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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 10.08.2000
Aktenzeichen: 3 W 18/01
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 127 Abs. 2
ZPO § 567
ZPO § 114
BGB § 847
BGB § 823
BGB § 831
BGB § 30
BGB § 31
Prozeßkostenhilfe im Arzthaftungsrecht

Eine beabsichtigte Klage ist nicht deshalb mutwillig, weil der Patient vor Klageerhebung die Gutachterkammer für ärztliche Behandlungsfehler nicht angerufen hat.

Der Umstand, daß die Gutachterkommission zur Offenlegung des Verfahrens und der Gutachter verpflichtet ist, bietet dem Senat keinen Anlaß von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.


OBERLANDESGERICHT HAMM BESCHLUSS

3 W 18/01 OLG Hamm

In dem Prozeßkostenhilfeverfahren

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die Beschwerde der Antragstellerin vom 23. Januar 2001 gegen den Beschluß der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 10. Januar 2001 durch den Richter am Oberlandesgericht Kamps und die Richter am Oberlandesgericht Ruthers und Lüblinghoff am 10. August 2001

beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird geändert.

Der Antragstellerin wird für die beabsichtigte Klage vom 18.12.2000 Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt aus Hamm bewilligt.

Die Antragstellerin hat eine monatliche Rate von 350,00 DM, beginnend ab dem 1. September 2001 zu erbringen.

Gründe:

I.

Die am 10. April 1984 geborene Antragstellerin begehrt Prozeßkostenhilfe für eine Klage gegen die Antragsgegnerinnen auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 240.000,00 DM - und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz allen weiteren materiellen und immateriellen Zukunftsschadens. Sie behauptet, daß dem Chefarzt der Gynäkologie, dem Antragsgegner zu 2) und der Hebamme, der Antragsgegnerin zu 3), im Krankenhaus der Antragsgegnerin zu 1) bei ihrer Geburt mehrere schwere Fehler unterlaufen seien. Hierdurch sei es zu einer Sauerstoffunterversorgung gekommen, die zu einem schweren Hirnschaden geführt habe.

Das Landgericht hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung als mutwillig angesehen, weil die Antragsgegnerin die Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen nicht vorprozessual angerufen habe. Der Nichtabhilfebeschluß vom 19. April 2001 ist damit begründet, daß die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage sei, die Kosten der Prozeßführung aufzubringen. Sie möge zur Finanzierung des Rechtsstreits ihren Miteigentumsanteil an einem Wohngrundstück veräußern. Zudem seien ihre Eltern finanziell leistungsfähig.

II.

Die gemäß §§ 127 Abs. 2, 567 ZPO zulässige Beschwerde ist begründet, denn die beabsichtigte Klage bietet gemäß § 114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg, ist nicht mutwillig und die Antragstellerin kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nur in Raten aufbringen.

1.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß im Arzthaftungsprozeß an die Substantiierungspflicht zur Rechtsverfolgung nur maßvolle und verständige Anforderungen gestellt werden (vgl. Steffen/Dressler, 8. Aufl., Rdn. 580 m.w.N.) bietet die beabsichtigte Klage gemäß §§ 847, 823, 831, 30, 31 BGB und aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages hinreichende Aussicht auf Erfolg.

2.

Die beabsichtigte Klage ist auch nicht mutwillig. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, wonach es nicht als mutwillig erscheint, wenn ein Patient vor Klageerhebung die Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen nicht anruft (Senat, Beschluß vom 11.10.1995, 3 W 23/95). Diese Auffassung wird von der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur geteilt (OLG Düsseldorf NJW 1989, 2955 = VersR 1989, 645; OLG Oldenburg MedR 1988, 274; OLG Celle, Beschluß vom 05.05.1986 AHRS 7400/3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Aufl., § 114 Rdn. 126; Münchener Kommentar/Wax, ZPO, 2. Aufl., § 114 Rdn. 123; Musielak, ZPO, 2. Aufl., § 114 Rdn. 31; Thomas/Putzo, ZPO, 22. Aufl., § 114 Rdn. 8; Zöller/Philippi, ZPO, 22. Aufl., § 114 Rdn. 33; Deutsch, Medizinrecht, 4. Aufl. Rdn. 340; Laufs/Uhlenbrock, Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl. § 114 Rdn. 8; a.A. Landgericht Dortmund, JZ 1988, 255 mit ablehnender Anmerkung Giesen; LG Aurich NJW 1986, 792 mit ablehnender Anmerkung Matthies).

Das verfassungsrechtliche Prinzip eines fairen, der Rechtsanwendungsgleichheit Rechnung tragenden Gerichtsverfahrens (Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) verlangt für den Arzthaftungsprozeß Modifizierungen, durch die der Informations- und Argumentationsunterschied zwischen den Parteien verringert, die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Medizinern und Juristen überbrückt und die faktische Entscheidungskompetenz des medizinischen Sachverständigen auf ein adäquates Maß zurückgeführt werden soll (BVerfG, Beschluß vom 25.07.1979, NJW 1979, 1925). Dabei sind im Arzthaftungsverfahren an die Substantiierungspflichten des Patienten nur maßvolle Anforderungen zu stellen, weil ihm als Laien regelmäßig die Kenntnis des Behandlungsgeschehens und das nötige Fachwissen zur Erfassung und Darstellung des Konfliktstoffs fehlen (BGHZ 98, 368 = NJW 1987, 500). In der Konsequenz dieser Rechtsprechung, aber auch im Hinblick auf das Prozeßvorgehen einer "reichen" Partei und die eingeschränkten Verfahrensgarantien für eine umfassende Sachaufklärung in dem vorprozessualen Stadium des Verfahrens der Gutachterkommission kann die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nicht an der fehlenden Anrufung der Gutachterkommission scheitern (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl., Rdn. 584). Die "reiche" Partei kann die sog. Waffengleichheit im Vorverfahren schon durch ein Privatgutachten in etwa kompensieren, die "arme" Partei ist auf die Schlichtungs- und Gutachterkommission angewiesen. Wenn auch die Verfahren vor der Gutachterkommission häufig zu einer sinnvollen und sachgerechten Vorklärung sowie zu einer außergerichtlichen Einigung führen, so muß es doch dem Willen des Patienten überlassen bleiben, ob er dieses Verfahren betreiben will oder nicht. Dem Patienten muß die Option offen bleiben, sein Anliegen sofort von den ordentlichen Gerichten entscheiden zu lassen. Dies gebietet schon das verfassungsrechtlich verankerte Gleichheits- und Sozialstaatsgebot. Geht nämlich das Verfahren vor der Schlichtungsstelle/Gutachterkommission zugunsten des Patienten aus, so hat er keinen Titel und nicht einmal die Sicherheit, daß überhaupt Regulierungsverhandlungen begonnen werden; geht das Verfahren zu Ungunsten des Patienten aus, läuft er Gefahr, daß ihm Prozeßkostenhilfe mangels Erfolgsaussicht versagt wird. Unter diesen Umständen kann von "Mutwilligkeit" keine Rede sein, wenn der Patient vor der Beantragung von Prozeßkostenhilfe die Schlichtungs- und Gutachterstelle für ärztliche Haftungsfragen nicht angerufen hat.

Dem Senat gibt auch der Umstand, daß die Namen, die berufliche Tätigkeit der Sachverständigen und die vollständigen Gutachten den Parteien nunmehr auch im Bereich der Ärztekammer Westfalen-Lippe zugänglich gemacht werden, keinen Anlaß, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Die aufgrund der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13.08.1998 (MedR 1998, 575) bestehende Pflicht der Ärztekammer zur Offenlegung des Verfahrens und des Namens der Gutachter, hat nach den bisherigen Erfahrungen des Senats weder etwas an den zuvor aufgezeigten Regulierungsverhandlungen der Versicherer noch etwas an dem vorprozessualen oder prozessualen Verhalten der Verfahrensbeteiligten geändert.

Zudem kam hier gemäß § 4 Abs. 2 c) nach dem Statut der Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe (Bl. 66 d.A.) ein Tätigwerden der Gutachterkommission schon deshalb nicht in Betracht, weil der behauptete Behandlungsfehler länger als fünf Jahre zurückliegt.

3.

Unter Zugrundelegung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hat der Senat eine monatliche Ratenzahlung von 350,00 DM festgesetzt. Dabei mutet der Senat weder der Kindesmutter zu, die Leasingraten für den beruflich benötigten Pkw zur Prozeßfinanzierung einzusetzen noch verlangt der Senat von der Antragstellerin ihren Grundstücksmiteigentumsanteil zu veräußern.

Ende der Entscheidung

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