Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 17.03.2009
Aktenzeichen: 3 Ws 86/09
Rechtsgebiete: StGB, JGG, StPO


Vorschriften:

StGB § 212
JGG §§ 13ff.
JGG § 71 Abs. 1 S. 3
JGG § 72
JGG § 72 Abs. 1 S. 3
JGG § 72a
JGG § 82 Abs. 1 S. 3
StPO § 112 Abs. 1 S. 2
StPO § 112 Abs. 3
StPO § 114
StPO § 114 Abs. 3
StPO § 121
StPO § 122
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 15.09.2008 (9 Gs 4743/08) und der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 27.02.2009 (3 KLs 5/09 AK 2/09) - soweit er die Haftfortdauer anordnet - werden aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte wurde am 14.09.2008 vorläufig festgenommen und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Bielefeld vom 15.09.2008 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit dem genannten Haftbefehl wird ihm vorgeworfen,

"am 14.09.2008 in Q

als Jugendlicher mit Verantwortungsreife einen anderen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein.

Dem Beschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt:

Am 14.09.2008 stach der alkoholisierte Beschuldigte auf dem Balkon in der Wohnung C-Straße in Q mit mindestens einem Messerstich auf den geschädigten Andrej I ein, wobei er den Tod des Geschädigten in Kauf nahm. Der Stich traf den Geschädigten direkt ins Herz, woraufhin der Geschädigte verblutete.

Diese Handlung ist mit Strafe bedroht nach §§ 212 StGB, 1, 3ff. JGG.

Er ist dieser Tat dringend verdächtig aufgrund der durchgeführten Ermittlungen, insbesondere der Aussage der Zeugin I sowie seiner eigenen Einlassung.

Es besteht gegen ihn der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO, da der Beschuldigte eines Totschlags verdächtig ist."

Weitere Ausführungen enthält der Haftbefehl nicht.

Nachdem der ermittelnde Staatsanwalt vor den Weihnachtsferien 2008/2009 vom am 16.10.2008 beauftragten Sachverständigen eine telefonische Auskunft zur Schuldfähigkeitsfrage erhalten hatte und diese ergab, dass von der Schuldfähigkeit des Angeklagten auszugehen sei, hat er am 05.01.2009 Anklage zum Landgericht - Jugendkammer - Bielefeld wegen Mordes und versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erhoben. Über das im Haftbefehl geschilderte Geschehen hinaus wird dem Angeklagten darin Folgendes vorgeworfen:

"Im direkten Anschluss begab sich der Angeschuldigte zu der im Schlafzimmer befindlichen Ehefrau des Andrej I, Frau I und fragte sie, in der Absicht, sie in Sicherheit zu wiegen, ob sie wisse, wo ihr Ehemann Andrej I sei. Sodann versetzte er ihr mit dem Messer einen Stich in die linke Brust. Da sich I in diesem Augenblick jedoch bewegte, drang der Stich nicht tief ein und verursachte nur eine nicht tiefreichende Gewebeverletzung. Auch hierbei handelte der Angeschuldigte mit Tötungsabsicht."

In der Abschlussverfügung vom gleichen Tage hat der Staatsanwalt einen Bericht über den Angeklagten vom Jugendamt des Kreises N-Lübbecke angefordert.

Mit Beschluss vom 27.02.2009 hat die Jugendkammer die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Gleichzeitig hat sie beschlossen, dass der Haftbefehl aus den Gründen seiner Anordnung aufrechterhalten und in Vollzug bleibt. Eine Anpassung des Haftbefehls an die Anklage hat sie mit Rücksicht auf den nahe bevorstehenden Hauptverhandlungstermin und da auch der Vorwurf des Haftbefehls zur Fortdauer der Haft ausreichend ist, nicht vorgenommen.

Die Hauptverhandlung ist ab dem 30.03.2009 terminiert.

Die Jugendkammer hält den Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus für erforderlich und hat die Akten dem Senat rechtzeitig zur Entscheidung gem. § 121 StPO vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen.

II.

1.

Der Haftbefehl des Amtsgerichts und der Haftfortdauerbeschluss der Jugendkammer waren - trotz des aufgrund der im Haftbefehl und in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel gegebenen dringenden Tatverdachts (jedenfalls für Straftaten nach §§ 212 sowie 212, 22, 23, 224, 52 StGB) - aufzuheben, da der Haftbefehl nicht den Mindestanforderungen gem. § 82 Abs. 1 S. 3 JGG, die bei einem Jugendlichen an seinen Inhalt zu stellen sind, genügt und dieser Mangel im Haftfortdauerbeschluss nicht behoben worden ist.

a) Über den notwendigen Inhalt eines Haftbefehls nach § 114 StPO hinaus, bestimmt § 72 Abs. 1 S. 3 JGG, dass bei der Anordnung von Untersuchungshaft gegen Jugendliche im Haftbefehl die Gründe anzuführen sind, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist (vgl. OLG Koblenz JBl. Rh-Pf. 2003, 47; Diemer/Schoreit/Sonnen JGG 5. Aufl. § 72 Rdn. 8).

Der Angeklagte ist Jugendlicher (§ 1 Abs. 2 JGG). Der Haftbefehl enthält keinerlei Begründung zu den beiden oben genannten Umständen (Nichtausreichen anderer Maßnahmen, Verhältnismäßigkeit), noch ist aus den Akten erkennbar, dass diese überhaupt geprüft wurden. Auch aus der Haftfortdaueranordnung im Rahmen der Eröffnung des Hauptverfahrens ergibt sich dafür nichts.

b) Das Fehlen eines Teils des notwendigen Inhalts eines Haftbefehls hat die Aufhebung der Haftentscheidungen zur Folge.

Die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG ist zwingend (OLG Koblenz JBl. Rh-Pf. 2003, 47; Diemer/Schoreit/Sonnen JGG 5. Aufl. § 72 Rdn. 8; wohl auch: OLG Köln Beschl. v. 20.07.2007 - 2 Ws 369/07 - juris). Es handelt sich nicht etwa bloß um eine Ordnungsvorschrift. Das ergibt sich zunächst aus dem Gesetzeswortlaut ("sind .... anzuführen"). Auch die Materialien belegen dies. Aus diesen ergibt sich, dass es der Gesetzgeber nach alter Rechtslage als unzureichend empfand, dass bei Jugendlichen ebenfalls nur die allgemeine Regelung des § 114 Abs. 3 StPO galt, wonach die Verhältnismäßigkeit im Haftbefehl nur dann zu begründen ist, wenn sich der Beschuldigte auf § 112 Abs. 1 S. 2 StPO beruft oder die Anwendung dieser Vorschrift nahe liegt. Nach in der Gesetzesbegründung zitierten rechtstatsächlichen Untersuchungen wurde die Verhältnismäßigkeit zuvor nur in etwa einem Fünftel aller Fälle überhaupt begründet, in noch weniger Fällen war die Begründung substantiiert. Durch die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG sollte sicherstellen, dass diese Fragen bei Jugendlichen auf jeden Fall geprüft und im Haftbefehl ausgeführt werden. Formelhafte Wendungen, die keine fallbezogene Prüfung erkennen lassen, sollten so ausgeschlossen werden (BT-Drs. 11/5829 S. 30 f.). Diese Intention und auch die Formulierung der Gesetzesbegründungen ("schreibt ... vor"; "aufzuführen sind") zeigen, dass es sich um eine zwingende Regelung handelt.

Die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG ist zudem eng mit dem materiellrechtlichen Gehalt der Vorschrift verknüpft. § 72 JGG regelt das Prinzip der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit darf Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen nur verhängt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder andere Maßnahmen erreicht werden kann (OLG Hamm StV 1996, 66; OLG Hamm Beschl. v. 20.08.2004 - 3 OBL 64/04 - juris; OLG Köln Beschl. v. 20.07.2007 - 2 Ws 369/07 - juris; vgl. auch OLG Zweibrücken NStZ-RR 2001, 55). Dies zu sichern, ist Funktion der besonderen Begründungspflicht.

Nach alledem kann die Verletzung der Regelung des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO nur die Aufhebung der Haftanordnung zur Folge haben. Das Oberlandesgericht darf - anders als im Haftbeschwerdeverfahren (vgl. dazu OLG Köln Beschl. v. 20.07.2007 - 2 Ws 369/07 - juris) - im Rahmen der Haftprüfung den Haftbefehl nicht ergänzen oder erneuern (OLG Hamm NJW 1971, 1325; OLG Koblenz NStZ-RR 2008, 92 LS; OLG Oldenburg NStZ 2005, 342; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 122 Rdn. 13). Auch eine Aufrechterhaltung der Haft bei gleichzeitiger Rückgabe der Sache an das zuständige Gericht zwecks Neufassung des Haftbefehls kommt nicht in Betracht, denn das liefe auf eine Untersuchungshaft aufgrund rechtswidrigen Haftbefehls hinaus (OLG Oldenburg NStZ 2005, 342; a.A. offenbar OLG Stuttgart Beschl. v. 24.01.2002 - 5 HEs 20/02 - juris) - im vorliegenden Fall sogar über sechs Monate hinaus. Hinzu kommt hier, dass eine solche Rückgabe der Sache eine nicht vertretbare Verzögerung der Haftprüfung begründen würde. Nach der Regelung des § 72a JGG sollten bei einer solchen Entscheidung bereits Informationen der Jugendgerichtshilfe berücksichtigt werden. Ein Bericht der Jugendgerichtshilfe liegt aber bisher nicht vor. Der Senat geht dabei davon aus, dass die vorgelegten Akten, auch wenn sie teilweise nicht durchfoliiert sind, vollständig sind. Dass sie grundsätzlich aktuell gehalten wurden, zeigen u. a. die Verfügung des Staatsanwalts vom 17.12.2008 und vom 27.02.2009.

c) Ob in Fällen, in denen das Ausscheiden alternativer Unterbringungsmaßnahmen und die gegebene Verhältnismäßigkeit evident sind, ggf. trotz Verstoßes gegen § 71 Abs. 1 S. 3 JGG der Haftbefehl aufrecht erhalten bleiben kann (so offenbar: OLG Zweibrücken NStZ-RR 2001, 55), kann der Senat dahinstehen lassen. Jedenfalls die Unmöglichkeit bzw. das Nichtausreichen alternativer Unterbringungsmaßnahmen ist hier nicht evident. Der Angeklagte hat zwar im Falle der Verurteilung eine hohe Jugendstrafe zu erwarten. Sein Fluchtmöglichkeiten sind aber aufgrund seiner Jugend, seiner Sehbehinderung, seiner geringen Bildung und seiner familiären Verwurzelung im Bereich von Q eher als gering einzustufen, so dass hier die Unterbringung in einem (geschlossen) Heim als Alternative zur Untersuchungshaft durchaus zu erwägen gewesen wäre.

2.

Da die Haftanordnungen schon wegen des Verstoßes gegen § 72 Abs. 1 S. 3 JGG aufzuheben waren, braucht der Senat nicht zu entscheiden, wie es sich auswirkt, dass hier - entgegen der Regelung des § 72a JGG - die Jugendgerichtshilfe erst im Rahmen der Abschlussverfügung eingeschaltet wurde.

3.

Einer Beteiligung der Nebenklägerin im Haftprüfungsverfahren bedurfte es nicht. Es gelten hier die gleichen Erwägungen wie zur Beteiligung des Nebenklägers im Haftbeschwerdeverfahren (vgl. dazu OLG Hamm NStZ-RR 2008, 219).

Ende der Entscheidung

Zurück