Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 30.07.2001
Aktenzeichen: 4 Ss OWi 511/01
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO 4 Abs. 1
Zu den Anforderungen an die Feststellungen und die Beweiswürdigung, wenn die Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes auf einer Schätzung der nachfahrenden Polizeibeamten beruht.
Beschluss

Bußgeldsache gegen O.K.,

wegen fahrlässiger Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes u.a.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Lüdinghausen vom 11. Dezember 2000 hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 30. Juli 2001 durch die Richterin am Landgericht als Einzelrichterin gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß §§ 79 Abs. 3 und Abs. 5 OWiG beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Lüdinghausen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Unterschreitung des Sicherheitsabstandes in Tateinheit mit verbotswidrigem Rechtsüberholen eine Geldbuße in Höhe von 600,00 DM festgesetzt.

Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 24. August 2000 gegen 14.55 Uhr mit seinem Pkw die Bundesautobahn A1 auf der linken Fahrspur in Fahrtrichtung Bremen. In Höhe Kilometer 290,5 bis etwa 291,5 wurde seine Geschwindigkeit durch Nachfahren und Tachometervergleich mit mindestens 119 km/h (bereits abzüglich einer Toleranz von 15% vom abgelesenen Wert) gemessen. Hierbei soll der Betroffene zum vorausfahrenden Fahrzeug einen Abstand von maximal 10 Metern eingehalten haben, bis das vorausfahrende Fahrzeug die Fahrspur wechselte. Im Anschluß soll er - bei gleicher gemessener Geschwindigkeit - ab Kilometer 288,0 über eine Fahrstrecke von ca. 2000 Meter zu dem nächsten ihm vorausfahrenden Fahrzeug wiederum einen Abstand von maximal 10 Metern eingehalten haben und alsdann den Vorausfahrenden unter Benutzung der rechten Fahrspur rechts überholt haben.

Das Amtsgericht ist deshalb davon ausgegangen, daß der Abstand weniger als zwei Zehntel des halben Tachowertes betragen habe.

Zu diesen Feststellungen ist das Tatgericht - entgegen der bestreitenden Einlassung des Betroffenen - aufgrund der Aussagen der Zeugen L. und B. gelangt, die mit einem zivilen Polizeifahrzeug bei etwa 80 bis 100 Meter Distanz dem Fahrzeug des Betroffenen auf der linken Fahrspur gefolgt waren. Hierbei hat der Führer des Polizeifahrzeuges (L.) von dem justierten Tachometer die Geschwindigkeit (140 km/h) abgelesen und in beiden Fällen den Abstand des Betroffenen auf den jeweiligen Messstrecken bei gleichbleibender Geschwindigkeit "mit Sicherheit" geringer als 10 Meter bzw. auf etwa eine Fahrzeuglänge geschätzt, wobei zugunsten des Betroffenen aber von 10 Meter ausgegangen worden sei. Das Fahrzeug fuhr der Zeuge dabei "etwas versetzt zum Mittelstreifen" (gemeint ist ersichtlich, daß das Polizeifahrzeug auf der linken Fahrspur zum linksseitigen Fahrbahnrand versetzt fuhr). Dem Beifahrer kam die Aufgabe zu, während der Nachfahrt mündliche Angaben des Fahrers zu dem Vorfall zu notieren. Der Notizzettel wurde späterhin dem Fahrzeugführer übergeben, der die Anzeige gefertigt hat.

Zur Beweiswürdigung ist in dem Urteil ausgeführt:

"Die Aussagen beider Zeugen haben keinen Anlaß geboten, an ihrer Richtigkeit zu zweifeln. Das Gericht hat sie seinen Feststellungen zu Grunde gelegt. Die abweichende Einlassung des Betroffenen musste daher als Schutzbehauptung bewertet werden." (UA 5)

Gegen das Urteil richtet sich die form- und fristgerecht angebrachte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Verletzung formellen und - mit näheren Ausführungen- die Verletzung materiellen Rechts rügt.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt wie erkannt.

II. Das Rechtsmittel hat zumindest vorläufig Erfolg.

Die Rüge der Verletzung formellen Rechts genügt mangels näherer Ausführung allerdings nicht der gemäß § 79 Abs.3 OWiG i.V.m. § 344 Abs.2 Satz 2 StPO gebotenen Form und ist damit unzulässig.

Die Überprüfung auf die in zulässiger Weise erhobene Sachbeschwerde führt hingegen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Zwar entsprechen die Feststellungen grundsätzlich den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an eine gerichtsverwertbare Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit Tachometervergleich (vgl. Hentschel, StraßenverkehrsR, 36. Aufl., § 3 StVO, Rdnr. 62 m.w.N.; Senatsbeschlüsse vom 21. August 1997 - 4 Ss OWi 800/97- in NStZ-RR 1997, 397f und vom 4. Februar 1999 - 4 Ss OWi 49/99 -). Die Art der Geschwindigkeitsmessung, welche der dem Betroffenen nachfahrende Polizeibeamte mittels eines justierten Tachometers vorgenommen hat, ist geeignet, die von dem Betroffenen gefahrene Geschwindigkeit zuverlässig zu ermitteln. Möglichen Fehlerquellen und Ungenauigkeiten ist das Tatgericht zutreffend durch einen Toleranzabzug von 15% der abgelesenen Geschwindigkeit begegnet.

Indessen tragen die zur Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes getroffenen Feststellungen und die dazu von dem Tatgericht angestellten Beweiserwägungen nicht den Schuldspruch eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 4 Abs.1 Satz 1 StVO. Das Amtsgericht hat der von dem Polizeibeamten angewandten Methode zur Ermittlung des Abstandes hier materiellrechtlich fehlerhaft einen Beweiswert beigemessen, der ihr nach den bisher festgestellten Umständen nicht zukommt.

In der obergerichtlichen Rechtsprechung, an der der Senat festhält, ist zwar anerkannt, daß geübte und erfahrene Polizeibeamte durch Beobachtung der beteiligten Fahrzeuge über eine hinreichend lange Strecke den Abstand zwischen ihnen in gerichtsverwertbarter Weise einschätzen können, wenn sie in einer nicht zu großen Entfernung schräg versetzt hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug fahren (OLG Düsseldorf VRS 56, 57f; NZV 1993, 242; OLG Hamm VRS 58, 276, 258; Senatsbeschlüsse a.a.O.). Das gilt insbesondere, wenn Schätzungshilfen wie etwa die Länge der Leitlinienmarkierungen oder dergleichen vorhanden sind. Schon derartige Schätzungen bedürfen allerdings besonders kritischer tatrichterlicher Bewertung, die nachvollziehbar in den Urteilsgründen wiederzugeben ist.

Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.

Den Urteilsgründen läßt sich bereits nicht entnehmen, ob der Beamte, der die Schätzung vorgenommen hat, im Schätzen räumlicher Abstände während eines Fahrvorgangs mit hoher Geschwindigkeit geübt ist. Auch Orientierungshilfen, durch die seine Abstandschätzungen von jeweils weniger als 10 Meter unter Umständen gesichert werden könnten, sind nicht festgestellt. Nähere Ausführungen dazu waren hier aber schon aufgrund der äußerst schwierigen Schätzungssituation unverzichtbar. Denn nach den tatrichterlichen Feststellungen fuhr das nachfahrende Polizeifahrzeug nicht - wie sonst in diesen Fällen zur Erlangung einer möglichst guten Sicht für die Beamten üblich - schräg versetzt auf der benachbarten Fahrspur, sondern äußerst links auf der von dem Betroffenen benutzten Fahrspur. Das ermöglichte nur dem Fahrzeugführer die Sicht auf beide beteiligte vorausfahrende Fahrzeuge und das auch nur aus einem extrem spitzen Winkel. Bedenken ergeben sich in diesem Zusammenhang zudem im Hinblick auf die große Distanz des Nachfahrenden von (möglicherweise) etwa 100 Metern, die hier zugrundezulegen ist. Nach der Lebenserfahrung ist auf diese Entfernung bei spitzem Blickwinkel der Abstand zweier vorausfahrender Fahrzeuge kaum noch zuverlässig zu erkennen. Unter diesen Umständen bedurfte es in jedem Fall weiterer eingehender Darlegung, aufgrund welcher Erwägungen das Amtsgericht die Abstandsschätzung des Polizeibeamten gleichwohl als zuverlässig bewerten konnte.

Im übrigen hat das Amtsgericht dem Urteil über die Bekundungen des Zeugen L. hinaus den Inhalt der aufgrund der Notizen des Zeugen B. gefertigten Anzeige gegen den Betroffenen zugrundegelegt, ohne insoweit festzustellen, dass die von dem Zeugen Baumann notierten Daten den Wahrnehmungen und Angaben des Zeugen L. während der "Mess"-Fahrten entsprachen.

Die aufgezeigten sachlichrechtlichen Mängel führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht ( § 79 Abs.6 OWiG), weil der Senat es jedenfalls nicht völlig ausschließen kann, daß zu den Meßvorgängen weitere Feststellungen getroffen werden können bzw. daß das Amtsgericht bei anderer Beurteilung der Zeugenaussage hinsichtlich der Abstandsunterschreitung zu einer anderen Bewertung der dem Betroffenen angelasteten Verkehrsordnungswidrigkeit kommen könnte. Ein Grund, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lüdinghausen zurückzuverweisen, ist nicht erkennbar. Der Tatrichter hat auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu befinden, da deren Erfolg im Sinne des § 473 StPO i.V.m. § 46 Abs.1 OWiG nicht feststeht.

Ende der Entscheidung

Zurück