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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 11.01.2005
Aktenzeichen: 3 Ws 8/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO § 116
StPO § 120 Abs. 1 S. 1
StPO § 121
StPO § 122
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die weitere Haftbeschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird im vorliegenden Verfahren mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Essen vom 26.07.2004 vorgeworfen, in der Zeit von April 2004 bis zum 22.05.2004 in Essen in sechs Fällen gewerbsmäßig mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben zu haben, wobei es sich in einem Fall um eine nicht geringe Menge handelte. Nach dem Anklagevorwurf soll der Angeklagte während des vorgenannten Tatzeitraums an den gesondert verfolgten H in vier Fällen jeweils 2,5 g Heroin für 100,00 Euro und in einem Fall 5 g Heroin für 200,00 Euro verkauft haben. Am 16.04.2004 soll er dem gesondert verfolgten E 47 g Heroin, die zum Weiterverkauf an andere Betäubungsmittelkonsumenten bestimmt waren, übergeben haben. Der Angeklagte soll über keine legalen Einkünfte verfügt und sich durch die Taten eine auf Dauer angelegte, nicht unerhebliche Einnahmequelle geschaffen haben. Die Zustellung der Anklageschrift wurde durch die Vorsitzende des Amtsgerichts - Schöffengericht - Essen unter dem 04.08.2004 unter Gewährung einer zweiwöchigen Stellungnahmefrist veranlasst und erfolgte am 10.08.2004. Nachdem dem Verteidiger des Angeklagten unter dem 12.08.2004 Akteneinsicht gewährt worden war, wurde er entsprechend seinem Antrag vom 19.08.2004 durch Beschluss des Amtsgerichts Essen vom 23.08.2004 zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt. Gleichzeitig wurde dem Verteidiger Gelegenheit gegeben, zu dem mit der Anklageerhebung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft Essen auf Erlass eines Haftbefehls binnen einer Woche Stellung zu nehmen. Die Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgte durch Beschluss vom 08.09.2004. Am selben Tage wurde Termin für die Hauptverhandlung auf den 18.11.2004 bestimmt.

Die Hauptverhandlung wurde am 18.11.2004 vertagt, nachdem der Verteidiger des Angeklagten die Aussetzung des Verfahrens mit der Begründung beantragt hatte, es liege bisher keine Übersetzung der Anklage in einer für den Angeklagten verständlichen Sprache vor, und festgestellt worden war, dass der Zeuge H trotz ordnungsgemäßer Ladung zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen war. Mit dem Vertagungsbeschluss wurde gleichzeitig angeordnet, dass der Zeuge H zum nächsten Hauptverhandlungstermin polizeilich vorgeführt werden und dass dem Angeklagten eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift übersandt werden soll.

Außerdem erging gegen den Angeklagten ein Haftbefehl, der im Hauptverhandlungstermin am 18.11.2004 verkündet worden ist. Mit diesem Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird, werden dem Angeklagten dieselben Straftaten wie mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 26.07.2004 zur Last gelegt.

Der Haftbefehl wird seit dem 30.12.2004 vollzogen. Während des Zeitraumes vom 13.07.2004 bis zum 29.12.2004 befand sich der Angeklagte in Strafhaft und verbüßte eine Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Essen vom 13.07.2001.

Gegen den Haftbefehl vom 18.11.2004 richtete sich die Haftbeschwerde des Angeklagten vom selben Tag, mit der er geltend machte, das Verfahren sei nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung behandelt worden. Es sei nicht erkennbar, dass die Durchführung der Hauptverhandlung erst 3 1/2 Monate nach Eingang der Anklage möglich gewesen sei. Hinzu komme, dass die Hauptverhandlung am 18.11.2004 nicht habe durchgeführt werden können, weil er - der Angeklagte - bisher keine Übersetzung der Anklage in einer ihm verständlichen Sprache erhalten habe.

Das Landgericht Essen hat durch Beschluss vom 3. Dezember 2004 die Haftbeschwerde als unbegründet verworfen. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, das Verfahren sei entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers zeitnah und äußerst zügig bearbeitet worden. Zum anderen handele es sich tatsächlich nicht um eine Haftsache, da der Angeklagte in diesem Verfahren nicht in Haft gesessen habe und insoweit auch keinen Nachteil habe erdulden müssen.

Gegen dieses Beschluss richtet sich die weitere Haftbeschwerde des Angeklagten, mit der er weiterhin die Auffassung vertritt, das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen habe durch das Amtsgericht Essen beachtet werden müssen, was aber nicht geschehen sei.

Eine Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts Essen lässt sich aus den vorgelegten Doppelakten nicht entnehmen.

II.

Eine möglicherweise unterbliebene Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts steht einer Entscheidung des Senats über die weitere Haftbeschwerde nicht entgegen. Denn das Abhilfeverfahren stellt keine Verfahrensvoraussetzung für die Beschwerdeentscheidung dar (vgl. Meyer-Gossner, StPO, 47. Aufl., § 306 Rz. 10 mit weiteren Nachweisen).

III.

Die weitere Haftbeschwerde ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.

Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl zur Last gelegten Taten dringend verdächtig. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hinsichtlich des dringenden Tatverdachts auf den Inhalt der Anklageschrift Bezug genommen. Der dringende Tatverdacht ergibt sich danach aufgrund der Aussagen der Zeugen H und E. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 03.01.2005 zutreffend ausgeführt hat, besteht bezüglich der Tat vom 16.04.2004 auch ein dringender Tatverdacht hinsichtlich des Handeltreibens mit einer nicht geringen Menge an Heroin, da bei einer Menge von 47 g Heroingemisch es lediglich einer als äußerst gering anzusehenden - Wirkstoffkonzentration von knapp 3 % bedürfte, um den Grenzwert der "nicht geringen Menge" von 1,5 g Heroinhydrochlorid zu erreichen.

Es liegt auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO vor. Der Angeklagte hat angesichts der Schwere der ihm zur Last gelegten Taten, aber auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er bereits einschlägig vorbelastet ist - er wurde am 13.07.2001 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Heroin in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt - im Verurteilungsfall mit der Verhängung einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Berufliche oder soziale Bindungen des Angeklagten, die geeignet wären, den durch die Straferwartung bestehenden Fluchtanreiz auszuräumen, lassen sich nicht feststellen. Der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, ist nach einer zuvor erfolgten Abschiebung in die Türkei offensichtlich wieder illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er sich ohne festen Wohnsitz und ohne legale Einkünfte aufgehalten hat.

Bei dieser Sachlage scheiden auch Maßnahmen nach § 116 StPO aus.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des Tatvorwurfs und der im Verurteilungsfall zu erwartenden Freiheitsstrafe.

Verstöße gegen den in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgrundsatz, die zu einer Aufhebung des Haftbefehls nötigen, sind entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers im vorliegenden Verfahren nicht festzustellen.

Vor Erlaß des Haftbefehls war zwar der aus Art. 6 Abs. 1 MRK abzuleitende allgemeine Beschleunigungsgrundsatz zu beachten. Der besondere Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, der sich aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG herleitet und auch in Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK festgelegt ist, galt dagegen erst ab Erlaß des Haftbefehls gegen den Angeklagten am 18.11.2004. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.02.1995 2 BvR 2552/94 (NStZ 1995, 295). In dieser Entscheidung wird vielmehr ausdrücklich ausgeführt, daß bei der Prüfung der Frage, ob das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot beachtet wurde, zunächst grundsätzlich nur die Zeit in Rechnung zu stellen sei, in der der Betroffene tatsächlich inhaftiert sei. Eine angestrebte Inhaftierung des Beschuldigten ist nach dieser Entscheidung lediglich "in Betracht zu ziehen", um nach dessen Verhaftung das Verfahren so rasch wie möglich abschließen zu können.

Befindet sich der Beschuldigte nicht in Untersuchungshaft, so findet das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Anwendung. Der strenge Prüfungsmaßstab der §§ 121, 122 StPO gilt in diesem Verfahrensstadium nicht, sondern es kommt § 120 Abs. 1 S. 1 StPO zur Anwendung, wonach ein Haftbefehl wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufzuheben ist, wenn die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht. Vermeidbare Verzögerungen führen für sich allein noch nicht zu einer Aufhebung des Haftbefehls. Zu berücksichtigen sind vielmehr außerdem das Gewicht der Straftat und die zu erwartende Strafe (vgl. Boujong in KK, StPO, 5. Aufl., § 120 Rz. 8; OLG Düsseldorf NStZRR 2000, 250; Beschluß des 4. Strafsenats des OLG Hamm vom 27.10.1998 3 Ws 603/98 ).

Ob im vorliegenden Verfahren die nicht erfolgte Übersetzung der Anklageschrift in eine für den Angeklagten verständliche Sprache sowie die erneute Terminierung der Hauptverhandlung am 08.12.2004 erst auf den 27.01.2005 gegen den Beschleunigungsgrundsatz verstießen und zu vermeidbaren Verfahrensverzögerungen geführt haben, bedurfte im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Beurteilung. Denn selbst wenn man insoweit von vermeidbaren Verfahrensverzögerungen ausgingen, würden diese keine Aufhebung des Haftbefehls nach sich ziehen. Denn diese würden unter Berücksichtigung der Schwere des gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurfs und der zu erwartenden Rechtsfolgen sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Angeklagte sich zur Zeit noch nicht einmal einen Monat in Untersuchungshaft befindet und mit einer abschließenden erstinstanzlichen Entscheidung noch vor Ablauf dieses Monats zu rechnen ist, nicht derart schwer wiegen, daß die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre.

Die Haftbeschwerde war daher mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 1 StPO als unbegründet zu verwerfen.

Ende der Entscheidung

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