wegen der zu erwartenden Geburt aufgenommen. Das Geburtshaus steht unter der Leitung von Hebammen. Die Beklagten stehen zu diesem Geburtshaus in vertraglichen Verpflichtungen, die darin bestehen, daß die Beklagten sich auf Anforderungen der Hebammen zu Hilfen bei Geburten bereithalten müssen. In diesem Geburtshaus finden jährlich etwa 400 Geburten statt. Einer der Beklagten ist bei jeder dieser Geburten anwesend. Um 18.46 Uhr wurde eine Braunüle in die Armbeuge gelegt. Ab 20.20 Uhr ist ein kontinuierlich zeichnendes CTG vorhanden. Dieses weist ab 20.30 Uhr pathologische Werte auf (DIP II). Der gegen 20.40 Uhr informierte Beklagte zu 2) erscheint um 20.50 Uhr im Geburtshaus. Ab 21.20 Uhr, der Kopf des Klägers befand sich zu dieser Zeit in Beckenmitte, wurde die Wehentätigkeit durch Gabe eines Syntocinon-Tropfes unterstützt. Um 21.30 Uhr wurde der Kläger aus H hinterer Hinterhauptlage durch Vakuumextraktion entwickelt und um 21.43 Uhr geboren. Der Dokumentation ist eine "extrem schwere Schulterentwicklung" zu entnehmen. Das Geburtsgewicht betrug 5.070 g. Der Kläger erlitt bei der Geburt eine Läsion des oberen und unteren Armplexus links.

Der Kläger hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 100.000,00 DM - und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz zukünftiger materieller Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, Gewichtsschätzungen der Beklagten seien fehlerhaft gewesen. Wegen des richtigerweise zu erwartenden sehr großen Kindes wäre von vornherein eine Entbindung per Kaiserschnitt angezeigt gewesen. Auch wegen des pathologischen CTG's sei am 01.07.1997 ab etwa 20.50 Uhr die Schnittentbindung geboten gewesen. Dann wäre der Plexusschaden nicht aufgetreten. Dieser sei dauerhaft. Die Beklagten haben eine regelrechte Behandlung der Kindesmutter behauptet. Die Mutter des Klägers habe erklärt, keinen Kaiserschnitt zu wollen. Auch am 01.07.1997 habe sie eine Schnittentbindung abgelehnt. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parrteivortrags und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 125.000,00 DM zuerkannt und dem Feststellungsbegehren gegenüber dem Beklagten zu 2) entsprochen, die Klage gegen den Beklagten zu 1) ist abgewiesen worden. In den Entscheidungsgründen heißt es, daß der Beklagte zu 2) die Mutter des Klägers nicht hinreichend über die Entbindung per Kaiserschnitt aufgeklärt habe.

Gegen dieses Urteil wenden sich der Kläger und der Beklagte zu 2) mit der Berufung. Der Kläger beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils

1.

die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner ein angemessenes Schmerzensgeld, das in das Ermessen des Senats gestellt, mindestens aber mit 125.000,00 DM beziffert wird, nebst 4 % Zinsen seit dem 01.07.1997 an ihn zu zahlen;

2.

festzustellen, daß die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihm sämtliche künftigen materiellen Schäden, welche ihm durch die Behandlung der Beklagten und durch die Geburt am 01.07.1997 entstanden sind, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versorgungslager oder sonstige Dritte übergehen:

3.

die gegnerische Berufung zurückzuweisen;

4.

hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Der Beklagte zu 1) beantragt,

1.

die gegnerische Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen;

2.

hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Der Beklagte zu 2) beantragt,

1.

unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen;

2.

hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Die Parteien wiederholen und vertiefen ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Beklagten zu 2) angehört, die Eltern des Klägers als Partei zu der Behauptung des Beklagten zu 2), er habe sie noch nach 20.50 Uhr über die Möglichkeit eines Kaiserschnittes informiert, vernommen und den Sachverständigen Prof. Dr. sein schriftliches Gutachten im Senatstermin erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 24.04.2002 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers war teilweise erfolgreich, die Berufung des Beklagten zu 2) blieb ohne Erfolg.

Die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Berufung des Klägers ist bezüglich des titulierten Feststellungsanspruchs begründet, weil die Beklagten die Praxis als echte Gemeinschaftspraxis, so die Angaben des Beklagten zu 2) im Senatstermin, betreiben. Ein Arzt einer Gemeinschaft die sich auf eine nach außen gemeinsam geführte Praxis zur Erbringung gleichartiger Leistungen auf einem bestimmten Fachgebiet verbunden haben, haftet gesamtschuldnerisch für die materiellen Schaden, die durch die zu verantwortende Schlechterfüllung des ärztlichen Partners entstehen. Dem steht nicht entgegen, daß der ärztliche Partner die in Rede stehende Fehlbehandlung wahrend des Aufenthalts der Mutter des Klägers im Geburtshaus erbracht hat. Insoweit ist davon auszugehen, daß der Behandlungsvertrag des Patienten mit dem die Schwangerschaft betreuenden Gynäkologen jedenfalls fortbesteht, wenn sich der Patient oder die Patientin in ein Belegkrankenhaus - oder wie im Streitfall in ein Geburtshaus - begibt, in dem der Gynäkologe Belegarzt ist und dort die Behandlung fortsetzt (BGH NJW 2000, 2737, 2741).

Eine deliktische Haftung besteht dagegen nur für eigene Behandlungs- und Aufklärungsfehler. Eine Zurechnung des Fehlverhaltens des ärztlichen Partners scheidet aus, weil dieser insbesondere nicht als Verrichtungsgehilfe im Sinne des § 831 BGB anzusehen ist (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl., Rdnr. 87 m. w. N.).

Die Berufung des Beklagten zu 2) ist nicht begründet. Dem Kläger stehen die ihm vom Landgericht zugesprochenen Ansprüche gegen den Beklagten zu 2) aus §§ 823, 847 BGB und wegen einer Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages zu. Der Beklagte zu 2) haftet dem Kläger unter dem Gesichtspunkt eines Aufklärungsverschuldens und dafür, daß er die Geburt nicht durch einen Kaiserschnitt beendet hat.

Der Arzt hat dann über die Möglichkeit einer Schnittentbindung aufzuklären, wenn dem Kind durch die Vaginalgeburt ernsthafte Gefahren drohen und gewichtige Gründe im Interesse des Kindes für die Schnittentbindung sprechen (BGH NJW 1993, 2372 = VersR 1993, 703, Senat, Urteil vom 24.08.1998 - 3 U 216/97 -). Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß es hier einer Aufklärung der Kindesmutter über die Alternative einer Schnittentbindung bedurfte und daß der Beklagte zu 2) nicht bewiesen hat, ein solches Aufklärungsgespräch am 01.07.1997 geführt zu haben. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit gemäß § 543 Abs. 1 ZPO auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

Daß es in der Zeit zwischen 20.50 Uhr und 21.20 Uhr einer Aufklärung über die Sectio bedurfte hat der Sachverständige Prof. Dr. der sein Gutachten überzeugend dargelegt und dem Senat seit langem als fachkundig bekannt ist, im Senatstermin bestätigt. Daß am 01.07.1997 über die Kaiserschnittentbindung gesprochen worden sein soll, hat der Beklagte zu 2) im Senatstermin nicht bewiesen. Die Parteivernehmung der Eltern des Klägers hat nicht ergeben, daß dieses Aufklärungsgespräch am 01.07.1997 stattgefunden hat.

Der Beklagte zu 2) hat darüber hinaus fehlerhaft gehandelt, weil er den Kläger vaginal und nicht per Sectio entbunden hat. Die Sectio war hier, so Prof. Dr. im Senatstermin, die Methode der ersten Wahl. Sie hatte in der Zeit zwischen 20.50 Uhr und 21.20 Uhr durchgeführt werden können und müssen. Das CTG war seit 20.30 Uhr pathologisch, eine Mikroblutuntersuchung konnte nicht durchgeführt werden. Der Beklagte zu 2) hatte deshalb vom denkbar schlechtesten Zustand des Klägers ausgehen und die Geburt möglichst schnell, und zwar durch Sectio, beenden müssen. Demgegenüber entsprach die hier um 21.30 Uhr begonnene und gegen 21.30 Uhr vollendete Vakuumextraktion nicht dem zu fordernden medizinischen Standard. Die Gründe dafür, warum es hier - mit der vaginalen Entbindung - zur Unterschreitung des zu fordernden medizinischen Standards - der Schnittentbindung - gekommen ist, hat der Beklagte zu 2) nicht bewiesen. Die Beweislast dafür, daß dem Patienten der ärztliche Rat zur standardgemäßen Behandlung/Operation erteilt und der Patient diesen Rat nicht befolgt hat, trägt der Arzt (Senat, Urteil vom 07.11.2001 - 3 U 69/01, Urteil vom 19.03.2001 - 3 U 193/00). Daß die Kindesmutter die Sectio am 01.07.1997 abgelehnt hat, hat der Beklagte zu 2) aus den bereits zuvor genannten Gründen nicht bewiesen. Der Beklagte zu 2) konnte auch nicht davon ausgehen, daß die im Mai 1997 dokumentierte Ablehnung "will keine Sectio" endgültig sein wurde und es deswegen einer erneuten Nachfrage am 01.07.1997 nicht bedurfte. Zum einen spricht gegen eine endgültige Ablehnung schon die Dokumentation "evtl. TL", also einer eventuellen Tubenligatur, die hier nur in Verbindung mit einer Sectio hätte durchgeführt werden können. Zum anderen hatte die Kindesmutter bereits bei der vorangegangenen Geburt sich gerade nicht gegen, sondern letztlich für eine Sectio entschieden.

Der Armplexusschaden wäre vermieden worden, wenn eine Schnittentbindung durchgeführt worden wäre. Dabei hat sich der Senat vergegenwärtigt, daß nach neueren Erkenntnissen auch Plexuslähmungen beschrieben worden sind, die unabhängig von genetischen Ursachen und auch ohne traumatische Einwirkungen auftraten. So schildert etwa für den deutschsprachigen Raum als Mitautor der auch dem Senat als äußerst kompetent und sachkundig bekannte Gynäkologe Prof. Dr. einen Fall der Erb'schen Parese bei völlig unauffälligem Geburtsverlauf, insbesondere ohne auch nur geringe Anzeichen für das Auftreten einer Schulterdyskokie (J. Wessel, J. W. Dudenhausen, Erb'sche Lähmung ohne Schulterdyskokie: Neuere Aspekte bei der gutachterlichen Beurteilung. Vorstellungen zur vorgeburtlichen Entstehung kindlicher Plexuslähmungen, Georg-Thieme-Verlag). Nach diesen Autoren können sich Plexusläsionen als Folge unvermeidlicher antepartaler oder intrapartaler Ereignisse ohne Auftreten einer Schulterdyskokie ausbilden, wobei erhebliche vorgeburtliche Druck- und Zugkräfte am Plexus brachialis eine Rolle spielten (vgl. Urteil des Senats vom 10.04.2002 - 3 U 155/01). Der Senat ist hier jedoch aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs mit den traumatischen Ereignissen bei der Geburt des Klägers davon ausgegangen, daß diese ursächlich für die eingetretene Armplexuslähmung sind. Eine andere konkrete Ursache vermochte auch der Sachverständige Prof. Dr. mangels konkreter Anhaltspunkte nicht zu nennen. Der Senat hält auch das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld in Höhe von 125.000,00 DM für zutreffend.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 92, 100, 108, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen zur Zulassung der Revision lagen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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